KAPRALIK, A.: DIE PATRIARCHEN DES OSTENS

 

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In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 28. Jahrgang, Ausgabe 3 vom 20.01.1888, S. 27f / Ausgabe 4 vom 27.01.1888, S. 37ff / Ausgabe 5 vom 03.02.1888, S. 47ff

 

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Ausgabe 3 vom 20.01.1888, S. 27f

I.

Es war an einem der letzten Novemberabende des Jahres 1869 Frühzeitig war der Winter ins Land gezogen und hatte Feld und Au in eine dichte Schneedecke gehüllt und krächzende Raben schwebten in der bleischweren Luft und schmetterten weithin in die Ferne ihre unheimlichen Töne hinaus. – Hie und da ragte da kahle, dürre Geäste einer Linde und eines Ahorns über den Schnee hervor, von den Meilensteinen hingegen, die die Straße umsäumen, war nichts zu sehen. Auf dieser aber, die sich zwischen Feld und Haide schnurgerade dahinzog, bewegte sich äußerst schwerfällig ein mit drei kräftigen Braunen bespanntes Fuhrwerk, dessen Insassen nebst dem Wagenlenker aus zwei bejahrten Männern bestanden. Der Eine von ihnen, eine durchaus ehrwürdige Gestalt mit edlen Zügen im schöngeformten, blassen Gesichte und langem, weißen Barte, mochte etwa sechzig Jahre zählen, indessen sein Reisegefährte, ein starker, behäbiger Mann mit rothem, aufgedunsenem Gesichte, von einem röthlichgrauem Barte umrahmt, nur um wenige Jahre jünger schien. – Lange waren sie schweigend nebeneinander gesessen, bald hinaus blickend in die schneebeleuchtete Nacht, bald wieder das geblendete Auge schließend und den dichten Bärenpelz, der auf ihren Knieen lag, straffer anziehend, als der Letztgenannte sich an seinen Gefährten wandte und ihn fragte: „Glaubt ihr nicht, Rabbi, daß es besser wäre, die Nacht im Grenzorte S. zu verbringen und erst morgen die österreichische Grenze zu passiren? Wir müßten sonst die ganze Nacht fahren; die Pferde sind sehr ermüdet und fühlt ihr nicht auch den starken Frost, der sich über die Nacht lagert?“ – Der Angeredete zögerte eine Weile mit der Antwort; er mochte wohl einsehen, daß sein Begleiter – oder wie dieser seinem officiellen Amte Gemäß hieß: sein „Gabbe“ – Recht hatte; er entschloß sich jedoch im Stillen auf dessen Vorschlag nicht einzugehen. Der Grund war folgender: Der Rabbi, wie wir ihn nennen gehört haben, machte wohl die merkwürdigste Reise, die je Einer seinesgleichen unternommen; er befand sich auf der Flucht, auf der Flucht von einem Orte, von welchem ihn niemand vertrieben; von einem Orte an dem er hochgeehrt, geliebt, ja vergöttert wurde, von der Gemeinde sowohl als auch von einer zahllosen Anhängerschaar aus den fernsten Gauen des weiten Russenreiches; und doch verließ er diesen Ort, um ihn nie wiederzusehen! – Viele Jahre hatte er, der in talmudisch-rabbinischem Wissen hochgelehrte Sohn des berühmten Rabbi Israel – oder Reb Srulze – von Sadagora den Wunderthron in einem kleinen Städtchen Rumäniens innegehabt und von dort aus sein magisches Szepter über Tausende und aber Tausende von rumänischen und russischen Cassidim geschwungen. Vor Ostern und Neujahr pflegten die Getreuen in hellen Haufen heranzuziehen, wie einst ihre Vorfahren aus allen Gegenden des gelobten Landes gegen Bion, kostbare und seltene Geschenke für denjenigen mitbringend, den sie als ihr geistliches Oberhaupt auf Erden, als den Mittler zwischen sich und dem allerhöchsten Wesen betrachteten und verehrten. – In Glanz und Pracht hatte der Rabbi in jenem Städtchen gelebt; denn unermeßlich waren die Reichthümer, zu denen die unter dem Namen „Pidion“ (etwa Lösegeld) ihm dargereichten Geschenke angewachsen waren. Eines Tages hatte ihn ein vornehmer Fremder besucht, sich mehrere Stunden lang mit ihm abgeschlossen, war dann fortgegangen und nie wieder gekommen.

