STEINER, FRANZ: OST UND WEST. ZUR OPPENHEIMER-DISKUSSION

➥ Zur Biographie: Franz Steiner

In: Selbstwehr, 4. Jahrgang, Ausgabe 15 vom 15.04.1910, S. 1f

Link zum Text
Tran-skription

[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

In der jüdischen Presse ist seit dem Erscheinen des sensationellen Artikels des bekannten Nationalökonomen und Zionisten Franz Oppenheimers über „Nationalbewußtsein und Stammesbewußtsein“ in der „Welt“ vom 18. Februar ein lebhafter und bedeutungsvoller Meinungskampf über Ost- und Westjudentum entbrannt, an dem sich in erster Reihe die hervorragendsten Köpfe der jungjüdischen Bewegung beteiligen, ein frischer und ernster wissenschaftlicher Kampf, der – wie nicht anders zu erwarten stand – die vielfältigsten und verschiedenartigsten Anschauungen über Volkstum, Sprache, Rasse und Milieu, Kultur und Sitte, über Judentum und Zionismus zutage gefördert hat und noch lange kein Ende absehen läßt. Die Vorhersage Oppenheimers trifft ein: das Ventil ist geöffnet, der Ueberdruck im Kessel beginnt abzuströmen.

Dieses Abströmen fing – ein Beweis, wie stark der Ueberdruck – explosionsartig an. Die Wiener Zionisten – stets im Opponieren groß – begannen mit einem geharnischten Protest gegen Oppenheimer. Feiwel in Berlin rückte mit einer sehr gedankenreichen, tiefgrabenden, aber nicht unvoreingenommenen und vielfach die Grenzen der wissenschaftlichen Disputation überschreitenden Abhandlung als erster gegen Oppenheimer zu Felde. Bald aber meldeten sich andere zum Worte, die zustimmten und ergänzten und die Frage des unleugbaren Gegensatzes oder mindestens des tiefgreifenden Unterschiedes zwischen dem jüdischen Osten und Westen immer mehr ausweiteten, vertieften und durchdachten, so daß die Erörterungen, die offenbar einem akuten, tiefempfundenen Bedürfnis entgegenkamen, sich zu einer großen Literatur von Wert und Bedeutung ausgewachsen haben.

Es ist unmöglich, in dem bescheidenen Rahmen unseres Blattes auch nur auszugsweise den interessanten Inhalt dieser Gutachten wiederzugeben. Wir mußten uns vielmehr schon seinerzeit darauf beschränken, nur einige wenige Stellen aus dem Hauptartikel Oppenheimers, der die ganze Debatte geweckt, viele meinen: „heraufbeschworen“ hat, zu zitieren. Anderseits ist die Frage eine so tiefeinschneidende, aktuelle und wichtige, daß es nicht angeht, darüber schweigend hinwegzugehen. Es sind uns schon eine Anzahl Aeußerungen über die Ost- und Westjudenfrage zugekommen, die wir, teils weil sie unreif, teils weil sie dem Rahmen und Wesen des Blattes nicht entsprachen, nicht veröffentlichen konnten. Wir haben uns aber, vielfach geäußerten Wünschen entsprechend, entschlossen, ganz kurze, präzis und sachlich gehaltene Gutachten, die von Autoren aus Böhmen über diese Frage einlaufen, von Fall zu Fall zu publizieren, wobei wir uns aber wegen Platzmangel eventuelle sinngemäße Streichungen vorbehalten müssen.

Für heute beginnen wir mit folgendem Gutachten:

Nationalbewußtsein u. Volksbewußtsein

(Gekürzt.)

Die Begriffseinteilung, die Oppenheimer zwischen Stammes-, Volks-, National- und Kulturbewußtsein macht, scheint mir unzureichend, unklar, ja unzutreffend. Es macht den Eindruck, als ob hier in einer rein persönlichen, sozusagen einer Herzensangelegenheit den Wissenschaftler – man verzeihe – die Wissenschaft ein wenig im Stiche gelassen hätte oder als ob der Aufsatz in Eile und unausgegoren in Druck gegangen sei. Denn die Distinktionen entbehren fast durchweg der festen, klaren Umrissenheit und gleiten oft verschwommen ineinander über. Oppenheimer meinte das Richtige, aber er sagt es so, daß es Widerspruch erregen muß. So scheint mir, daß das Mißverständnis auf Oppenheimers Seite liegt, wenn er sagt: „Die meisten von uns (Westlern), die allermeisten, nennen sich Nationaljuden auf Grund eines Mißverständnisses.“ Trotzdem wir Juden zweifellos im Osten und Westen soziologisch ganz verschieden determiniert sind, sind wir doch ebenso zweifellos in Ost wie West nicht nur Stammesjuden, sondern – sofern wir eben zionistisch, d. h. noch oder wieder jüdischnational gesinnt sind – auch Nationaljuden, wenn dieses Nationaljudentum auch mehr Nationalbewußtsein als ursprüngliches, instinktives Nationalgefühl ist.

