AUTOR*IN UNBEKANNT: AUF KEWER DWES (Aus meinen Erinnerungen.)

In: Dr. Bloch’s oesterreichische Wochenschrift. Centralorgan für die gesammten Interessen des Judenthums 48 (1891), 896-897.

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„Ich hatte auch an diesem, wie fast an jedem Abende, Gäste. Es waren damals noch keine Ressourcen in Galantha, und ich versammelte immer nach meinem mühsamen Schuldienste am Abende die jungen Leute, die zumeist gar keinen Unterricht genossen hatten, in meiner Wohnung und suchte ihnen unterhaltungsweise einiges Wissen beizubringen – eine von mir eingeführte zeitgemäße Reform des alten Schiur aber mehr nach Muster der griechischen Symposien, als der modernen Casinos. Die Kosten der geistigen Unterhaltung trug allerdings fast ich allein, aber für die materiellen Genüsse – Thee, Butter, Häringe, Obst, zuweilen noch Substanzielleres – sorgten Alle nach Art der englischen Picknicks. Ich bereitete mir den wissenschaftlichen Stoff der Unterhaltung niemals vor, sondern nahm ihn aus dem jeweiligen Gespräche über Tagesereignisse von Nah und Fern, denn ich hielt auch mehrere Blätter, die zur Lectüre vorlagen.

Von dem Zeitungsberichte über eine pompöse Leichenfeier in Wien nahm ich an diesem Abende Anlaß über die Zeichen der Pietät gegen Verstorbene bei den verschiedenen Völkern zu sprechen und kam dabei auf die uns Juden mehr als allen anderen heilige Sitte, die Gräber der Eltern zu besuchen. Ich merkte nicht, wie bei diesem Vortrage einer meiner Gäste erröthete und fand es auch nicht auffallend, daß er aufstand und hinaus ging. Kaum war aber die Thüre hinter ihm zu, sagte einer der jungen Leute: „Herr Oberlehrer, Sie haben aus Unkenntniß der hiesigen Verhältnisse bei . . . . einen wunden Punkt berührt. Er hat einen Onkel, der als schlechter Jude in der Welt herumirrt, die Eltern ins Grab brachte, und noch niemals auf Kewer-Dwes hier war.“ Beschämt über meine Unvorsichtigkeit, verließ ich diesen Gegenstand und ging zu einem andern über. Der junge Mann kam auch bald zurück und nahm seinen Platz wieder ein.

Wir waren diesmal etwas länger als sonst beisammen, und als meine Gäste endlich nach Hause gingen, nickte ich, müde in meinen Lehnstuhl zurückgesunken, ein wenig ein und begann leicht zu träumen. Ich hatte nicht lange so gesessen, als ich durch ein Klopfen an eines meiner Fenster aus dem Halbschlummer emporgeschreckt wurde. Schlaftrunken erkannte ich doch sofort Mandel Baß, der mehrere Aemter in der Gemeinde kumulirte, das eine, das sein Name andeutet, dann war er Schulklopfer Liderer[1] und Schlafstattvater[2]. Nachdem ich einen Fensterflügel geöffnet hatte, brachte er unter tausend Entschuldigungen vor: Es sei bei ihm ein Armer schwer krank; der Doktor wäre schwer zu einer Nachtvisite zu bewegen, mir jedoch würde er gewiß folgen, ich möge daher zu ihm gehen. Ich besann mich auch nicht lange, und ehe eine Viertelstunde verging, stand ich mit dem Doktor, der ein menschenfreundlicher Herr war, nur weil der Arzt bei Juden wegen unglaublicher Kleinigkeiten oft in seiner nächtlichen Ruhe gestört wird, nicht selten einem Rufe in der Nacht keine Folge leistete, vor dem Lager des Kranken in der Schlafstatt. Die Diagnose war nicht schwer zu stellen. Der Patient war ein Schwindsüchtiger im letzten Stadium. Er starrte uns mit seinen glühenden Augen an, ohne sich unserer Anwesenheit bewußt zu werden. Mitleidig betrachtete ich den Armen. Es war ein feingeschnittenes Antlitz auf welches der herannahende Tod seine Schatten warf. Ich wußte nicht recht, warum ich immer wieder den Blick darauf heften mußte. Fast schien es mir, als käme er mir bekannt vor. Dann durchzuckte mich plötzlich eine Ahnung – das röthliche Kopfhaar untrüglich – er ist`s – mein ehemaliger Studien- und Quartiergenosse auf der Preßburger Jeschiwah.