Von dem Tage an war der Rabbi wie umgewandelt. Er schloß sich ganze Tage ab, wollte niemand mehr empfangen, ja er wurde sogar für seine eigenen Familienmitglieder unzugänglich! Man stellte allerlei Vermuthungen an; indessen brach sich jene von mehreren Hundert armen Juden, die jahraus – jahrein am „Hofe“ des Rabbi lebten und von seinem Tische gespeist wurden, ausgehende Ansicht allmälig Bahn, daß der Rabbi im Verborgenen mit abgeschiedenen Geistern des Jenseits, so mit Elia Hanowi, mit Rabbi Simon ben Jochai und seinem erleuchteten Schüler Chaim Vital gemeinsam den Sohar und andere Geheimlehren studiere. In Wahrheit jedoch verhielt sich die Sache ganz anders. Der Fremde, der einen so wichtigen Wendepunkt im Leben des Rabbi Ber bedeutete, war einer jener hochgelehrten Juden, die ihr Wissen und ihre Dialektik in den Dienst der englischen Missionsgesellschaft stellen und als Proselytenmacher besonders unter den entweder nur einseitig gebildeten oder ganz unwissenden Juden des Ostens herumziehen. Er war auch zu Rabbi Ber gekommen und hatte es versucht, ihm die Wahrheit und Richtigkeit der Lehre des Nazareners zu beweisen. Er hatte dies mit einem solchen Aufgebot seiner gewaltigen Beredsamkeit, seines profunden allseitigen Wissens gethan, daß, wenn er den Rabbi auch nicht ganz gewann, er doch seinem bisherigen Glaubengebäude, seiner messianischen Ueberzeugung einen bedenklichen Stoß versetzte – Rabbi war nämlich ein ruhig erwägender, gründlicher Geist. „Auf Trau und Glauben“ – hatte er den Missionär zugerufen – „folge ich euch nicht; ich will mich allein überzeugen, ob ihr Recht habt!“ – „Und wie wollt ihr das, Rabbbi?“ fiel jener ein; „ich will lernen, lernen solange, bis ich Alles weiß, was ihr wißt; dann werde ich wohl wissen, wie ich daran bin.“ – Und der Rabbi hat seinen Entschluß ausgeführt.

Nicht den Sohar studierte er, nicht ben Jochai war sein Lehrer, sondern ein jüdischer Arzt der Stadt, der durch einen geheimen Gang täglich zu ihm gelangte und stundenlang ihn zuerst in den Elementen der deutschen Sprache, dann in Naturwissenschaften, Geschichte und Philosophie unterwies. – Zwei Jahre hatte Rabbi Ber überaus eifrigem Studium gewidmet, und nach Verlauf dieser Zeit war sein Entschluß gereift. Nicht abschwören wollte er den Glauben seiner Väter, nicht entsagen dem alten Bunde, um sich dem neuen zuzuwenden, fand er doch trotz allen profanen Wissens in der reinen erhabenen Lehre Mosis und der Propheten eine noch genug mächtige Stütze für sein der Religion bedürftiges Gemüth. Aber die Bildung, die er sich mittlerweile angeeignet, die auf exacter Forschung beruhenden Lehren der Wahrheit, die er mit Gier eingesogen, hatten eine Läuterung seines Herzes, eine Umbildung seiner ganzen Denkweise zur Folge, was – vereint mit der Aufklärung seines Geistes – einen neuen Menschen aus ihm gemacht hatte. Mit Einemmale ward ihm die erbärmliche Rolle klar, die er, die seine Ahnen und viele, ah gar viele Männer dieser Art gespielt; er erröthete und empfand bittere Reue über den unwürdigen Schacher, der mit den edelsten Gefühlen der Menschenseele, mit dem Glauben an Einen Gott, getrieben wird. Er war fest entschlossen vom Wunder-Rabbi-Unwesen für immer zu lassen, sich in eine Einöde zurückzuziehen und da abgeschlossen von der verderbten Welt, die solange ihn und die auch er betrogen, seiner neuen geläuterten Weltanschauung zu leben. Er machte von diesem seinem Plane nur seinem Lehrer, dem Arzte, Mittheilung. Dieser aber erschrak, als er das hörte und hatte wohl auch Grund dazu.