Es geht nicht an, Stammesbewußtsein und Volksbewußtsein in einen solchen Gegensatz zu bringen, wie es Oppenheimer tut. Diese Distinktion, diese Gegensätzlichkeit ist eine erdachte, keine wirklich bestehende, ebenso wie sich Nationalbewußtsein nicht in Volks- und Kulturbewußtsein spalten läßt. Das, was Oppenheimer unter Stammesbewußtsein zusammenfaßt – „gemeinsame Abstammung, gemeinsames Blut, (ehemalig) gemeinsames Volkstum, gemeinsame Geschichte“ – ist schon auch Volksbewußtsein und Nationalbewußtsein, und das, was er unter Volksbewußtsein und Nationalbewußtsein verstanden wissen will – „Gemeinsamkeit der Sprache, der Sitte, der Wirtschafts- und Rechtsbeziehungen usw. und der geistigen Kultur“ – d. h. die gegenwärtige physische und psychologische Struktur des Volkes gehört insgesamt – sogar die Sprache läßt sich hier miteinbeziehen – unter den Begriff der Kultur. Nicht das Volksbewußtsein ist die psychische Wiederspiegelung des Milieus, sondern das Kulturbewußtsein, und nicht in der Verschiedenartigkeit des Nationalbewußtseins liegt der Unterschied zwischen Ost und West – das Nationalbewußtsein ist sogar im Westen, weil bewußter, auch betonter und ausgeprägter – sondern lediglich in der Kulturhöhe, und daraus braucht durchaus weder eine Anmaßung noch ein Hochmut des Westens dem Osten gegenüber deduziert werden.

Die Kulturhöhe allein ist das entscheidende Moment der Distinktion zwischen östlichem und westlichem Judentum und alle Beispiele, die Oppenheimer bringt, illustrieren durchgehends nur, daß Nationalbewußtsein und Kulturbewußtsein zwei verschiedene Dinge sind. Und hier muß man Oppenheimer vollkommen beipflichten: „Wir (Westler) können nicht Kulturjuden sein, denn die jüdische Kultur, wie sie aus den Ghetti des Ostens aus dem Mittelalter herübergerettet worden ist, steht unendlich tief unter der neuzeitlichen Kultur, deren Träger Deutsche, Franzosen, Engländer, Amerikaner usw. sind.“ Und wir sind tatsächlich zu 95% oder mindestens zu 75% aus westeuro- päischen Kulturelementen zusammengesetzt.

Das ist – so schmerzlich sie auch vielen klingen mag – eine Tatsache, und so sehr auch die Jargonliteratur geschätzt und bewundert werden mag, so sehr auch die Anfänge einer neuhebräi- schen Kultur und Literatur begrüßt werden müssen, wir modernen Westjuden können – von wenigen rühmlichen Ausnahmen abgesehen – nicht mehr Kulturjuden sein, weil wir die hebräische Sprache, die hebräische Kultur nicht mehr in uns aufnehmen können oder nicht wollen. Uns ist die deutsche, französische Kultur usw. verwandter, näher geworden als die ostjüdische. Das gilt ebenso von Herzl, Nordau und – Oppenheimer, wie es für die überwiegende Majorität der Westler überhaupt gilt, und man müßte, wenn man Oppenheimer deswegen verdammen und als Nichtzionisten verschreien wollte, dann auch Herzl einen Nichtzionisten nennen, denn er war Kulturdeutscher. Aber so wie Herzl sich dagegen verwahrt hätte, nicht Nationaljude zu heißen, nicht jüdisches Volksbewußtsein gehabt zu haben, so beruht es meines Erachtens auf einem Mißverständnisse Oppenheimers, wenn er wegen seines deutschen Kulturbewußtseins sein jüdisches Nationalbewußtsein bezweifelt.

Ich möchte ein Beispiel anführen, ein recht triviales, aber darum um so schärfer in die Augen springendes, das, glaube ich, das ganze Verhältnis des Westens wie des Ostens zum jüdischen Volke und zum Zionismus charakterisiert: Der Jude des Westens ist der „aus der Art geschlagene“, d.h. aus der Enge des Vaterhauses in die Welt verschlagene Sohn des jüdischen Volkes, von der Familie schon als verloren geglaubt, anders in Art und Sitte, Sprache und Kleidung, als Eltern und Geschwister daheim, aber doch der echte, legitime Sohn. Und nun kehrt er als Zionist in sein Vaterhaus zurück, und siehe da: er ist nicht „verloren“, er verleugnet trotz seines besseren Gewandes seine Eltern nicht, nicht seine Brüder, sondern fühlt sich eines Sinnes mit ihnen vermöge des Stammes, des Blutes, der Rasse, der Nationalität nach, nur nicht der Kultur nach. Denn er kann unmöglich eine höhere Kultur, die er sich oft mühsam erworben hat, einer niederen oder erst in der Entwicklung begriffenen zuliebe aufgeben. Er fühlt sich eins nicht aus Gnade, nicht aus Rachmonith, nicht aus Mizweh, sondern auch tiefster Ueberzeugung und innerster Liebe zu seinem Blute, und weil er liebt, will er die Seinen befreien, ihnen helfen, sie in eine neue Kultur hinüberführen. Das ist der Standpunkt der westlichen Zionisten, und wahrhaftig – es ist nicht der schlechtere, minderwertige, es ist ganzer, nicht verwässerter, nicht Wohltätigkeitszionismus, sondern Zionismus aus Liebe und Treue.

Die Liebe zum jüdischen Volke eint Ost und West, und in dieser Hinsicht gibt es keinen zweifachen Zionismus und keine verschiedenen Standpunkte.

Und wieder hat Oppenheimer recht, wenn er sagt: „Nicht in der Diaspora, erst in Palästina kann und wird eine neue jüdische, vollwertige Kultur aufblühen und erst in Palästina kann der Westjude wieder Kulturjude werden, er oder, besser gesagt: sein Enkelkind.“ Daran glauben wir alle, Ost und West, an die jüdische Renaissance in Palästina, und wir glauben, daß es dann auch wieder eine Sprache geben wird: sie heißt hebräisch.

Und hier erst kann wieder von einer „Mission“ die Rede sein und hier können wir dann auch dem Mystiker Buber folgen, der den Sinn des Judentums nicht in der Vergangenheit sucht, sondern in der Zukunft, im jüdischen Palästina. Dort kann vielleicht der neue Messias erstehen – für die ganze Welt.