JÓKAI, MORITZ: WIE ICH PHILOSEMIT GEWORDEN BIN. ERINNERUNG AN ALTE ZEITEN

Zur Biographie: Moritz Jókai

In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 24. Jahrgang, Ausgabe 19 vom 09.05.1884, S. 183f

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[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

Soll ich’s leugnen? Auch ich war als Kind Antisemit; so wie es jeder unentwickelte Mensch ist. Die Mägde hatten mir den Kopf vollgemacht damit, daß die Juden an ihrem Osterfest das Blut christlicher Kinder benützen und zwischen unserem Hause und der Schule lag die Baranyay’sche Kurie, in der Juden wohnen durften. Auch der Schächte hauste dort. Jeden Tag sah ich, wie die Gänse mit den durchschnittenen Hälsen zum Thore hinaus gehängt wurden und meine Phantasie ergänzte das Uebrige. Was für schreckliche Dinge mußten dort vor sich gehen! . . .

Was ich dann in der Schule aus einem dicken Buche, das Hübner hieß, lernte, war auch nicht geeignet, Vorliebe für die Juden in mir zu wecken. Warum läßt man auch die Juden frei herumgehen, die meinen Heiland gekreuzigt haben?

Als ich dann größer wurde, schickte man mich nach Preßburg, um Deutsch zu lernen. Dort erfuhr ich, daß es am Ende der Stadt eine verwunschene Stätte gebe, die Schloßberg heiße und blos von Juden bewohnt sei. Das wäre die Brut- und Lagerstätte aller Sünden gegen Gott und Menschen und wenn man von einem Studenten erführe, daß er auf dem Schloßberg gewesen, würde man ihn sofort aus der Schule stoßen.

In diesem Glauben erstarkt, kehrte ich wieder nach Komorn zurück, wo es damals noch ein berühmtes Gymnasium gab mit drei Classen Philosophie und Poesie.

Bis dahin hatte ich einen jüdischen Studiosus weder im Lyceum noch im Gymnasium getroffen. Wozu hätte ein Jude auch Lateinisch lernen sollen? Er durfte kein Amt bekleiden, er durfte weder Advokat, noch Ingenieur werden.

Blos eine wissenschaftliche Laufbahn stand dem Juden offen, die ärztliche, oder wie man sie damals nannte, die Doktoren-Laufbahn. (Damals durften nur die Aerzte Vesikatoren und Schöpfköpfe anwenden, den „Prokatoren“ war dies nicht gestattet; deshalb nannte man auch nur die ersteren Doktoren; die anderen hießen Fiskale). Als ich nun die „Poesie“ besuchte, ereignete sich das Wunderbare, daß sich ein jüdischer Studiosus in unserer Classe einschreiben ließ. Er hieß Koritschóner. Er war nicht jung mehr; schon über die Vierzig. Bis dahin war er Magister der Kalligraphie gewesen; er unterrichtete Schönschreiben, er kopirte Gratulations-Schreiben mit einer Schrift, die wie gestochen aussah. Das war freilich ein mageres Brod. Trotz seines vorgeschritte- nen Alters hatte er den ehrgeizigen Plan, Arzt zu werden, gefaßt; zu diesem Behufe mußte er vorher Humaniora absolviren. Grammatik und Syntax lernte er zu Hause als Autodidakt, was ihm nur bei einem riesigen Fleiße möglich war, denn er war nicht von besonders rascher Auffassung. Uns 14-15jährigen Burschen machte dieser vierzigjährige Kamerad viel Spaß mit seiner kuriosen, ausgewachsenen Gestalt, mit seinem rasirten Gesicht, mit seiner mauschelnden Aussprache und seiner unwillkürlichen Komik. Eines Tages war er von der Schule ausgeblieben und als ihn der Professor deshalb zur Rede stellte, sagte der gute Koritschóner zu seiner Rechtfertigung: „Ich konnte nicht kommen, weil mich meine Frau eben gestern mit einem Söhnchen beschenkt hat.“ Man kann sich denken, welche heitere Stimmung sich auf diese ungewohnte Entschuldigung der ganzen Classe bemächtigte. Nur der Professor, der alles ernst nahm, lachte nicht, er wünschte seinem Schüler Glück zu dessen Neugeborenem und entließ ihn für diesen Tag, damit er bei seiner Frau wachen könne. Auch der gute Koritschóner nahm die Geschichte, wie Alles im Leben, sehr ernst. Mit der Kalligraphie verträgt sich eben kein Spaß. Einmal hatten wir, der alte Koritschóner und ich, vor der Schulstunde einen Disput.