Neben dem Rabbi und dem Gabbe, der von jedem Fremden gewissermaßen eine mitunter sehr beträchtliche Eintrittsgebühr erhob, machte der Arzt die besten Geschäfte im Orte. Er heuchelte eine Frömmigkeit, die er nicht besaß, um sich beim Rabbi und seinen Chassidim einzuschmeicheln, er pflegte, wenn er Samstags oder an einem Feiertag zu einem Kranken gerufen wurde, stets sich selbst in die Apotheke zu begeben und mündlich die Arznei zu ordiniren, um den Festtag nicht durch Schreiben zu entweihen, er war ein nie fehlender Gast beim Tische des Rabbi, wenn dieser beim Ausgang des Sabbath im Kreise einer großen Zahl der vornehmsten Frommen seine an den laufenden Wochenabschnitt der Bibel sich knüpfende Draschah hielt. – Und so pro- pagirte der Rabbi selbst des Arztes Heilkünste und Wunderthaten bei den zahlreichen Fremden, die eine beträchtliche Einnahmequelle für den originellen Aeskulapsohn wurden. Als nun dieser des Rabbis Entschluß vernahm, da ward ihm recht bange für seine eigene Zukunft. Ist der Rabbi fort, liegt ja das Städtchen verödet da, und die reiche Quelle würde für immer versiegen. – Er zog daher Reb Schmerl, den Gabbe, ins Mittel und veranlaßt diesen, seinen Einfluß, der allerdings ziemlich groß war, geltend zu machen und den Rabbi zum Bleiben zu bewegen. – Doch vergebens. – Der Rabbi erklärte mit Entschiedenheit bei seinem Entschlusse zu verharren, gebot Reb Schmerlen strengste Verschwiegeneheit, ließ eines Morgens einspannen, steckte eine ziemlich bedeutende Summe Baargeld in österreichischen und russischen Banknoten zu sich und bestieg mit dem Gabbe den Wagen, um, wie er sagte, nach Sadagora zum Grabe seines Vaters zu wallfahren. – Reb Schmerl sollte ihn thatsächlich dorthin begleiten, dann aber sich wenden, wohin es ihm beliebe, er, der Rabbi wollte vom Grabe seines Vaters und von seinem älteren in Sadagora thronenden Bruder Reb Abraham Jankes Abschied nehmen. – Einen ganzen Tag waren die beiden unter unsäglichen winterlichen Beschwerden gefahren, hatten unterwegs bloß einmal ein karges Mahl zu sich genommen, und als sie sich am Abend einem Grenzdorfe näherten und Reb Schmerl den Vorschlag machte, daselbst zu übernachten, wollte Rabbi Ber darauf nicht eingehen; denn er traute seinem Gabbe nicht recht. – Er glaubte, dieser hätte seinen Plan der Gemeinde verrathen, und fürchtete, er könnte zu jeder Stunde von Nacheilenden eingeholt und vielleicht gar mit Gewalt zur Rückkehr gezwungen werden. Deshalb wollte er so rasch als möglich den österreichischen Boden der Bukowina betreten, wo er auf jeden Fall gesichert wäre. – Sie fuhren also weiter, setzten über die Grenze, gelangten aber bald in eine kleine Stadt und verbrachten die Nacht auf österreichischem Gebiete. – Mit Anbruch des folgenden Morgens setzten sie ihre Reise fort und kamen nach einer weniger beschwerlichen Fahrt als am Vortage des Abends in Sadagora an.

