SALTEN, FELIX: DAS THEATER UND DIE JUDEN (I.1)

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In: Die Welt, 17.2.1899, S. 14-15

Tran-skription

Die Leute, welche zum Zwecke ihrer agitatorischen Statistik alle jüdischen Schauspieler und Autoren verbuchen und beständig über die Verjudung des Theaters Klage führen, werden nicht widersprechen können, wenn man den Juden einen beträchtlichen Antheil ab der heutigen Lebendigkeit des Bühnenwesens zuspricht. Eigentlich müssen diese Leute noch mehr davon wissen als wir Juden, da wir nicht so aufpassen. Die Schaubühne ist im Grunde eine Angelegenheit des Temperaments. Zuhören ist eine Temperamentsäußerung, wie Theaterspielen und Stückeschreiben. Inwieferne die Juden durch ihre Veranlagung und durch eigenthümliche Begabungen sich zum Theater activ und passiv hingezogen fühlen, möchte ich heute nicht erörtern. Es wäre vieles darüber zu sagen, und die Gelegenheit dazu findet sich wohl bald. Auch die Frage, wie viele oder wie wenig Verdienste sie sich um die Schauspielkunst erworben haben, lasse ich einstweilen unberührt. Ich will nur bekräftigen, was die Antisemiten behaupten: jawohl, die Juden gehen fleißiger und eifriger ins Theater als andere Leute; die Juden schreiben Stücke, componieren Opern, und einige von ihnen sind dadurch sogar berühmt geworden; sie sind Schauspieler, manchmal sogar große Schauspieler, Directoren, Dirigenten, kurz alles Mögliche. