SALZBERG, MAX I.: EIN BESUCH IM GHETTO

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In: Selbstwehr, 4. Jahrgang, Ausgabe 46 vom 18.11.1910, S. 1ff

[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

Es war an einem Donnerstag nach dem Markte. Die Bauern und die Händler, die sich den ganzen Tag zwischen den beladenen Wagen, Buden, Tieren und den mannigfaltigsten Waren rufend, schreiend, herumgetummelt hatten, zogen sich zurück. Mit ihnen verschwand auch der Lärm und nur der schwere, stickende Geruch, der aus den verödeten, schmutzigen Gassen aufstieg, verriet noch vom Leben und Treiben des Tages.

Es schlug Mitternacht; die trüben Petroleumlaternen wurden ausgelöscht und das Städtchen R. verschwand in der Dunkelheit. Die Knarren der Nachtwächter hallten in der Dunkelheit.

Nur bei David, dem Schneider, war noch Licht. Auf dem breiten Arbeitstisch, zwischen den Geräten, brannte die niedrige Blechlampe, die man noch häufig in Russisch-Polen sieht. Der bauchige Zylinder war stark eingeräuchert und oben ausgebrochen; darüber hing ein Stück gelbes Papier, das als Schirm diente.

Der greise Schneider saß gebückt über einer grauen Bauernkutte und nähte. Auf dem Kopfe trug er ein kleines Käppchen; seine in Eisendraht eingefaßte Brille, an einer Seite mit einem Bindfaden am Ohr befestigt, war bis zur Nasenspitze heruntergerutscht.

Es geschah oft genug, daß der alte David die Nacht von Donnerstag auf Freitag durcharbeitete. Doch diesmal schien er aus einem anderen Grunde zu wachen, denn langsam stach die Nadel in die graue Leinwand. Zuweilen legte er sogar die Arbeit in den Schoß, nahm das aufgeschlagene Psalmbuch, das neben ihm lag und überflog einige Seiten, mit den Augen diesmal über die Gläser hinwegschauend. Doch auch dabei blieb er nicht lange. Unwillkürlich, während seine Lippen langsam die heiligen Worte sprachen, richtete er seinen Blick nach dem kleinen Fenster und seine Gedanken wagten sich weit in die Dunkelheit hinaus. Sie irrten in unbekannte Gegenden, suchten und forschten, als verfolgten sie jemanden, bis ihn ein tiefer Seufzer aus seiner eigenen Brust aufweckte; dann setzte er das Nähen wieder fort.

Auch seine Frau, Lea, wachte. Sie saß auf der Bank neben dem Ofen und putzte eifrig die Messingleuchter, als ob sie heute gar nicht von sechs Uhr morgens bis zum Abend auf dem Markte gewesen wäre.

Eine Unruhe schien den ganzen Raum zu durchzittern. Die neue, weiße Gardine, welche die Stube in der Mitte teilte, das blitzernde Kupfergeschirr auf dem Regal vereinigten sich mit der Flamme der Lampe und füllten den Raum mit einem eigentümlichen, weichen, unbestimmten Lichte, in dem alles sein gewöhnliches Aussehen vertauscht in ein edleres, feierliches. Der Kater, der zusammengerollt auf dem Ofen schlief, fuhr zuweilen auf, sah sich um und sprang dann mit einem Satz auf den Boden; dort blieb er stehen, schaute nach der Tür und auf seinen Herrn, miaute und kletterte dann zurück auf seinen Platz.

So verstrich die halbe Nacht, ohne daß die beiden Alten ein Wort miteinander sprachen, und doch beschäftigte beide derselbe Gedanke. Beide bebten in derselben Ungeduld, beider Herzen begannen schneller zu schlagen, sobald sich das mindeste Geräusch hören ließ.

Sie erwarten ihren Jüngsten. Ein paar Tage vorher war ein Brief aus Berlin gekommen, in welchem Abraham mitteilte, daß er sein Studium beendet hätte und daß er zum Sonnabend nach R. kommen würde, um seine Eltern zu besuchen.

Der Apotheker, zu dem man den Brief hingetragen hatte, damit er die deutschen Wörter, die oben auf dem Briefbogen gedruckt waren, vorlese, sagte: Abraham sei ein Doktor, und dieses Wort machte die Armen Eltern schwindlig. Freilich, fügte der Apotheker noch das Wort „der Philosophie“ hinzu; sie verstanden ihn aber nicht, und was sollten sie auch damit. Ihr Kind ein Doktor! Mit Stolz sahen sie schon im Geiste, wie alle Kranken ihres Städtchens sich drängten; jeder will schneller an ihren Sohn herankommen und jeder segnet ihn laut und überschüttet auch sie mit tausend Wünschen.