Ausgabe vom 27.01.1888, S. 37ff

I. (Fortsetzung.)

Etwa eine Stunde von der anmuthig gelegenen, hübschen Landeshauptstadt Czernowitz liegt der kleine aber lebhafte Marktflecken Sadagóra. – Haus an Haus gedrängt, eines garstiger als das andere, alle schmutzig und verwahrlost, ewiger Mist und Unrath in den kurzen unregelmäßigen Gassen, und dazu eine vollkommen entsprechende Bewohnerschaft – zumeist verkommene, un- reinliche Gestalten, sowohl arischen als semitischen Stammes und beiderlei Geschlechtes – das ist das wahre Bild eines Ortes, der im europäischen Osten dieselbe Berühmtheit genießt, wie das gepriesene Mekka bei den Söhnen Muhammed’s. – Nur zwei Bauten heben sich vortheilhaft ab von den übrigen, zu denen sie in einem sonderbaren Contraste stehen. Das in einem großen, waldähnlichen, schön gepflegten Parke befindliche einstöckige Schloß des Gutsbesitzers Baron M. und das ebenerdige, äußerlich einfache, im Innern jedoch fürstlich geschmückte Wohnhaus sammt dem dazugehörigen geschmacklosen, aber mit wahrhafter Verschwendung erbauten, reichlich verzierten Tempel des Rabbi. – Wohnhaus und Nebengebäude umgibt ein geräumiger Hof, in welchem es den ganzen Tag und bis in die späte Nacht hinein von Menschen wimmelt. – Da sind vor allem etwa etliche hundert Männer aller Altersstufen, mit abgehärmten Gesichtern, verwilderten Bärten und unglaublich langen Gesichtslocken, im langen schmutzigen, zerrissenen und vielfach geflickten Kaftan, Männer, die ihre Familien daheim – oft weit von Sadagora – ihrem Schicksale und dem Willen Gottes überlassen haben und da als „Joschwim“ den Hofstaat des Rabbi ausmachen. Sie beten des Morgens bis gegen 11 Uhr, werden dann an deinem gemeinsamen Tische abgefüttert, begeben sich hierauf in das Bet ha-Midrasch und lernen einzeln oder in kleinen Gruppen ihren Schiur, während andere sich mit dem näselnden mechanischen Herunter- leiern von Psalmen die Zeit vertreiben, und wenn sie’s satt bekommen, spazieren sie, die kleine Pfeife im Munde, im Hofe auf und ab und erzählen sich von des Rabbi Wunderthaten. – Da kommt ein schwerbepackter Wagen gefahren, dem ein wohlgenährter, reich aussehender Jude aus der Ukraine entsteigt. Die Aerzte schicken ihn eines Magenübels wegen in ein böhmisches Bad; aber der Rabbi muß ihm den Segen dazu geben; denn was würden ihm sonst die Thermen von Karlsbad nützen? Der Gabbe, der zugleich Thürsteher ist, erkennt ihn schon von fern und ruft ihm laut ein „Scholaum aleichem“ zu, das dieser mit der landläufigen Inversion der beiden Worte und einer Rubelnote erwidert. Unverzüglich wird er vorgelassen. – Dort kommt eine jammernde Mutter geeilt, ihr jüngstes Kind liegt im Sterben, es ist von den Aerzten aufgegeben, nur der Rabbi kann helfen; hier ein betrübter Vater, dessen Tochter auf keinen Fall den Mann will, den Eltern und Schadchen ihr bestimmen, die gelobt nur der Neigung ihres Herzens zu folgen und dem jungen hübschen Nachbarssohn die Hand zu reichen, dem Abtrünnigen, von dem man weiß, daß er im Geheimen deutsche Bücher lese.

Der Vater ist überzeugt, daß seine Tochter besessen sei, er wendet sich an den heiligen Mann, daß er aus ihr den „Dibik“ heraustreibe. – Der Krämer, der schlechte Geschäfte macht, der Pächter, der fürchtet, man könne ihm zum nahe bevorstehenden Termine die Pachtung „ausdingen“, – – alle, alle kommen, vom Rabbi Hilfe zu erflehen. Alle werden vorgelassen, zuerst die Reichsten und so nach Maßgabe ihres Besitzes und der Höhe des dem Gabbe zugesteckten Obolus der Reihe nach die Uebrigen. – In einem kleinen, bescheiden eingerichteten Gemache sitzt der göttliche Mann im langen, schwarzseidenen Kaftan an einem Tische, das Auge unverwandt auf ein aufgeschlagenes Buch geheftet; der Eintretende legt einen Zettel, der die schriftliche Bitte enthält und eine Geldsumme auf den Tisch, der Rabbi durchfliegt dies Bittgesuch, nickt mit dem Kopfe und versichert, Gott wird helfen, womit der so Getröstete freudig sich entfernt! – So kommen und gehen sie, die armen Geschöpfe, diese bedauernswerthen Kinder eines traurigen, finsteren Landes! Wie? Sind denn ihnen jene Schätze verschlossen, die wir anderen mit vollen Händen aus dem Reiche des Wissens heben? Ist ihr Geist anders geschaffen, daß ihm das unfaßbar wäre, was jetzt Gemeingut Aller ist? Nein! Sie sind Menschen wie alle übrigen, mit denselben geistigen Anlagen, denselben seelischen Gefühlen, denselben Regungen des Gemüths! Aber sie schmachten in einem Jahrhunderte alten Banne, in Jahrhunderte alten Fesseln, welche der Aberglaube ihren Ahnen geschmiedet, und traditionelle Pietät gefestigt, ach! so stark gefestigt hat, daß ein bloßer Versuch, sie abzustreifen, als eine Erbsünde, als ein Vergehen gegen das Allerheiligste, betrachtet wird. Was sind ihnen die Errungenschaften des Wissens, die den Geist aufklären, was die Schöpfungen der Kunst, die Herz und Sinn veredeln? Hervorbringungen des Satans und Teufelsspuk, Verirrungen einer entfesselten Phantasie und Verleugnung des Schöpfers und seiner Heiligen! Und wie wird jede freie Regung eines begabten Geistes im Keime erstickt! Man dürfe nicht denken, gilt ihnen als oberster Grundsatz; man dürfe es auch nicht einmal versuchen, so zahlreiche Widersprüche, die zwischen traditioneller Lehre und individueller Anschauung entstehen, kritisch zu beleuchten. Blind gehorchen müsse man dem todten Buch- staben der Ueberlieferung, es nicht um ein Haar geringer nehmen, als es die Väter gethan; Fortschritt und Zeitgeist sind unbekannte, oder wenn gekannt, verdammte Begriffe! – – – Mit Spott und Hohn werden die Aufgeklärten überschüttet, die Frevler, ein Chassid betet und fastet und führt ein elendes Leben, wird doch bald, ja vielleicht schon morgen der gesalbte Sohn Davids erscheinen und ihn und seine näheren Glaubensgenossen ins gelobte Land führen. – – – –

