ANONYM: WIE MAN VERKOMMEN KANN
In: Dr. Bloch’s oesterreichische Wochenzeitschrift. Centralorgan für die gesammten Interessen des Judenthums 4 (1892), S. 70-71
Ich besuchte vor Jahren ein kleines Kaffehaus in der Umgegend der Börse wegen der billigen Tarife bei einer Menge fremder Blätter in demselben. Die Stammgäste dieses Lokales bilden ehemalige Börseaner, die in dem gefährlichen Strudel dieses so gleißnerischen Goldstromes untergegangen und sich doch von der Nähe der Stätte ihres einstigen Glückes nicht trennen können, wie Jeremias von den Trümmern Jerusalems, oder die jetzt von der Mildthätigkeit ihrer noch glücklich schwimmenden Collegen ihr Leben fristen. Denn wenn die so arg verleumdeten Börseaner auch für jeden Unglücklichen eine offene Hand haben, so herrscht unter ihnen für die Schiffbrüchigen ihrer einstigen Standesgenossen noch ein besonderes Solidaritätsgefühl, vielleicht, weil Jedem von ihnen dasselbe Schicksal vorschwebt und das Mitleid doch eigentlich nichts anderes ist, als das Sichversetzen in die Lage des Elenden.
Der genaue Beobachter kann bemerken, wie nach dem jedesmaligen Schluß der Börse jeder der Herren von seinem Leibarmen erwartet wird, dem er im Vorübergehen eine Spende reicht. Nicht selten sind dies Guldenzettel. –
Ein solcher Client eines Börsen-Patriziers schien mir auch ein Mann zu sein, dem ich fast täglich in dem in Rede stehenden Kaffehause am Lesetische in einer französischen oder englischen Zeitung vertieft, begegnete. Manchmal nahm er auch an den Debatten theil, die von den Gästen über die verschiedensten Materien geführt wurden und ich hatte Gelegenheit, sein reiches Wissen und sein richtiges Urtheil zu bewundern. Er war ungefähr ein Vierziger, sah immer bleich und verstört aus, aber ordentlich gekleidet, wie die Klasse der Gentleman-Proletarier.
Dann sah ich ihn wieder wochenlang nicht.
Eines Abends ging ich spät aus einer Vereinsversammlung in meine Wohnung in der oberen Donaustraße. Auf meinem Wege von der Augartenbrücke stieß ich auf einen menschlichen Körper. Ich erschrack, beugte mich zu ihm hinab und überzeugte mich, daß es nur ein Schwerbetrunkener war. Mit großer Mühe stellte ich ihn auf die Füße und erkannte in ihm meinen Tischgenossen aus dem Kaffehause. Aus Schonung seiner Ehre wollte ich ihn keinem Wachmanne übergeben, sondern führte ihn in meine Wohnung, wo ich ihm in einer Kammer, die mit altem Rumpelwerke gefüllt war, ein Lager bereitete, auf das er wie ein Klotz niederfiel. –
Es war gegen Mittag, als sich in der Kammer Etwas zu regen anfing. Als ich hineinsah, hatte mein Gast den Kopf unter der Decke hervorgestreckt und blickte mich verdutzt an, als könnte er sich nicht zurechtfinden. –
Endlich schien er sich doch über die Situation klar geworden zu sein, und seine bleichen Wangen färbten sich roth vor Scham.