Die Kontroverse bestand darin, ob in der ungarischen Metrik das ein Konsonant sei oder nicht. Ich sagte Ja, er Nein. Schließlich warf ich hin: „Was weißt Du davon, Du bist ja nur ein Jud“, worauf er rispostirte: „Du aber bist nur ein Kind.“ Eine schreckliche Beleidigung das, einem vierzehnjährigen Manne zu sagen, daß er ein Kind sei! Heutzutage würde man den Beleidiger hiefür zum Duell fordern. Damals machte man mit ihm kürzeren Prozeß. Ich war 14, er 41 Jahre alt, aber ich war ein Magyar und er blos ein Jude; Grund und Rechtstitel genug, ihn am Kragen zu packen und seinen Rücken mit der Faust zu bearbeiten. Als ich den Konsonanten-Charakter des auf diese Weise auf dem Rücken des jüdischen Kameraden bewies, trat der Professor ein. Er war ein strenger und gerechter Mann, er bestrafte mich, trotzdem ich sein Schwager war, für dieses Vergehen und ich mußte bis zum Abend in der Schule bleiben, was eine große Schande war. Daheim nahm mich meine Mutter vor. Meine in Gott ruhende Mutter hatte ein gutes, gesegnetes Herz; dabei aber war sie eine soldatisch strenge Natur. Sie fragte mich, wo ich geblieben wäre. Ich erzählte ihr, aufs tiefste entrüstet, von dem Unrecht, das mir widerfahren; wie ich mit Bestimmtheit wisse, daß der Buchstabe „h“ ein Konsonant sei, ich könne für meine Behauptung Börösmarty zitiren; „Cserhalom“, das sei ein Daktylus; wäre „h“ kein Konsonant, so wäre obiges Wort ein Tribrachys: und da hätte Einer gewagt, mir zu widersprechen und dafür hätte ich ihm etliche Püffe versetzt, der Lehrer aber mich in der Schule behalten. Ja, mußtest Du deshalb gleich Jemanden schlagen? fragte die Mutter. – Es war ja nur ein Jude! – Was? rief meine Mutter aus. Du sagst, es wäre nur ein Jude geweseu? Ist der Jude in Deinen Au- gen nicht ebenso ein Mensch wie jeder Andere? Du verachtest Jemanden um seines Glaubens willen? Vergissest Du, daß man „unsere“ Glaubensgenossen vor fünfzig Jahren ebenso verfolgt hat in dieser Stadt, wie Du jetzt den Juden verfolgst? Nun trollst Du Dich auf der Stelle fort und suchst mir den jüdischen Studenten auf, den Du geschlagen, und bittest ihn um Verzeihung. Und schriftlich mußt Du mir es von ihm bringen, daß er Dir verziehen hat. Ich war entsetzt ob der dra- konischen Strenge dieses Urtheils. – Wie, ich soll mich erniedrigen vor jenem Juden? – Du erniedrigst Dich vor Gott, der den Juden wie Dich nach seinem Ebenbilde geschaffen. – Und wie finde ich ihn jetzt in dieser Stadt?

– Das ist deine Sache. Du weißt, in welcher Gasse die Juden wohnen. Gehe dort von Haus zu Haus, bis Du ihn findest: Thue auf Deinen Munde und halte Nachfrage; Komorn ist ja kein Urwald. Mir aber wirst Du ohne jene Schrift nicht vor die Augen kommen. Das war das Ultimatum. Ein böser Fall fürwahr. Das Mittagessen hatte ich schon versäumt, nun sollte ich auch das Abendbrot verlieren. Indessen es gab keine Appellation und auch im Reichstage konnte ich diesfalls keine Interpellation einbringen. Was war zu thun? Ich mußte mich ergeben. So biß ich in den in den sau- ren Apfel und machte mich daran, den Koritschóner am jenseitigen Ende der Stadt, wo er wohnte, aufzusuchen. Da, als ich das Hausthor öffnen will, drückt Jemand zur selben Zeit dasselbe von außen herein; das Thor geht auf und vor mir steht mein kleiner Koritschóner. Die beiden Schultern schlaff gesenkt, das Haupt traurig zur Seite geneigt, fragt er mich, an der Schwelle stehend, mit milder zitternder Stimme: – Irasceris mihi? („Grollst Du mir?) Ob ich ihm grolle? Und, demüthig den Hut vom Kopfe nehmend, fuhr er fort: – Ich kam zu Dir, Dich um Verzeihung zu bitten.