Ist dieser Glaube übrigens, diese Hoffnung, diese Zuversicht nicht beseligend? Was vermöchte der Seele mehr Trost und Ruhe zu verleihen, als eine so feste, als eine solche religiöse Ueberzeugung? Wir bedauern jene Geschöpfe, sie zahlen es uns mit barer Münze; sie bedauern uns.

Mitten in das dichteste Gewühl, das den Hof des Sadagoraer Patriarchen erfüllte, fuhr der Wagen, der Rabbi Ber und seinen Gabbe, Reb Schmerl brachte. Es war fast Abend geworden, und dennoch vermehrte sich immer noch das Gedränge, man erwartete den Rabbi, der in seinem eigenen, reichlich ausgestatteten Gemache, einem Nebenraume des Tempels, das Mincha- und Maariwgebet verrichtete. – Rabbi Ber hatte schon unterwegs gebetet und begab sich daher in das Empfangszimmer seines Bruders, wo er ungeduldig dessen Rückkehr abwartete. – Nachdem er den Reisepelz abgelegt hatte, ließ er sich erschöpft auf das kleine Sofa nieder und brütete still vor sich hin. Da zog noch einmal seine ganze Vergangenheit an seinem geistigen Auge vorüber. Die verklärte Gestalt seines Vaters trat erzürnt vor ihn und drohte ihm mit dem Finger. – – Doch mit nie gekanntem Muthe verscheuchte er dieses Bild und erhob sich, um mit kräftigen Schritten das Zimmer zu durchmessen, damit er dadurch gleichsam die Worte übertöne, dir er aus dem Munde eines Gespenstes zu vernehmen wähnte. Da ging die Thüre auf, und Reb Abraham Jankes trat ins Zimmer. – „Boruch habo“ und „Scholaum“ ertönt es gegenseitig, ein Händedruck, eine Umarmung, und der von Sadagora zieht seinen liebwerthen Gast zum Sofa hin, auf das sich beide niederlassen. Der Herr des Hauses will vor Freude über den unerwarteten Besuch, den er ungestört zu genießen gedenkt, seinem Gabbe den Befehl ertheilen, heute Niemanden mehr vorzulassen; doch Rabbi Ber ersucht ihn, trotz seiner, die Geschäfte des Tages unverkürzt zu erledigen, er wolle ihm Gesellschaft leisten, er wolle noch einmal jene armseligen Geschöpfe sehen, die in ihrer Noth sich an den Sachwalter der Allmacht auf Erden wenden. Reb Abraham Jankes mißverstand seinen Bruder. Er faßte das so auf, wie wenn Rabbi Ber, dessen krankhafte Blässe ihm sofort aufgefallen war, von der Ahnung eines nahe bevorstehenden Todes ergriffen, vielleicht nur zu dem Zwecke nach Sadagora gekommen wäre, um neben seinem Vater bestattet zu werden. Auch den Ausdruck „armselige Geschöpfe“ bezog er lediglich auf die körperlich oder seelisch Leidenden und Hilfesuchenden, verstand ihn also ganz anders, als Rabbi Ber ihn gedacht. Er ließ sich also bestimmen, die Harrenden eintreten zu lassen und fertigte sie wie gewöhnlich kurz ab, indessen sein Bruder diese mit mitleidigem Blicke maß und in der Betrachtung dieser – wie es bei ihm bereits feststand – unmoralischen Handlungsweise nur noch mehr Festigung fand, für seinen so edel, so selbstlos und deshalb vereinzelt dastehenden Entschluß. „Bruder“, rief er und seine Stimme zitterte, nachdem hinter dem Letzten sich die Thüre geschlossen hatte, „Bruder“, ich komme Abschied von Dir zu nehmen, von Dir, dem Rabbi, der selbst in einem verderblichen Wahne, in einem gräßlichen Irrthume, in der Ueberzeugung seines göttlichen Berufes lebt und so viele Tausende mit geistiger Blindheit geschlagene Menschen in denselben Wahn, dieselbe Verirrung zieht! „Bruder Abraham“, rief er noch kräftiger und blickte dem erstaunten Rabbi fest ins Auge, „wir sind alle Betrüger, wir vergehen uns sehr hart gegen den einzigen allmächtigen Gott, wir lassen uns dafür bezahlen, daß wir für andere zu ihm beten und diese thun es in der festen Ueberzeugung, daß wir vom Ruach Hakoudesch inspirirt, viel bei der Gottheit vermögen! Wir begehen eine doppelte Sünde.

