COHEN, LIONEL L.: EINE WARNUNG AUS ENGLAND

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In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 24. Jahrgang, Ausgabe 2 vom 17.10.1884, S. 393f

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Tran-skription

[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

Von Herrn Lionel L. Cohen, Präsidenten des Board of Guardians for the Relief of Jewish Poor erhalten wir folgende Zuschrift:

„London, 8. October 1884 (19. Tischri 5645).

„Geehrter Herr Redacteur!
Als Präsident der hiesigen jüdischen Armencommission halte ich es für meine Pflicht, vermittelst Ihres weit verbreiteten Organes einen eindringlichen Warnungsruf an unsere Glaubensbrüder in Deutschland, Rußland und Oesterreich ergehen zu lassen, um ihnen von einer Einwanderung nach hier, in der Erwartung, entweder hier einen Lebensunterhalt zu finden, oder von hier aus zur Weiteremigration nach Amerika assistirt zu werden, auf das Allerentschiedenste abzurathen. Ich fühle mich zu diesen Mahnruf gedrungen, da es zu meiner Kenntniß gekommen ist, daß continentale Comités keine Bedenken hegen, viele der nothleidenden Brüder zur Reise nach England zu überreden und ihnen zu diesem Zwecke nur gerade genug Mittel geben, um London zu erreichen. Sämmtliche Zweige der Industrie, des Handels und Gewerbes sind hier zu Lande mehr als überfüllt, tagtäglich wächst die Noth, überall stößt man auf Hunderte von Beschäftigungslosen die gern irgend welche Arbeit verrichten würden, wenn sie solche nur finden könnten. Die russischen Verfolgungen und die religiös-sozialen Reibungen auf dem Continent während der letzten drei Jahre, haben seitdem die Reihen unserer Unterstützungsbedürftigen bedeutend verstärkt, und wenn es Diesen, die, nachdem sie hier schon angesiedelt, und mit unserer Sprache, Sitten und Gebräuchen einigermaßen vertraut sind, schwer fällt, einen Lebensunterhalt zu finden, wie kann es da erst den Neuankommenden ergehen! Früher ward es uns ermöglicht, die durch den Zufluß der fremden Armen entstehenden Schwierigkeiten zu überwinden, indem wir einem Theil derselben zur Weiteremigration nach den vereinigten Staaten behülflich waren: aber dieser Ausweg steht uns nicht mehr offen; die amerikanischen Behörden haben uns eindringlich gewarnt, daß sie nur rüstigen und wirklich arbeitsfähigen Emigranten das Landen gestatten, und daß selbst solche etwas eigene Mittel besitzen müssen. Manche der Emigranten, die diesen Anforderungen nicht entsprechen konnten, sind wieder nach Europa zurückgeschifft worden und abgesehen von dem auf solche Weise unnütz verschwendeten Gelde, sind diese Armen dadurch großer Noth und Entbehrung ausgesetzt gewesen. Wir waren stets gerne bereit, unseren vom Continent kommenden Brüdern, soweit es unsere Mittel erlaubten, hülfeleistende Hand zu reichen, und mit gerechtem Stolze können die Juden Englands auf ihr Bemühungen in dieser Hinsicht deuten, die es tausenden von deutschen und russischen Glaubensbrüdern ermöglichten, sich erfolgreich in Amerika und den Colonien niederlassen oder hier zu Lande einen wenn auch weniger sichern Lebensunterhalt zu finden. Wie die Verhältnisse aber jetzt liegen, außergewöhnliche Leblosigkeit in Handel und Gewerbe hier, außergewöhnliche Beschränkungen für Einwanderer in Amerika – ist es unsere Pflicht unsere Brüder dringend darauf aufmerksam zu machen, daß es, wenn der Zufluß der Einwanderung wie bisher anhält oder gar größere Dimensionen annimmt, es uns absolut unmöglich sein wird, ihnen hier Hilfe zu gewähren, daß sie ohne solche der Noth erliegen oder schließlich wieder in ihre alte Heimat unter schlimmeren Verhältnissen, als sie sie verlassen, zurückkehren müssen.

Mein eindringlicher, wohlgemeinter brüderlicher Mahnruf ergeht daher an als die Institutionen, deren Aufgabe es ist, der Noth unserer leidenden Brüder abzuhelfen, die bisherige Weise, sie einfach nach hier zu schicken, aufzugeben. Mit dem Hierhersenden ist den Armen nicht geholfen, im Gegentheil wird ihr Leiden durch bittere Enttäuschung und zwecklose Hin- und Herfahrt nur unnütz vergrößert.

Ich bitte Sie, geehrter Herr Redacteur, mich in dieser Angelegenheit durch Veröffentlichung dieses Schreibens in ihrem vielgelesenen Blatte zu unterstützen.

Genehmigen Sie etc.