Ich wies ihm an, wo er sich waschen und seine Kleider von dem Schmutz des Straßenpflasters reinigen könne. Nach einer halben Stunde trat er mit gesenkten Blicken vor mich hin und streckte mir die Rechte entgegen. Wie er jetzt gebürstet und gewaschen vor mir stand, sah er trotz seiner abgetragenen Kleidung wieder einem Gentleman ähnlich und ich schüttelte ihm, wie einem alten Bekannten die Hand,
„Verzeihen Sie, mein Herr“, sagte er, „die unangenehme Mühe, die ich Ihnen durch Ihre Güte bereitet habe„ – – –
„Nicht der Rede werth“, fiel ich ihm lachend ein, um ihm über die peinliche Entschuldigung hinwegzuhelfen. „Sie hatten wahrscheinlich gestern ein Malheur, das dem solidesten Manne zustossen kann, in Gesellschaft etwas zu tief in das Glas geguckt zu haben.“
„Leider trifft Ihre gütige Entschuldigung meiner Handlungsweise nicht zu. Es war gestern kein Ausnahmsfall.“
Ich sah ihn betroffen an und sagte: „Bei Ihrer Bildung und als Jude, der Sie doch sind, wie ich vermuthe?“
„Ich bin`s und bin`s doch wieder nicht; ich bin ein getaufter Jude.“
„Da haben Sie schnell eine nichtjüdische Sitte erlernt.“
„Von dem Zwiespalt mit mir, in den ich durch den Uebertritt gerieth, stammt mein ganzes Unglück. Dieser Schritt brennt mir auf der Seele, daß ich die Erinnerung an ihn am liebsten mit meinem Leben ersäufen möchte.“
Er war, während er sprach, meiner Einladung gefolgt und hatte sich neben mich auf einen Stuhl gesetzt. Er stützte den Kopf in die Hände und kraute mit den Fingerspitzen in den Haaren, wie Jemand, der seine Gedanken zu sammeln sucht.
„Ich bin wahnsinnig gewesen, Herr“, fing er plötzlich wieder erregt zu sprechen an, „wahnsinnig, denn ich könnte heute vermögend und glücklich sein, wenn ich nicht wahnsinnig gewesen wäre. Die Geschichte läßt sich kurz erzählen. Mein Vater war ein reicher Mann und ließ mich auf das Sorgfältigste erziehen und ausbilden. Es hätte gute Früchte tragen können, wenn ich nicht wahnsinnig gewesen wäre, mich in ein christliches Mädchen, zu verlieben, in ein armes christliches Mädchen, das nicht anders mein Weib werden wollte, als wenn ich mich taufen lasse.
Berauscht von der Sehnsucht, sie in meine Arme zu schließen, erfüllte ich ihre harte Bedingung, opferte für die Seligkeit ihres Besitzes meine Religion und schlug allen Zusammenhang mit meiner Familie in die Schanze.
Wäre ich von meinen reichen Eltern nicht verstossen worden, wir wären das glücklichste Paar unter der Sonne gewesen. Mein Verdienst reichte nicht aus, um ein Leben zu führen, wie es sich meine Frau an meiner Seite versprochen hatte und um dessentwillen sie sich eigentlich herabgelassen, einen Juden zu heiraten. Und da hatte die Christin bald Gelegenheit, ihren Mißmuth in dem niedrigen Geiste des Judenhasses zu zeigen, in welchem sie erzogen war.
Ich – ich hätte mich nur in ihrem Besitze auch dann glücklich gefühlt, wenn wir uns hätten miteinander durch das Leben betteln müssen; ich hätte die unablässig mich quälenden Gedanken des Verrathes, den ich an meiner Vergangenheit übte, mit Wollust bis zum Tode ertragen, wenn ich nur ihre Liebe besessen hätte. Sie aber, sie war von anderer Art. Die Neigung zu mir, die ich an dem Mädchen zu bemerken glaubte, schlug bei dem Weibe in das Gegenteil um. Sie haßte mich als Juden, sie warf mir bei jeder Gelegenheit den Juden vor, sie dichtete mir alle die Fehler an, die der Fanatismus des Judenhasses dem ganzen Stamm andichtet. –
Oft war es nicht zum Aushalten – aber ich trug es. Ich entschuldigte sie immer mit ihrer Erziehung, mit der Schwäche des Weibes, sich nicht beherrschen zu können. Und ich hatte mir ja mein Elend selbst zu danken; wenn ich Jemand anzuklagen hätte, dann wäre ich es – ich hätte es wissen sollen, daß der Judenhaß unüberwindlich ist, wenn der Jude auch das Muster aller Tugenden ist, wenn der Jude auch den Christen die erdenklichsten Opfer bringt, sich selbst für sie opfert.