David, der einst gehofft hatte, in seinen Sohn einen großen Rabbiner zu sehen, und der bisher noch immer einen Groll gegen ihn gehegt, weil er das Talmudstudium verlassen hatte, verzieh ihm jetzt und wartete ungeduldig, ihn endlich wieder in seine Arme schließen zu können.

Endlich, bei Anbruch des Tages, hielt ein Wagen vor der Tür. Abraham war bei seinen Eltern.

*

Davids Gesicht verfinsterte sich, als er vernahm, daß Abraham kein Mediziner sei. Die Mitteilung zerstörte nicht nur seine Illusion, den Sohn als Mittelpunkt nicht nur seine Illusion, den Sohn als Mittelpunkt aller Segenswünsche der Kranken zu sehen, sondern sie erweckte auch in ihm Zweifel und Sorgen. In der Nähe seines Kinder jedoch gelang es ihm, sie zeitweilig zu vergessen.

Die alte Lea war auch anfänglich betroffen, als sie erfahren hatte, daß ihr Sohn keine Kranken behandelte. Sie beruhigte sich jedoch bald. Sie sah ihr Kind in ihrem Hause und mehr brauchte sie nicht. Sie hörte ja wieder nach so langer Zeit den Namen „Mutter“, und begann ihr Atem zu stocken und ihre Lippen flüsterten leise: „Mein Kind, mein Kind!“ Und jedesmal, wenn dieses Wort an ihr Ohr klang, während er am breiten, weißgedeckten Tisch saß und in ein Buch vertieft war, schaute sie von der Küche aus so liebevoll, so innig auf ihn, bis Tränen in ihre Augen traten. Sie hatte nur einen einzigen Gedanken: ihren Abraham. Die Zeit schien ihr ungewöhnlich schnell zu gehen. Früher pflegte sie manchmal das Schlagen der Uhr zu überhören, doch jetzt vernahm sie jedes Ticken und beklagte jede Minute, die verging, denn mit Angst sah sie den Dienstag sich nähern, an dem Abraham abfahren wollte.

David war durch seinen Gast nicht weniger beglückt, aber die Zweifel an der Zukunft seines Kindes verstörten ihm die Freude. Abraham hatte sich mit ihm freilich deutlich darüber ausgesprochen; allein er hatte nicht alles begriffen. Gern hätte er manche Frage gestellt, aber er fürchtete, es könnte seinem Sohne wehtun, falls auch er solche Zweifel hegte.

Abraham hatte erzählt, er sei an einer sehr bedeutenden Zeitschrift als Kunstkritiker angestellt und verdiene soviel, daß er auch seine Eltern unterstützen könne. Kunstkritiker sein, sagte er, hieße Bilder und andere Kunstwerke beurteilen.

Ueber dies alles grübelte David nach, während er, wie gewöhnlich an freien Tagen, vor einem Psalm= oder Mischnahbuch saß. Er beurteilt Bilder und andere Kunstwerke für die Zeitung! Sein Geist blieb bei dem Wort „Bilder“ haften, dies begriff er. In R. gibt es auch Bilder zu verkaufen. Dieser Begriff ruft immer etwas Fremdes, Kaltes in ihm hervor. Er sah sie oft im Vorübergehen in dem Schaufenster des nichtjüdischen Buchhändlers. Darunter befanden sich aber auch solche, die von der christlichen Religionsgeschichte handelten, und er wandte den Blick ab, wenn er unwillkürlich dahingeschaut hatte. Und Abraham beurteilt Bilder! Mitleid mit seinem Kinde zerriß ihm das Herz. Dazu mußte er soviel lernen, soviel studieren! Und wie kann eine solche Beschäftigung wohl einträglich sein? Der Buchhändler handelt ja mit Bildern, besitzt so viele und ist dennoch so arm, daß er immer noch für den Rock schuldet, den er ihm gemacht hat.

*


Es war einer der heißen Frühherbsttage, an dem die schon entkräftete Natur eine Schwäche

empfinden läßt, als könnte sie die glühenden Sonnenstrahlen nicht mehr ertragen. Man glaubt, daß die drückende Hitze nicht auf allem lastet, sondern daß die Sonne aus dem Innern alles Wesens herausglüht und allem einen müden, leidenden Ausdruck verleiht. Die lehmige Landstraße erscheint wie ein kupferner heißer Kessel, wie von innen erhitzt auch der gelbgebrannte Rasen, und aus dem kränklichen, schon blassen Grün der Bäume schauen die einzelnen gelben Blätter wie müde gequälte Augen.

In einem Bauernwagen, gebettet auf frischem Heu, fuhren die drei bis zum Njemen. Dann nahmen sie den Dampfer nach dem nächstliegenden Dorfe, wo Abraham die Eltern eines Freundes besuchen wollte.

