BARBER, IDA: BETENDE FRAUEN (EINE TEMPELSTUDIE.)

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In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 28. Jahrgang, Ausgabe 36 vom 10.09.1888, S. 339ff

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Am Versöhnungstage versammelt Gott alle seine Getreuen um sich. In Nord und Süd, in Ost und West wird dieser Tag bei Arm und Reich, von allen Juden gefeiert. Die Frommen fasten und beten von Abend zu Abend, die Reformirten gestatten sich einen kleinen Morgenimbiß und einige Pausen während der 24 stündigen Zeit, in der der Allmächtige zu Gericht sitzt und als liebender Vater Verzeihung und Erhörung gewährt. Schaarenweise wandern sie hin zum Tempel, die Frauen geschmückt mit kostbaren Gewändern, Edelsteinen und Perlen. Früher war es sogar Sitte, in weißen Kleidern im Tempel zu erscheinen und manche brünette Schöne wußte in dem einfachen Wollgewande so viel verführerische Reize zur Geltung zu bringen, daß sie anmuthiger erschien, als in Brocat und schillernder Seide.

Betrachtungen eigener Art drängten sich mir auf, indem ich unlängst am Versöhnungstage einen Blick durch die Reihen der vor Gott erschienenen Frauen schweifen ließ. Dort die freireligiöse Frau F. neben ihr die schöngeistige Professorswitwe, da die orthodoxe Frau eines reichen Kaufmannes, die aus lauter Frömmigkeit sich nicht einmal gestattete ihr eigenes Haar zu tragen, sie Alle standen in gleicher Andacht vor demselben Gotte, den sie in so verschiedener Weise verehrten. Madame F., die sich als offene Anhängerin Wislicenius, als seine begeisterte Freundin stets gerirt, die einst fast für seine Lehre Propaganda gemacht, erschien in so hochheiliger Stimmung, daß Nichts, sie ihrer gottgeweihten Andacht entfremden konnte; sie sah nicht, wie aller Augen sich auf die eben eintretenden Banquiersfrau, die schöne, einst gefeierte Sängerin, richteten, die ihrem Gatten, oder richtiger dessen Reichthum zu Liebe zum Judenthum übergetreten war. Sie rauschte mit ihrem schweren Seidenkleide durch die Reihen der übrigen Frauen hindurch, nahm geräuschvoll auf ihrem endlich aufgefundenen Sitze Platz, musterte die im Parquet betenden Herren und nachdem sie ihrem Gatten einen zärtlichen Blick zugeworfen, ihr goldenes Lorgnon, dessen Kette einen riesig großen Brillant zusammenhielt, aufgesetzt, öffnete sie ihr in Lila-Sammt gebundenen Gebetbuch, das sie jedoch bald wieder bei Seite schob, um sich in eine vertrauliche Discusion mit ihrer Nachbarin einzulassen. Welch ein Strahlenfeuer verbreiteten die Brillanten dieser beiden Damen. Ich glaube man hätte mit deren Erlös hundert arme Familien den Sorgen entreißen können! Unsere Frauen scheinen überhaupt der Meinung zu sein, daß entweder der Allvater sich besonders dadurch geehrt fühle, daß man, wenn man zu ihm hintrete, sich mit den kostbarsten Prätiosen behänge, oder daß er Respect vor diesen bekomme und mit ihren Trägerinnen gnädiger verfahre. Und doch! All der Glanz dieser Edelsteine, die ich hüben und trüben, neben und vor mir leuchten sah, schien ihre Trägerinnen nicht vollständig beglücken zu können; man entnahm aus der Art, wie sie zumeist beteten, wie sie ihr Herz inbrünstig vor Gott ausschütteten, wie Thränen der Rührung ihre Wangen netzten, daß es denn doch da innen in der Menschenbrust ein Etwas geben müsse, das sich nicht durch äußern Glanz erkaufen lasse. – Die junge schöne Frau eines Börsenfürsten – wie sah sie verführerisch in ihrem reizenden Costüm aus, wie war sie behängt mit kostbaren Spitzen, welche Strahlenfeuer warf der Brillant auf dem schmalen Goldreif, der ihren Arm schmückte – er schien ein kleiner Kohinoor zu sein, der an Pracht die reichen Ge- schmeide der anderen Frauen weit übertraf, und doch – so schön sie war, die Thräne in ihrem Auge erzählte von tiefem Weh, das weder Reichthum noch äußere Reize bannen konnten; man sah, wie sie während des Gebetes ein tiefes Schluchzen unterdrückte, wie es ihr eine sichtliche Erleichterung war, ihr Herz hier vor Gott ausschütten zu können. Und was belastete dieses schöne Herz? Konnte die junge, unschuldvolle Frau sich irgend eines schweren Fehlers anklagen, wofür sie von Gott Verzeihung erflehte? O man wußte nur zu gut, wie sie gezwungen wurde, ihre Schönheit und Jugend einem reichen Börsianer zu opfern, während ihr Herz einem genialen Maler angehörte; Ersterem mußte sie ihre Hand vor dem Altar reichen, mit dem Andern verband sie ihr Denken und Fühlen, das sie, so sehr sie auch mit sich kämpfte, nicht auf andere Bahnen zu leiten vermochte. Ihr Gatte blieb ihrem Seelenleben fremd und was sie zumeist kränkte, war, daß er dies in seiner Indolenz nicht einmal zu bemerken schien, er war der Mann der schönsten Frau, durfte sich mit ihr auf Promenaden, Bällen, im Theater zeigen, sah sie bewundert – mehr verlangte er nicht. Flehte sie heute zu Gott, daß er sie jenes wahren Eheglücks theilhaftig werden lasse, das sie einst in idealer Jugendschwärmerei erträumte, oder daß er ihr den Frieden ihrer Seele erhalte, ihr vergönne, dem einst Geliebten als guter Genius rathend und beglückend zur Seite zu stehen. Wer kann die stumme Sprache der sich kaum bewegenden Lippen deuten. Sie beweint trotz glänzender Lebensstellung ein verlorenes Glück nicht minder schmerzlich, als dort jene tieftrauernde Mutter, der mau im vergangenen Jahre den einzigen Sohn in kühle Erde gebettet. Er war ihres Daseins Stolz und Freude; wohl selten war eine Frau glücklicher, strahlender von Mutterstolz und Lebenshoffnung, als sie war, da ihr der junge Mann seine Berufung als Chef einer großen Verkehrsanstalt mittheilte. Ich sehe sie noch heute vor meinem geistigen Auge, wie sie zu wachsen schien, wie das Glück ihre Züge verklärte, wie sie unter Freudenthränen den geliebten Sohn umschlang, an ihr Herz drückte, ihn mit ihren Küssen bedeckte. – O und heute sehe ich wieder Thränen im Auge der schwergeprüften Frau; sie ist kleiner geworden; ihre Züge sind gramdurchfurcht, ihr Auge matt und glanzlos. Um was sie ihren Schöpfer wohl bitten mag? Gibt es noch etwas, das ihrem Dasein Freude gewähren kann, nachdem der unerbittliche Sensenmann seinen Hand an das junge, hoffnungsvolle Leben gelegt, das ihres Daseins Stolz gewesen? Die junge, schöne Frau ihr zur Seite – auch sie kenne ich, ist ergriffen von dem Schmerz ihrer Nachbarin. Sie scheint so beneidenswerth, lebt in gesicherten Verhältnissen, ihr Gatte sieht in ihr sein Alles, er lebt nur für sie und ist glücklich, wenn er sie glücklich sieht; doch da tief innen im Herzen; da lebt ein Wunsch, für den sie nun schon seit Jahren Erfüllung erhofft; ihre Ehe ist kinderlos; nur ihre Lippen murmeln ein stummes Gebet; – die Arme, sie weiß nicht, daß es oft weniger schmerzlich ist, auf ein Glück, das man nie empfunden, zu verzichten, als zu lernen, es zu verlieren.

