HIRSCH, LEO: DER JUDE IN DER DEUTSCHEN LANDSCHAFT II. DER POSENER JUDE
Aus: Der Schild. Zeitschrift des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten e.V., 13. Jahrgang, Nr. 46, vom 30.11.1934
Das Posener Judentum ist von der jüdischen und nichtjüdischen Umwelt meist etwas stiefmütterlich behandelt worden. Für die westdeutschen Glaubensgenossen waren die Posener nur zu häufig eine Art Ostjuden, die man gering schätzte (was ein doppeltes Unrecht war), und für die übrigen deutschen Kreise waren sie ebenso selten gleichwertig. Dabei sind die Posener Juden Deutsche, das Land war ja fast anderthalb Jahrhunderte preußisch, und als es nach dem Kriegsende polnisch wurde, wanderten 90% der Posener Juden aus. Wohin? Nach Deutschland.
Die Posener Juden waren nicht erst durch die Teilung Polens deutsch geworden. Sie waren im Mittelalter und später nach Großpolen eingewandert, nachdem sie jahrhundertelang in Deutschland ansässig gewesen und dann durch die Verfolgungen in und nach den Kreuzzügen vertrieben worden waren. Noch heute können viele Posener Juden die mittelalterliche Herkunft ihrer Vorfahren aus Franken und dem Rheinland beweisen. Aber schon der Posener Vulgärdialekt, eine Mischung von Jiddisch und Hochdeutsch, ist Beweis genug.
Der Posener Jude ist ein Typ für sich. Da er eine lange Zeit hindurch der Vermittler zwischen Ost und West, zwischen dem polnisch-russischen und dem westeuropäischen Judentum war, ebensolange aber mindestens auch zwischen Slawentum und Germanentum nicht bloß wirtschaftlich Brücken zu bauen hatte und vor allem zwischen allen Bewegungen und Reibereien hüben und drüben den Prellbock zu spielen gezwungen war, hat er eine größere Vitalität als der mittel- und süddeutsche Jude entwickelt. Vom Leben in den kleinen Nestern und vom Verkehr mit den Bauern und Grundbesitzern hat er etwas Rustikales behalten, vom ewigen Auf der Hut sein seine Schmiegsamkeit, von seiner Beharrlichkeit seinen Stolz. Den Juden der Stadt Posen sagte man überdies gern besondere Schlagfertigkeit nach; die Beispiele ihrer scharfen Zungen sind noch heute amüsant.
Ein paar Einzelheiten aus der Geschichte: Etwa um das Jahr 1000 kamen bereits deutschjüdische Kaufleute nach „Großpolen“. Im 12. Jahrhundert waren die Juden Inhaber der Münze und gründeten die erste Gemeinde in Zydowo. Im 15. Jahrhundert gibt es schon bekannte jüdische Gelehrte in Posen. Ein Posener Jude trifft auf seinen Reisen Vasco da Gama und reist mit ihm, begleitet dann Cabral bei der Entdeckung Brasiliens, informiert später Vaspucci und endet als „Cavaleiro“ König Emanuels. Schon vor dieser Zeit wird die Wohlhabenheit der Posener Juden gerühmt, ihre bürgerlichen Vorrechte, ihre besonderen religiösen Gebräuche, ihre eigenen Rechtssatzungen, ihr von eigenen Gesetzen geregeltes Handelsleben. Daß ihr Interesse für Astronomie und Mathematik nicht um der Wissenschaft willen, sondern zu Erhellung talmudischer, kalendarischer Schwierigkeit wach ist, darf man ebenso als ein Kennzeichnen ihrer wirklichkeitsnahen Lebensauffassung ansehen wie die Tatsache, daß in dem aus Posen stammenden Klage-, Buß- und Erbauungsliedern der Inhalt wichtiger als die Form ist. Kabbalisten, Frankisten, Sabbathianer und Chassidim fanden hier die wenigsten Anhänger. Aber auch Moses Mendelsohn fand zunächst hier heftigen Widerstand, und die Stadt Posen war zuerst eine Hochburg im Kampf gegen die Reform. Andererseits gab es in der Provinz Posen Jahrzehnte vor Herzl eine Art von Zionismus, der allerdings alles andere eher als politisch war. Rabbi Akiba Eger z.B. wünschte, dass man die Regierung zu Jerusalem bitte, den Juden dort das Opfern zu gestatten. Ein Kolonisationsverein wurde gegründet, Bücher herausgegeben, in Bethlehem eine Kolonie geschaffen.
1765 lebten in Großpolen etwa 60 000 Juden. Etwa vor hundert Jahren begann die große Abwanderung nach dem Westen, zeitweise nach Amerika. 1846 gab es 81 000, aber 1910 nur noch 26 500 Juden in der Provinz, heute nicht ein Zehntel davon. Der Aufschwung, den die Provinz unter preußischer Verwaltung besonders seit 1850 nahm, ist großenteils jüdischer Initiative zu danken. Flatau begründete den Hopfenbau in Neutomischel, Michael Levy das Salzbergwerk in Hohensalza, Julius Levy die Kalkwerke von Wapno, die Jaffés Sägemühlen, Milch die chemischen Werke, Kantorowicz, A.A. Auerbach die Zucker-Industrie.
In Posen gab es eine Reihe hervorragende Juden, aus der Stadt und dem Lande sind zahlreiche bedeutende Köpfe hervorgegangen. Der große Historiker des Judentums Heinrich Graetz, der Physiologe Hermann Munk, die Mathematiker Königsberger und Fuchs, der Nationalökonom Jastrow, der Philosoph Lazarus, die Mediziner Senator und Cohnheim, um nur einige zu nennen, dann Rudolf Mose, J. Kastan, Bernstein, Ludwig Kalisch, A. Berliner. Der hohe Rabbi Löw war lange in Posen tätig, und Rabbi Akiba Eger, die letzte Leuchte des Talmudismus, war vor 100 Jahren Oberrabbiner dort, und obwohl er in jüdischen Dingen keinen Kompromiss kannte, wurde er sehr von Männern wie Humboldt und Hardenberg geschätzt und vom König geehrt. Heute hat die ganze Provinz, die einst 130 blühende Gemeinden zählte, keinen Rabbiner mehr. Die wenigen, dezimierten Gemeinden müssen noch für die Friedhöfe der Nachbarstädte sorgen, wo es überhaupt keine Juden mehr gibt. In einem Ort wird die Synagoge als Kino benutzt, in anderen zum Felletrocknen. Um nur ein Beispiel zu nennen: in Ostrowo gab es 1917 etwa 450 Juden, 1927 noch zwei Familien. Die Auswanderer hatten nicht bleiben können, weil sie ja Deutsche waren und für Deutschland optierten. Sie gaben ihre Existenz auf und versuchten, im Vaterland von vorne anzufangen. Heute sind sie im Vaterland, um dessen Willen sie aus ihrer Heimat auswandern mußten, nachdem sie für Deutschland vier Jahre gekämpft hatten, „Nichtarier“. Das ist aber nur ein Kapitel aus der großen Tragödie des Posener Judentums.