Als sie auf dem Rückwege den Dampfer verließen, war die Sonne schon im Sinken. Schweigsam gingen sie heimwärts am Strom entlang, und da sie an einen Wald gelangten, der sich unmittelbar am Ufer erhob, ließen sie sich auf das Moos nieder, um ein wenig zu ruhen.

Kein Windhauch regte sich und doch erfüllte die Luft eine feuchte Kühle und erfrischte die ermattete Natur. Der Njemen floß ruhig dahin und schien bewegungslos, glatt wie ein Spiegel, nur in der Ferne hörte man ein schwaches Gemurmel. Und während er röter und glühender wurde, je näher er den Flammen im Westen kam, kroch eine schwache Dunkelheit langsam von Osten heran, die Glut immer dämpfend; sie vereinigte sich mit dem Dunkel, das zwischen den Bäumen hervorquoll, und breitete sich über den Boden aus, immer höher, immer dichter, die Stämme allmählich verschlingend. Die Berge in der Ferne wechselten ihre Purpurkappen in graue und traten schärfer am noch erleuchteten Himmel hervor.

Der friedliche Abschied des Tages weckte in dem alten Schneider ein bisher nicht gekanntes Gefühl. Zuerst hatte die ungewohnte Umgebung etwas Entfremdendes für ihn, als ob sie sich fern von seiner Empfindung halten wollte, und es war ihm zumute, wie einem Bettler in einem geschmückten Saal zwischen geputzten, ihm unbekannten Gästen. Doch allmählich kam alles in der Dämmerung seinem Gemüte näher und er fühlte auf einmal sein ganzes Wesen harmonisch mit der Natur vereint: alles war ihm lieb, alles war ihm teuer.

Die schweren Gedanken und Sorgen, die er wie eine zusammengeballte Last auf seinem Herzen fühlte, lösten sich auseinander. Sie schwebten nur noch vor seinem Geiste, aber sie quälten ihn nicht; er atmete leicht und frei. Ein Schauer durchströmte ihn und es war ihm feierlich zumute, wie am Jomkippurabend in der hellerleuchteten Synagoge.

Sein Geist blieb jedoch nicht lange bei der Wirklichkeit. Aus verworrenen Vorstellungen tauchte eine enge Dachstube auf, mit nackten Wänden; in der Mitte nur ein halb zerbrochener Tisch, darauf eine brennende Kerze. Sie beleuchtete das blasse, halb verhungerte Gesicht seines Abraham, das einem dicken, deutsch geschriebenen Buche zugewandt war.

Er erschrak über dieses Bild, fuhr auf und wandte sich schnell seinem Sohne zu, der sinnend zwischen ihm und seiner Frau saß. Sein Herz preßte sich zusammen, er fühlte, wie seine Augen heiß wurden, als müßte er weinen. Mit seiner zitternden, mageren Hand ergriff er die seines Kindes und drückte sie innig.

Abraham spürte die innere Erregung seines Vaters und empfand, daß dieser Moment geeignet sei, mit ihm über seinen Beruf zu sprechen.

„Vater,“ sagte er, „hast du mich in dieser Stunde lieber als sonst?“
„Ja, mein Kind, mein Herz ist übervoll.“
„Siehst du, Vater, so wirkt die Natur. In ihrer Nähe werden alle unsere Empfindungen groß und

mächtig, daß wir hinauswachsen über uns selbst, sogar über unsere Leiden. Wir alle brauchen die Natur, wir alle empfinden sie, bewußt oder unbewußt.“

„Mein Kind, du hast mich mit deinem Besuch glücklich gemacht, aber wenn ich an deinen Beruf, an deine Zukunft denke … Nach so langem Studieren und Leiden wollte ich, daß du der Welt nützest, daß man dich nötig hätte.“

„Ich habe ja einen sehr guten Beruf, ich bin Kunstkritiker, wie ich es dir schon erzählt habe. Es ist wahr, daß nicht alle Menschen die Kunst brauchen, aber viele haben sie nötig wie die Natur selbst; sie ist ihrer Seele so wichtig, wie dem kranken Körper die Medizin. Vielleicht würdest du es verstehen, wenn ich dir ein solches Kunstwerk zeigen könnte. Fremd war dir auch die Natur und doch fühlst du jetzt, wie sie dich verändert und beglückt.“

David verstand auch jetzt nicht alles, was sein Sohn ihm sagte, doch heute empfand er eine Wahrheit, die er zwar nicht ganz begriff, von der aber sein Sohn überzeugt war.

Unterdessen war der Abend ganz herausgebrochen und löste alles in sich auf. Nur auf der Wasserfläche zitterte der Mond und bei dem matten Scheine las Abraham ein Zugeständnis und eine Beruhigung in den leuchtenden Blicken seines Vaters.

Ein leichter Wind rauschte durch die Bäume und brachte von ferne eine kräftige Stimme mit sich. Es war der Bauer, der mit dem Wagen sie abzuholen kam. (Isr. Familienbl.)

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