Ich hatte während der Vorbeter einen Abschnitt aus der Thora vorlas, Zeit meine Beobachtungen zu machen. Ein ernstes Gebet, – die Fürbitte für die Verstorbenen – kam jetzt an die Reihe. Diejenigen, die so glücklich waren, keinen Verlust an theuren Familienmitgliedern zu beklagen, verließen zum Theil das Gotteshaus, die Bleibenden waren von tiefster Andacht durchdrungen.

Der Schmerz eint; so verschieden in Rang und Stand, an Bildung und äußeren Glücksgütern die einzelnen Andächtigen auch waren, war es doch eine Gemeinde, die da ein und dasselbe Gebet hinauf zum Weltenlenker sendete. Das Andenken an geliebte Todte ruft eine Wollust des Schmerzes hervor, der man sich gerne hingibt. Die an die Seelenfeier sich anreihende Predigt schien eine Erholungsstation nach anstrengendem Marsche. Man begann in dieser und jener Ecke gemüthlich zu plaudern, da wurde die Toilette der Madame X., dann die der Madame Y. einer Kritik unterzogen, man tuschelte sich vertraulich manch pikantes Histörchen ins Ohr, ohne sich bewußt zu sein, daß dem Gotte, der da oben zu Gericht saß, von dem man reuig Verzeihung erfleht hatte, Medisance und Verleumdung, üble Nachrede wie eitle Chrenabschneiderei nicht wohlgefällig sein kann.

In manchen Frauen ist ein Gemisch von Egoismus und Hochmuth ausgeprägt, der kaum anderswo widerlicher in Erscheinung tritt, als da, wo sie vor Gott hintreten, um für sich selbst Verzeihung und Gnade zu erbitten und kurz hernach sich nicht scheuen, ihre ärmeren, weniger begüterten Mitschwestern in unfreundlicher Weise zu behandeln. Wahre Frömmigkeit adelt, macht hoch- herzig und leutselig, herzgewinnend und liebreich.

Frau H., einer mir gegenübersitzende Dame muß wohl wenig von dieser echten Frömmigkeit in sich verkörpert haben, denn ich bemerkte – und nicht ohne ein Gefühl sittlicher Entrüstung, wie sie den Kopf wandte, als ihre Cousine mit freundlichem Gruße auf sie zutreten wollte; – letztere war ihr selbstverständlich an Vermögensstellung nicht ebenbürtig, konnte jedoch in Bezug auf Charakter- und Seelenbildung jeden Vergleich mit ihr aushalten.