Erstens eignen wir uns Güter an, die uns nicht zukommen, denn wir können doch nichts bewirken, wir können ja das nicht thun, was die Leute von uns voraussetzen, zweitens erhalten wir diese in einem unheilvollen Aberglauben und verwirren ihre ohnehin unklaren Begriffe von der Gottheit noch mehr! Ich mache meinem bisherigen Treiben, das mir der liebe Gott verzeihen möge, – denn ich wußte nicht, was ich that, ein Ende, ich gebe das Rabonot, auf und ziehe mich in einen verborgenen und verlassenen Winkel Erde zurück, wo ich mir selbst eine Buße auferlegen will für meine so schweren Sünden! Du aber fahre fort, o Bruder“, sprach er mit Bitterkeit weiter, „das Erbe unseres Vaters in Ehre zu halten. Du kannst mich nicht verstehen, du wirst auch meinen Schritt nicht billigen, aber meinen Entschluß kannst du nicht ändern. Leb’ wohl!“ Wie vom Blitzstrahl getroffen stand Reb Arbraham Jankes da. „Was redest du, Ber,“ sprach er an allen Gliedern bebend, „was spricht aus dir, ich verstehe dich nicht; du bist krank, du fieberst, wo ist jemals so was gehört worden; denk’ an unseren Vater, sein Andenken sei uns zum Segen, an un- sern Urgroßvater Abraham, genannt „der Engel“, an unsern Ahn, dessen Namen du trägst an je- nen Reb Ber, der der vornehmste Schüler und ausgesprochene Liebling des heiligen Baal-Schem- Tow war: Sind wir nicht vom Stamme David, sind wir nicht die Auserwähltesten unter den Auserwählten, und wird nicht in unserer Familie der Gesalbte geboren werden, der uns ins heilige Land führen und uns die Weltherrschaft überantworten wird? Ber“ fuhr er mit weinerlicher, fast flehender Stimme fort, „erinnere dich jenes Tages, an welchem du Bar-Mizwah wurdest und unser heiliger Vater dich segnete und sprach, du werdest ein Meor godaul sein, du werdest ein großes Licht über Israel verbreiten, warst Du ja immer der gelehrteste und scharfsinnigste unter deinen Brüdern! Und was willst du beginnen, was wird unser Vater im Himmel dazu sagen? Was soll aus den vielen, vielen Kindern Israels werden, wenn sie eine so mächtige Stütze verlieren?“ Rabbi Ber stand ruhig da mit auf den Boden gerichtetem Blicke, er dachte wohl selber an die prophetischen Worte seines Vaters, daß er berufen sei, Israel zu erleuchten, aber in welchem Sinne?! Dem Bru- der antworten wollte und konnte er nicht. Wozu denn auch? Ueberzeugen konnte er ihn doch nicht. „Wozu bin ich denn überhaupt hergekommen, fragte er sich. warum bin ich nicht gleich dorthin geeilt, wo mich keine lebende Seele je fände? Doch nein! Am Grabe meines Vaters will ich noch einmal beten, will dem todten Steine, der seinen Hügel bedeckt, mein Fühlen und Denken sagen! – – –

(Schluß folgt.)

