HOEFLICH, EUGEN: ELSE LASKER-SCHÜLER. (NOTIZEN ZU IHREN BÜCHERN.)
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Aus: Wiener Morgenzeitung, Nr. 472, 2. Jahrgang
Wien, Sonntag, den 16. Mai 1920, S. 3–4.
Der Paul Cassirer-Verlag veranstaltet eine Neuausgabe ihrer Bücher. Die erste Hälfte liegt bereits vor.1 Versehen mit den bizarren Zeichnungen der Autorin, mit den beim ersten Ansehen kindlichen, nervösen, ist es ein dankenswertes Unternehmen, die in verschiedenen Verlagen verstreuten Schriften zu sammeln. Die lyrischen Gedichte fehlen einstweilen. Und auf die kommt es ja an, wenn man von der Else Lasker-Schüler spricht. (Man muß sich die Lektüre ihrer Bücher einteilen. Allenfalls darf man sie nicht schnell hintereinander lesen, wie man von den Gedichten höchstens zwei, drei an einem Tage lesen darf.)
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Es ist wohl ein tragisches Schicksal, das der jüdischen Künstler, die in nichtjüdischer Umgebung und in nichtjüdischen Sprachen schaffen, tragisch das Geschick der Künstler, in denen die Kontinuität der seelischen Entwicklung abgerissen ist, die nicht mehr aus dem Wissen, nicht aus den Gefühlselementen schaffen, die ihren Vorfahren gemein waren. In manchen aber wird ein Instinkt des Blutes stark, der sie trotz abgerissener völkischer Entwicklung, trotz ihrer äußerlichen, durch das Milieu bedingten Entfremdung vom Volke, zu jüdischen Künstlern macht. Dem Europäer ein seltener, flimmernder, exotischer Vogel, dem im Judentum aufgezogenen Juden aber etwas Fremdes, Unverständliches, wird er weder hier noch dort heimatberichtigt aufgenommen – und dennoch blickt „sein verwandertes Gesicht“ nach dem Osten. Else Lasker-Schüler, eine Zeile nur aus ihren Büchern ist jüdischer als das ganze Werk aller, die von Parteien zu jüdischen Dichtern ernannt werden. Sie ist Jüdin und Dichterin.
Sie ist Jüdin, orientalischer Mensch. Stets bereit, sich hinzugeben dem Gefühl des Augenblicks, stets innerlich, voll feierlicher Demut, beschaulich, gar nicht betriebsam. Dem farbenfrohen Schmetterling eines Augenblicks nachjagen ist weit wichtiger, als Brot suchen für den nächsten Tag. (Und so ist das Leben dieser Frau, über das so viel Dummes gesprochen wird, zu verstehen – unverständlich dem Pfahlbürger dieser und jener Konfession – aber gar nahe denen, die aus der Grauheit eines fremden, erzwungenen Lebens nach den phantastisch schönen Sternen der Wüstenhimmel in ganz großer Sehnsucht greifen wollen. Sie ist orientalisch, uneuropäisch. Sie ist – mit europäischen Maßen gemessen – unerhört naiv, infantil, das heißt: fern aller geheuchelten Objektivität, gibt sie sich schrankenlos dem hin, das ihr schön scheint und gut, und versteht die Dinge nicht auf ihre Zweckmäßigkeit zu prüfen. Wie in Europa eben nur Kinder sind. Aus dieser Haltung sind die sprunghaften Gedankenassoziationen zu erklären. Orientalischer Geist unter Einfluß wesensfremden Klimas, leise Auswirkungen einer Ahnenkette, die anders lebte, als sie hätte leben sollen, ein Stück heißerer Erotik als in den Menschen dieses Klimas, weiter nichts. Irgendein Psychoanalytiker wird die Sache zwar nicht so unkompliziert laufen lassen und irgendein literarhistorischer Wegelagerer wird den Fall schon durcheinanderanalysieren, ich aber bleibe dabei: Diese Psyche darf nicht mit europäischen Maßen gemessen werden.)
