SCHMITZ, SIEGFRIED: EIN JÜDISCHER ZEITROMAN
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Es ist möglich, daß die gültige Gestaltung einer im Fluß befindlichen Zeit durch den Roman an den Schwierigkeiten der Distanzierung scheitert; es ist auch möglich, daß dazu, um tatsächlich ein gültiges jüdisches Zeitbild zu geben, eine ganz außerordentliche Persönlichkeit gehört, welche mit naturwissenschaftlich-analytischer Begabung eine sozusagen gottgebundene seelische Intuitionskraft verbindet. Mag diese Charakteristik eines
jüdischen Dichters auch übertrieben erscheinen, Mendele Mocher Sforim scheint diese Persönlichkeit gewesen zu sein. Ihm ist es auch gelungen, ein Bild jüdischer Zeit gültig zu gestalten, indem er in seinen Romanen, welche eigentlich im Sinne der europäischen Ästhetik keine Romane find, geradezu unumstößlich das jüdische Leben, wie es sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts im jüdischen Osten abspielte, künstlerisch geformt hat.
Dabei ist zu bemerken, daß Mendele Mocher Sforim diese Gestaltung eines jüdischen Zeitbildes schuf, als eigentlich die Wesenheiten, welche er darstellte, im Fluß der Ereignisse bereits ins Wanken geraten waren. So hat er in einer gewissen distanzierenden Projektion sein künstlerisches Werk — allerdings mit der zauberhaften Kraft einer Persönlichkeit — getürmt. All dies suchen wir bisher in den künstlerischen Darstellungen, welche sich mit dem jüdischen Bilde des Westens befassen, vergebens. Vielleicht liegt es daran, daß im jüdischen
Westen die Kulturkontinuität bereits unterbrochen ist und weil die Bemühungen, welche in den letzten zwei Jahrzehnten vom jüdischen Westen gemacht werden, um sozusagen den Anschluß an die jüdische Kulturkontinuität wiederzufinden, bisher etwas Wesenhaftes nicht gezeitigt haben. Daher haben bis jetzt — die vielen kleinen, von etwas Tendenz getragenen Romanproduktchen kommen nicht in Betracht — die Formungen jüdischen Zeitlebens in den Westländern, insbesonderheit in den jüdischen Metropolen Westeuropas, wie etwa die Werke Max Brods oder die Schöpfungen Schnitzlers, welche in das jüdische Gebiet hineinragen, die jüdische Gestaltung in Wassermanns erstem Roman, von den noch kleineren Geisterchen ganz zu schweigen, stets an einer Krankheit gelitten, die wohl am klarsten als Mangel an jüdischer Persönlichkeit und Mangel an distanzfähiger kultureller Einheitlichkeit zu diagnostizieren ist. Dadurch erhalten alle diese Erzeugnisse, selbst die Erzählungen des heute fast vergessenen, jedoch in seiner künstlerischen Reinheit und seinem starken Ethos die schriftstellernden Juden der letzten dreißig Jahre turmhoch überragenden J. J. David, wo sie an Jüdisches rühren, stets etwas Quälendes und Gequältes.
Umso größer daher die Überraschung, in einem jüngst erschienenen jüdischen Zeitroman von Sammy Gronemann*[1]) welcher das jüdische Leben Berlins in einem Spiegel fangen will, Ansätze zu sehen, welche gerade aus dieser quälenden Manier durch irgendetwas Befreiendes hinauszuführen geeignet sind. Der umfangreiche Roman, Tohuwabohu betitelt, deutet mit dieser Bezeichnung schon an, daß es dem Dichter gewissermaßen um die Erfassung des wirren Chaos geht, in welchem das jüdische Leben zwischen Berlin und einem russischen Judenstädtchen flutet, das wie alle die posenschen, westrussischen und westpolnischen Kleinstädtchen ebenso als jüdischer Vorort Berlins zu betrachten ist, wie etwa die mährischen Kleinstädtchen und die galizischen Judenorte als der jüdische Vorort Wiens im Sinne einer stetigen Speisung dieser Großstädte mit jüdischem Wesen aus diesen Vororten anzusehen sind.
Alle möglichen Typen, Getaufte, Baldgetaufte, Schinkenorthodoxe, Orthodoxe mit den neuesten Errungenschaften deutscher Technik, Schnorrer, Schwindler, liberale und feudale Juden, Zionisten und allerlei dem jüdischen Betrieb Deutschlands und seinem stetigen östlichen Zustrom entnommenes Gewese führt einen wirren Reigen auf. Es wird viel mit dem altbewährten Rezept der Schwarz-Weiß-Zeichnung gearbeitet, noch mehr debattiert und manches, was in wenigen Strichen das Schicksal eines Stückes Judenheit prägen würde, wird durch rhetorische Längen und ein wenig sentimentale Problematik verkleinert. Nichtsdestoweniger herrscht in diesem Tohuwabohu doch irgendein Geist, von dem trotz mancher bereits bekannten sozusagen neuwestjüdischen Witzschablone doch manches Anziehende zu verspüren ist. Es ist dsr Geist des Allesbegreifens, aus dem in gerader Linie die Humore fliehen, mit welchen dieses jüdische Chaos, das in Berlin herrscht, begriffen sein muß, soll nicht die Verzweiflung über diese Wirrnis lähmen. Im Hintergrund dieser Humore, die Sammy Gronemann, seit je ein trefflicher Stütze judischen Witzes, in den ein Gran Berlinertum gemischt ist, leuchten läßt, steht ein Bewußtsein: das der unzerstörbaren jüdischen Kraft. Dieser Sinn gibt dem Humor Gronemanns in seinem Buch etwas Befreiendes, was fortführt von den selbstzerfleischenden Quälereien dieser jüdischen Zeit im Westen, einer Zeit, die nicht Übergang zur seelischen Synthese ist wie im Osten, sondern Übergang zur jüdischen Denkanalyse.
Darum ist das Buch Gronemanns, mag es auch in der Konzeption trotz seines Umfanges etwas episodenhaft geraten sein, dennoch ein Werk, das verheißungsvoll ist; es läßt hoffen, daß Gronemann, dessen Humore irgendwie die Möglichkeit zeigen, zu distanzieren, jüdisch-künstlerisch wohl noch etwas zu sagen haben wird. Es ist nie zu spät…
[1] Orig.FN: Sammy Gronemann: „Tohuwabohu“, 1920, Welt-Verlag, Berlin.