„Kennen Sie den Kranken da?“ fragte mich der Arzt leise, als er meine Aufregung merkte.

„Ob ich ihn kenne!“ sagte ich schmerzerfüllt, und ohne daß ich es beabsichtigte, entfuhr mir sein Spitzname unter den Kollegen.

„Radag!“[3] rief ich.

Der Kranke riß die Augen auf, starrte mich entsetzt an und streckte wie abwehrend die Hände aus. Er schien das Bewußtsein wieder erlangt und auch mich erkannt zu haben, und vom Gefühl der Scham überwältigt, barg er schluchzend das welke Gesicht in den Kissen.

Der Arzt ging, nachdem er seine Verordnung gegeben, wieder weg; ich aber saß bei dem Kranken und ließ mir erzählen, wie er hieher gekommen. Es war eine traurige Geschichte, die mir umsomehr in`s Herz schnitt, als der Erzähler zuweilen in einem bitteren Humor verfiel, der deutlich seinen seelischen Zustand verrieth.

Roth David Galantha war ein ausgezeichnet guter Kopf, aber durch und durch Skeptiker. Er machte mit die Wandlung vom Bachur zum Studenten, aber er studierte ziel- und planlos, so daß er sich eigentlich für gar keinen Beruf ausbildete. Die Noth drängte ihn Privatlehrer zu werden und er mußte von Halbjahr zu Halbjahr seinen Posten wechseln. Anfangs war er überall wegen seines reichen Wissens geschätzt, aber man wurde bald seiner überdrüssig, als man seine gottesläugnerischen Ideen erfuhr, die er gar nicht zurückzuhalten sich bestrebte. Mit dem Glauben an Gott verlor er auch den Glauben an die Menschen. Mit seinen pessimistischen Anschaungen gar nicht hinterm Berg haltend, machte er sich bei Allen verhaßt, selbst bei denen, die tolerant gegen seine religiösen Ansichten und sein gottloses Leben waren. Und als er kein Haus mehr fand, das ihm die Kinder anvertraute, warf er sich auf die Schriftstellerei. Er ließ von Zeit zu Zeit ein Buch oder eine Broschüre, in hebräischer oder deutscher Sprache erscheinen, bald theologischen, bald sozialen Inhaltes, worin er seine Gedanken über Gott und Welt in einer zwar weniger drastischen Weise, als er es im Gespräche that, aber ebenso frei und offen entwickelte. Und mit diesen Schriften wanderte er von Ort zu Ort, sie Rabbinern, katholischen Geistlichen oder protestantischen Pastoren, jüdischen oder christlichen Literaturfreunden zum Kaufe anbietend. Wo er merkte, daß man ihm mehr aus Mitleid als aus Werthschätzung seiner Arbeit etwas geben wollte nahm er`s nicht an, und er trotzte auch überall, wohin er kam, dem gesellschaftlichen und religiösen Herkommen, damit ja kein Mitleid für ihn aufkommen sollte.

Auch dieses unstäten Lebens müde und von der Literatur als Broterwerb angeeckelt, wollte er sich in der Hauptstadt ständig niederlassen und durch Stundengeben sein Leben fristen, allein da er für kein bestimmtes Fach-Zeugnis besaß, wurde er überall, wo er sich offerirte, in höflichster Form zurückgewiesen. Es gibt in der Großstadt ein geistiges Proletariat, das von heute auf morgen nicht zu leben hat, in der Früh aufsteht, ohne zu wissen, wo es die paar Kreuzer für ein Mittagmal hernehmen wird, – und doch lebt. Es gibt sich wie die Eckensteher zu jeder Beschäftigung her, und man weiß es aufzusuchen. Heute bestellt der Herausgeber eines Winkelblättchens einen gepfefferten Artikel bei ihm, morgen läßt sich ein Advokat eine mehr Phrasen erforderliche Satzschrift von ihm ausfertigen, und übermorgen hat er einen warmen Liebesbrief für einen Commis zu schreiben, u. ä. So lebt der mit dem Tode ringende seit zehn Jahren in dem von den Leidenschaften des Erwerbens und Genießens fortwährend gepeitschten Menschengewoge der Residenz.