Er, der Geprügelte, kommt um Verzeihung bitten Denjenigen, der ihn insultirt! Und ihn hat Niemand dazu gezwungen. Er hat keine Mutter, die ihn durch strengen Rechtspruch und mächtiges Gebot zu mir schickte! Und dennoch kommt er hieher zu mir. Mir strömten die Thränen aus den Augen: ich fiel ihm um den Hals und umarmte ihn. – Nein, nicht Du bittest mich um Verzeihung, nicht Du; ich, ich bitte dich, mir zu vergeben. Und jetzt mußt Du mit hinein zu meiner Mutter und ihr sagen, daß wir uns versöhnt haben und hinfür uns gegenseitig achten wollen. – Darum bin ich ja just zu Euch gekommen. – Hierauf ging er mit mir zur Mutter hinein und sprach: Ich komme um Ihre Vergebung zu bitten, gnädige Frau, für die Beleidigung, die ich Ihnen zugefügt. Ich bin der Schuldige, ich gestehe es ein. Denn worüber wir disputirt, darin hat er Recht gehabt, der Moriz. Der Buchstabe „h“ ist in der That ein Konsonant; nur aus poetischer Licenz wird er zuweilen als „spiritus lenis“ betrachtet. Der Herr Professor hat mir dies klar und deutlich erklärt. Darum verzeihen Sie es mir, das ich dem Moriz Veranlassung gab, mich zu schlagen. Seine Schläge haben mich nicht geschmerzt; denn der Moriz hat Recht und auch eine tüchtige Faust hat er. Und mit dieser Faust wird er den Juden vertheidigen, wann der Jude Recht haben wird. In diesem Augenblick bin ich Philosemit geworden. Und der Philosemitismus war mir nie eine ideale Phrase: sie gieng bei mir in Fleisch und Blut über. Wo immer ich von da ab in die Schule gieng, überall war ich bestrebt, zu erwirken, daß meine Schulkameraden mit ihren jüdischen Kommilitonen anständig umgehen. Im Kollegium zu Krecskemét hatte ich mir bereits einen hohen Rang errauft: da war ich der konstitutionell erwählte Vortänzer für den Juristenball, der erste Eminent in meiner Classe und der erste Liebhaber bei den Dilettanten. Dieses hohe Ansehen wußte ich überall zur Geltung zu bringen, um die gebildeten Jünglinge der handeltreibenden Kecskeméter Judenschaft in unseren geselligen Kreisen einheimisch zu machen. Sie waren unsere besten Freunde, mit ihnen konnten wir literarische Angelegenheiten am besten besprechen, sie liehen uns Bücher zum lesen, ja selbst Petösi wurde von ihnen am besten portirt. Einmal geschah es, daß wir ein Concert veranstalteten zum Besten einer zu errichtenden Jugendbibliothek. Musiker, Declamatoren stellte die Schuljugend die Menge bei; doch gab es unter uns keinen geschulten Sänger, der Opernarien vorzutragen verstand. Ein junger Jude, Philipp Gallia (später ward er Buchhändler), ein graduirter Mann von überaus vielseitiger Bildung, der dabei einen herrlichen Tenor und eine ganz vorzügliche Schule hatte, sagte auf mein Ersuchen seine Mitwirkung zu. Er hatte aus „Belisar“ die Arie „Trema Bisanzia, sterminatrice!“ zu singen. Den Text hatte ich ihm in’s Ungarische übersetzt. Einige Tage vor dem Concert hieß es, unter dem Publikum bereite sich irgend eine Demonstration gegen den jüdischen Dilettanten vor. Wir ließen uns dadurch nicht einschüchtern. Das Theater füllte sich mit Publikum: die Einnahme lieferte den Grundstein für die Schulbibliothek.

Als die Reihe an Gallia’s Gesang kam, harrte Alles voller Erwartung der Dinge, die da kommen sollten. Mein jüdischer Sänger trat muthig auf die Bühne, vor das Orchester hin, und kaum daß er anhub: „Zittere Byzanzia!“, da erscholl im Auditorium eine Stimme, dröhnend, wie der Ruf eines Ochsentreibers: „Da gibt’s keine Pferdehäute! Was sucht der Jude da!“ Aber dieser eine und einzige Demonstrant wurde durch das p. t. Publikum selbst im Nu mit solcher Raschheit aus dem Zuschauerraum geschleudert, daß der Sänger sich in seiner Arie gar nicht zu unterbrechen brauchte. Und als der letzte Vers verklungen wart „Ein Meer von Blut soll Rache melden – Für jede Thrän’ des edlen Helden“, da erhob sich im Publikum ein brausender Orkan von Applaus und Eljenrufen, der schier kein Ende nehmen wollte. Dieses geschah im Jahre des Heils 1842, vor 42 Jahren in der Stadt Kecskemet. Welch große Fortschritte hat die Welt seither gemacht?

* Wir reproduciren nach Pester Blättern diesen Vortrag, welchen Jókai im Prunksaale der Akademie der Wissenschaften gelegentlich der daselbst am 27. v. abgehaltenen Matinée gehalten hat