Eine weihevolle Stimmung kam erst wieder in die Gemeinde, als der Vorbeter mit sonorer Stimme sein „Heilig ist Gott der Heerschaaren“ anstimmte, das alle Männer und Frauen in Andacht wiederholten. Es liegt eine eigene, eine geheiligte und heiligende Poesie in diesen alten Gesängen; sie packen selbst diejenigen, die das ganze Jahr hindurch kein Gotteshaus betreten, mit mächtiger Gewalt. Wenn der stimmbegabte Cantor mit urgewaltigem Tone den Bibelvers, der die Verkündigung des Monotheismus enthält, anstimmt, so steht selbst der Ungläubigste wie unter dem Zauber einer höheren Macht. Frauen pflegen ja überhaupt eine rege Empfänglichkeit für religiöse Weihemomente zu haben. Ich sah auch nicht eine einzige, die an den Hauptgebeten nicht mit ihrem ganzen Gefühl Antheil genommen hätte. Charakteristisch für die ungebildeten Frauen ist es, daß sie, da sie die Gebete in hebräischer Sprache nicht verstehen, ihnen oft einen ganz fremdartigen Sinn beilegend, an völlig gleichgiltigen Stellen, die beispielsweise eine Erzählung von irgend einem Propheten etc. enthalten, in einen Gefühlsausbruch übergehen, der vielleicht nur dann gerechtfertigt wäre, wenn es sich um die Bitte der Befreiung von Tod und ewiger Verdammniß handelte. Wie es möglich ist, in dieser Extase einen ganzen Tag lang im Gebete zu verharren, scheint uns Jüngeren kaum denkbar und doch wissen wir von unseren Müttern und Großmüttern, daß sie früh das Gotteshaus betraten und dasselbe erst mit Sonnenuntergang verließen. Jeder dient seinem Gott in seiner Weise. Ich sah eine mir bekannte Dame, die vielleicht erst eine Stunde zuvor eingetreten war, mit mir gleichzeitig nach Schluß des Mittaggottesdienstes hinausgehen; mit fast heimlicher Geschäftigkeit übergab sie eilig dem Tempeldiener ein kleines Paket: „Hierin sind 30 Speise-Marken“ hörte ich sie; „vertheilen Sie sie heute Abend an 30 Arme“. – Und die Frau hatte nur eine Stunde im Tempel geweilt, sie trug keinen Schmuck, aber dennoch glaube ich, daß sie Gott wohlgefälliger war als manche Reiche mit bloßer Lippenfrömmigkeit. Eine schöne Frau, deren Name unlängst geadelt worden, brachte ich auch bald auf andere Gedanken; ich sah sie, als ich eben in eine Seitenstraße einbog, aus ihrer Equipage steigen. „Du wunderst Dich,“ sagte sie, meine Befremdung wohl in meinen Zügen lesend, „daß ich heut’ fahre!“ „Aber sieh, liebe „in unsern Kreisen“ ist es ganz out of Fashion fromm zu sein“. – „In unsern Kreisen!“ Seit acht Tagen war der Herr Gemahl in ihnen heimisch, der Herr Papa aber war zeitlebens Rabbiner einer orthodoxen Gemeinde gewesen, und die Frau Mama war, wie ich mich sehr wohl erinnere, am Versöhnungstage gestorben.

Wie man auch über Beobachtung religiöser Satzungen denken mag – kein Mensch, aber namentlich keine Frau kann sich, wenn nicht in ihrem Gefühlsleben ein Etwas fehlt, das all ihrem Thun Zusammengehörigkeit mit der Idee eines höchsten Wesens lossagen. In Stunden der Angst und Gefahr, im Todesmoment, da ruft selbst der Gottesleugner die Gottheit an. Heine bat, wie er selbst sagte, auf seinem Schmerzenslager „den guten Gott, den er so lang geärgert“, um Verzeihung. – Er hat wohl weder gefastet, noch von früh bis spät gebetet, und doch war das innigste Bedürfniß seiner Seele: „Versöhnung mit Gott.“ – Sie glauben sie Alle gefunden zu haben, die da am hohen Festtage vor Gott erschienen sind, die Eine schmucklos, die Andere reich mit Schmuck beladen, die Einen andächtig, die Anderen die Gebete mechanisch hersagend. Israels Frauen waren jederzeit die Hüterinnen des Familienlebens und somit des häuslichen Glückes; darin liegt ihr nicht zu unterschätzendes culturhistorisches Verdienst. Sie treten andachterfüllt vor Gott hin und übertragen den Frieden, der in ihre Brust eingezogen, die höhere Weihe, die Sie im Gebet zu Gott empfangen zu haben glauben, auf ihr Haus, ihren Gatten, ihre Kinder. Echte Frömmigkeit ist, selbst wenn sie sich nicht an Dogmen hält, einem Zauber gleich, der die Prosa des Alltagslebens mit poetischem Hauch verklärt.