„Seit zehn Jahren“, sagte er, mich bei meinen Namen nennend, „habe ich keine zwei Tage hintereinander ohne Sorge um Brot gelebt“ ist`s da ein Wunder, wenn man bei der kräftigsten Constitution den Todeskeim empfängt und sich auch mit den Todesgedanken vertraut macht. „Ich habe seit Jahren jede Lebenslust aufgegeben. Nur ein brennendes Verlangen hatte ich, wirst Du es glauben? Ich kann mirs ja bei meiner Religionslosigkeit selbst nicht erklären – nur einmal auf Kewerdwes zu gehen und mich so herzlich auszuweinen. Jeden Frühling nahm ich mirs vor und niemals konnte ich es ausführen, weil mir die paar Gulden dazu fehlten. Aber dieser Tage konnte ich dem so heißen Verlangen nicht widerstehen. Ich machte mich mit zehn Kreuzern in der Tasche auf den Weg hieher. Heute kam ich hier an, aber ich habe eine Dummheit begangen, ich hätte von der Landstraße aus sofort auf den Friedhof gehen sollen“ – – –

Tief ergriffen hatte ich ihm zugehört. Aber jetzt hieß es handeln. Viel zu thun war freilich nicht mehr für den Armen, jedoch seine letzten Stunden zu erleichtern, erschien mir als heilige Pflicht. Ich ordnete das Nothwendigste an und redete ihm gut zu, es könne ja noch Alles besser werden, er solle nur den Muth nicht sinken lassen.

Er sah mich mit großen Augen an, als wollte er sagen: „Mach mir nichts vor, ich weiß, woran ich bin.“

Ich sagte ihm zu, am nächsten Morgen wieder zu kommen und seine Uebersiedlung an einen geeigneteren Orte zu bewerkstelligen.

„Ja, an den „Guten Ort,“ lächelte er, und drückte mir zum Abschiede die Hand.

Am nächsten Morgen noch vor dem „Schulklopfen“ eilte ich zu dem Kranken. Als mich Mandel Baß, der eben im Begriffe, mit dem Hammer in der Hand seine Runde durch die Gasse anzutreten, erblickte, winkte er mir leise:

„Er schläft“ sagte er.

Ich trat zum Bette hin. Allerdings schlief er, aber es war der ewige Schlaf, von welchem es kein Erwachen gibt. Friede lag auf dem Gesichte; er mußte ohne Kampf verschieden sein.

„Legen Sie den Hammer aus der Hand,“ sagte ich zu Mandel, „Sie müssen schulrufen, der Arme ist todt.“

Am nächsten Tage gaben wir ihm das letzte Geleite. Ich sage wir, denn es wohnte die ganze Gemeinde dem Leichenbegängnisse bei.

Mit Erlaubniß des Vorstandes der Chewra Kadischa durfte ich am offenen Grabe einige Worte sprechen. Es war eine Fortsetzung meines Vortrages vom vorletzten Abend vor meinen Gästen und kulminirte in dem Leben des Todten der da starb in der süßen Pflichterfüllung des Besuches auf Kewer-Dwes.


[1] Diener der Chewra Kadischa

[2] Die Schlafstatt war eine Gemeindeanstalt zur Beherbergung durchreisender Armer.

[3] Bei den 600 bis 700 Bachurum der Jeschiwah waren viele gleichen Namens, um sie von einander zu unterscheiden, setzte man zu den Namen noch Heimatsort und ein anderes Attribut und verband der Kürze halber die Anfangsbuchstaben aller drei zu einem Wort, das desto ironisirender war, jemehr es an einem bekannten literarischen Namen anklang; so bedeutete R. d. g.: Roth David Galantha.