Ausgabe 5 vom 03.02.1888, S.47f

I. (Schluß.)

Bitter lächelnd schüttelt er das greise Haupt, streckte seinem Bruder die Rechte entgegen und wollte gehen. Doch dieser ließ ihn nicht fort. „Ber“, sagte er bittend, „bleibe bei mir, schlafe hier, in demselben Hause, das noch der Geist unseres abgeschiedenen Vaters verklärt, Friede soll wieder einkehren in deinem Sinn und deine verirrte Seele von den Klauen Satans befreien! Bleibe hier“, wiederholte er und eine Thräne stahl sich von der Wimper und rieselte die bleiche Wange herab, um sich im langen, grauen Barte zu verlieren. Rabbi Ber, gerührt vom sichtbaren Schmerze seines von im heißbeliebten Bruders, ließ sich erweichen und blieb über Nacht, jedoch nicht ohne ihm zu betheuern, daß sein Entschluß ein fester, ein unerschütterlicher sei.

Mittlerweile hatte Reb Schmerl, der Gabbe, zunächst seinen Sadagoraer Amtcollegen, Reb Pinches und Reb Kalmen, dann jedem, den er nur kannte und antraf, die Absicht seines Gebieters verrathen. Von Mund zu Mund ging die schauerliche Mähr und war gar bald in ganze Sadagora verbreitet. Reb Schmerl dachte durch eine Masseneinwirkung von Seiten so Vieler auf seinen Herrn, diesen bewegen zu können, daß er seinen Plan denn doch aufgebe. Er hatte kurz vor der Abreise aus Rumänien seinem Sohne und dem Arzte aufgetragen, sofort die Geschichte zu verbreiten und die Rebezen, die Frau Rabbi Ber’s, zu veranlassen, augenblicklich nach Sadagora nachzukommen. Am Tage, der jener Auseinandersetzung zwischen den beiden Brüdern folgte, kam in der That die Rebezen, begleitet von einer zahllosen Schaar Chassidim, in Sadagora an. Da sah man viele verstörte Gesichter, aufgeregte Männer hin- und herlaufen, hastig mit einander discutiren; denn allen war der Schrecken in die Glieder gefahren, sie verloren fast die Besinnung. Rabbi Ber war am frühen Morgen auf den alten „guten Ort“ geeilt, hatte das von einem prächtigen Mausoläum überwölbte Grab Reb Srulze’s, seines Vaters, aufgesucht und mit bewegter Stimme die Worte gesprochen: „Vater, verzeih mir meinen Schritt, ich verlasse den Rabbinerstuhl, denn es widerspricht meiner innersten Ueberzeugung, noch ferner ein Amt zu verwalten, daß der liebe Gott unmöglich billigen kann! Nur Verblendung, Wahn, Trug sind die Stützen Deines und meines Thrones gewesen, und das Licht der Aufklärung, das über mich gekommen, hat jene Schatten verscheucht, und siehe da, mein Thron stürzte unter mir zusammen. Ich kann, ich mag ihn nicht wieder aufrichten, meine Seelenruhe will ich lieber bewahren und ein neues Leben, wenn anders dies noch lange dauern soll, beginnen. Verzeihung! Vergebung!“ Dann war er davongeeilt.