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Ihre Bücher sind in der Ichform geschrieben. Ob sie aber nun der Prinz von Theben ist oder Tino von Bagdad, ist sie stets die verwanderte Prinzessin aus Jehuda, hier genannt Else Lasker-Schüler. Oft unartig – nach landläufigen Begriffen – kapriziös auch mitunter, immer aber von orientalischen Bewegungen geleitet. Fremd stets im fremden Europa, selbst wenn sie ein Peter Hille-Buch im mittelalterlich-deutschen Legendenstil schreibt. Stets ist ihr der Orient mehr als Geographie, ein Stück ihres Lebens, ihr ganzes Leben eigentlich, denn ihr träumendes Leben ist ja ihr eigentliches. Schrankenloser, buntblütiger Traum, die einzige Möglichkeit, in die vergangenen Geschlechter wieder einzugehen, die notwendige Kontinuität wiederherzustellen mit den Geschlechtern, von denen abzustammen ihr ungeheurer Stolz ist.
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Sie lebt in der Bibel. Ihre Gebärde ist biblisch (mitunter vielleicht willkürlich verstärkt oder gar Pose), manchmal nur Form, meist aber Inhalt. Zeit und Raum rinnen ihr ineinander. Menschen des Abendlandes, lieb ihr im Andenken, werden kühn in die morgenländische Handlung versetzt, ehrwürdiges Altertum wird in diese Tage heraufgeschoben, ein moderner Berliner Dichter wird Held eines Kampfes um Theben, das gleich neben Persien liegt (der Orient ist ihr keine Geographie, sondern ein lebenerfüllendes Gefühl) und der junge Herzog Albert von Leipzig eilt im Flugzeug in die Stadt der wilden Juden. (Eine höchst subjektive Legendenbildung, unbewußt aus dem orientalischen Drang zur Phantastik, drängt Zeit und Raum zusammen.) Alles wird Symbol: Personen, Gestalten, Geräusche, Berg, Wind und Baum. Das große, ungelöste Gefühl, das nur in einem riesigen, unartikulierten Schrei seine Lösung finden könnte, wird, der Not des Wortes gehorchend, in Symbole gepreßt.
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Die Sprache ist ihr feierlich-frohes, unerhört bildhaftes (eben orientalisches) Darstellungsmittel. So muß es zum Kampf mit der Unzulänglichkeit der Sprache kommen. Aus dem Klang eines Gefühls ein Wort bilden ist nicht leicht. Neue, mitunter bizarre Wortbildungen müssen entstehen und der Stil muß die Fessel der Grammatik abwerfen. Das Wort wird in seiner tiefsten Bedeutung ausgeschöpft. Ihr Stil ist manchmal ein Aufjauchzen, ein tiefer, in Worte nicht übersetzbarer Schrei – schaudernd wendet sich der Literaturprofessor ab, denn er findet das Wort in keinem Verzeichnis und das Satzgefüge spottet seiner Grammatik. Die Bücher Else Lasker-Schülers darf nur der lesen, der bereit ist, zu Gefühlen und zu inneren Erlebnissen sich führen zu lassen. Dem, der am Worte haften bleibt, kann sie nichts geben.
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Eine wunderbar kindliche Sorglosigkeit strömt aus einem ganz lichten, aus einem reinen, religiösen Gefühl, wie aus einem ruhigen, frommen Sonnentag. Wenn ich die Lasker-Schüler lese, sonderlich bei manchen leise wehmütigen Stellen aus den Gedichten, muß ich an Zarathustra denken. Das wilde Judenbuch aber, „Der Malik“, persönliche Angelegenheit zu wichtigem Ereignis versponnen, hat oft unglaubliche Kraft in sich. Die „Essays“ sind persönliche Randbemerkungen zu Künstlern dieser Tage, so persönliche, daß sie menschlich werden. „Tino von Bagdad“ ist ein einziges großes Gedicht, das eine jüdische Frau in dunkelblauem, langwallendem Kleide in einem sonnedurchleuchteten feierlichen Saale vortragen sollte.
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Else Lasker-Schüler ist die letzte Romantikerin dieser Tage oder die erste einer neuen, wieder nach phantastischer, romantischer, gar nicht betriebsamer Zeit sich sehnenden Menschheit. Sie ist eine wertvolle jüdische Dichterin, zu sensitiv und persönlich aber, um je als Parteidichterin proklamiert zu werden, und darum wird sie keine echten Epigonen haben in einer Zeit, die für den Erfolg dichtet.
Man müßte vieles von ihr ins Hebräische übersetzen. Dazu müßte aber erst ein kongenialer Nachdichter gefunden werden.