Und am Ende sagte ich mir: Sie ist ja doch mein Weib. Ich hielt die Ehe mit ihr für heilig; sie betrachtete das Bündnis, das doch vor ihrem Altare, von ihrem Priester eingesegnet wurde, für ein Concubinat und Tag für Tag mußte ich die Klage anhören, sie sündige gegen ihren Gott, mit mir zu leben.
Ich ertrug Alles geduldig und stille und lange, so lange, bis der in mir aufgespeicherte Schmerz mich zur Verzweiflung trieb. Da verließ ich stille das Haus, schwemmte in einer Kneipe die erstickende Last hinunter und kehrte mit dem ersten Rausche in meinem Leben heim.
Nun, damit hatte ich erst recht Oel in`s Feuer gegossen. Was ich wegen dieses Rausches, zu dem sie mich wie zu einem Selbstmorde doch nur selbst getrieben hatte, ausstehen mußte, das war selbst für meine Geduld zu viel. Nun spielte sie sich auf die edle, arische Natur hinaus und ich, der Jude, war ein Trunkenbold vom Hause aus, denn alle Juden seien Säufer.
Mir graute vor dem Weibe – ich trank mir den zweiten Rausch; ich verzweifelte – und trank mir den dritten, den vierten, den fünften, kurz, ich betrank mich, so oft es über mich kam, daß ich mich nicht zu retten wußte. Ich war doch noch immer der Bessere von uns Beiden, denn ich wollte es aushalten, wie es auch ging.
Eines Tages packte sie aber unser einziges Kind und ging auf Nimmerwiedersehen. Ich liebte das Kind, während sie ihm nicht die geringste Neigung zeigte und es bei jeder kindlichen Unart „Juden-Bankert“ schalt. Ich verlangte mein Kind. Aber sie bewies vor Gericht, daß ich ein Trunkenbold sei und das Kind schlecht erziehen werde, und es wurde ihr zugesprochen.
Nun hatte ich noch den Schmerz um mein mir entrissenes Kind zu ersaufen und da ich mir mit meinen benebelten Sinnen auch in meinem kleinen Amte manche Unterlassung zu Schulden kommen ließ, wurde ich bald darauf entlassen und stand auf der Straße, ein armer verachteter Mann, verstossen von den Eltern, ohne Weib, ohne Kind, ohne Stellung, und – und – ohne Gott.
Später hörte ich, daß mein Weib von meinem früheren Chef soutenirt werde. Das war der letzte Schlag, der mir das Dasein eckel machte. Seitdem habe ich mein Leben gefristet, wie es eben ging, und wenn es meine Mittel erlauben – warum sollte ich läugnen? – suche ich meinem Herzen, meinem um seine Ideale betrogenen und von Erinnerungen gepeinigten Herzen auf diese Weise Ruhe zu schaffen, wie Sie dessen Zeuge gewesen sind.“
Er schwieg und barg sein Gesicht in die abgemagerten Hände; ich sah trotzdem, daß er weinte.
„Warum ich dieses elende Leben noch trage?“ sagte er aufschauend „o, nicht aus Feigheit; ich spekulire nur, wie ich sterbe, ohne unter den Symbolen begraben zu werden, unter denen ich mit meiner Frau getraut wurde. Im Tode will ich mit Juden vereint sein.“
Ob er diesen Wunsch erreicht hat?
Möglich.
Ich habe ihn seitdem nicht mehr gesehen.
Er kann in den Wellen der Donau den Tod gefunden haben und hinabgeschwemmt worden sein in die Tiefebene Ungarns, wo sein Leichnam als jüdischer agnoscirt, auf einem jüdischen Dorffriedhofe seine letzte Ruhe fand.