Die Bewegung im Hofe und in der Umgebung des Rabbi von Sadagora war Rabbi Ber nicht entgangen, zudem war der Verdacht gegen Reb Schmerl immer größer, er ahnte, man werde von seiner Heimat ihm bald nachfolgen, und da er allem Stürmen und Drängen ausweichen wollte, ja vielmehr, da er bei einer hochgradigen Erregung der Gemüter einen Gewaltact befürchtete, bestieg er, in seinen dichten Pelz gehüllt, am Marktplatze ein unscheinbares Fahrzeug und ließ sich unverzüglich nach Czernowitz führen. Hier war er gesonnen, sich zunächst nach einem Rechtsbeistand umzusehen, war ja die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß eine in Scene gesetzte Agitation die Einmengung der Gerichte zur Folge haben könnte, wenn, wie sein scharfer Verstand ihn ahnen ließ, er von den Chassidim für irrsinnig erklärt werden würde. Der Zufall führte ihn zu einem angesehenen jüdischen Advocaten, dem er sein Begehren kurz auseinandersetzte. Dieser, anfangs erstaunt, erkannte jedoch bald, daß er einen geistvollen, gebildeten, seiner Vernunft und Sinne durchaus mächtigen Menschen vor sich habe, erklärte sich bereit, ihm beizustehen und erbot sich, ihn sogar in Wohnung und gänzliche Verpflegung zu nehmen. Freudig nahm Rabbi Ber, der von nun an „Herr Friedmann“ (das war auch sein Familienname) genannt sein wollte, diesen Vorschlag an, richtete es sich im Hause des Advocaten recht behaglich ein, speiste an seinem Tische von den keineswegs rituell zubereiteten Speisen, was ihm auch ganz gut bekannt war, unterhielt sich mit den hübschen Töchtern des Doctors, ließ sich von ihnen vorspielen und vorsingen und beobachtete keinen einzigen Brauch, den fromme Juden üben.

In Czernowitz und in Sadagora und viele Meilen weit in der Runde war all das bekannt geworden. Die Chassadim geberdeten sich wie besessen; Die Einen bejammerten ihn, den Wahnsinnigen, den Satan überrumpelt, die Anderen fluchten ihm, daß es ein Graus war zuzuhören; einige Spitzköpfe wieder fanden sich, die lächelnd behaupteten, das sei gar nicht Rabbi Ber, sondern der Satan habe dessen Gestalt angenommen, indessen er selbst irgendwo im Geheimen mit Elia Hanowi lerne! Alle Versuche von Seiten des Sadagoraer „Hofes“, auf Rabbi Ber zu wirken, blieben erfolglos. Er wollte absolut keinen Juden im Kaftan empfangen, nur „Deutsche“ durften ihn besuchen und mit ihm sich unterhalten. Wochenlange bot der Platz vor dem Wohnhause des Advocaten, das merkwürdigste, aufregendste Schauspiel dar. Da standen Kopf an Kopf gedrängt Chassidim und Neugierige aus allen Gegenden der Windrose, laut redend und mit einander streitend, und wenn der Rabbi an der Seite des Advocaten eine Spazierfahrt im offenen Schlitten unternahm, folgten Hunderte fluchend dem Fahrzeug.

Rabbi Ber mochte nun mit der Zeit eingesehen haben, daß er denn doch ein wenig zu weit gegangen sei! Die erste Aufwallung seines Blutes hatte sich gelegt und allmählich einer kühleren Ueberlegung Platz gemacht; er wollte nun doch so viele errege Gemüther beruhigen und ließ in Sadagora verkünden, er wolle nunmehr hinkommen, dortselbst in großer Abgeschiedenheit leben, jedoch alle Vorschriften der jüdischen Religion, ja alle Sitten und Gebräuche aufs pünktlichste befolgen, sowie es einem Rabbi zieme, nur wolle er keiner mehr sein. Man möge ihn nicht mit Bitten und Klagen belästigten, man möge sich damit an seinen Bruder wenden, er werde Niemanden empfangen. Und so war es auch. Er zog nach Sadagora. Der Sturm hatte sich gelegt, Viele waren versöhnt, nur die strengen Fanatiker nicht; sie hörten zwar auf zu fluchen; doch wollten sie von ihm überhaupt nicht mehr wissen.

Er aber lebte in stiller Zurückgezogenheit, jedermann unsichtbar, las und lernte was ihm gefiel, bis an sein Lebensende, das wenige Jahre darauf erfolgte. Er ruht neben seinem Vater und sei- nem älteren Bruder, der ihn um mehr als zehn Jahre überlebt hat. –

Auf dem Throne in Sadagora aber sitzt gegenwärtig Reb Abraham Jankes’s Sohn, und ein zweiter Sohn desselben herrscht in einem anderen Marktflecken der Bukowina, zu Bojan; und noch immer ziehen Tausende und aber Tausende dorthin – – – – das „tempora mutantur“ kann sich dort keine Geltung verschaffen! Ob aber einmal doch? und wann? – – –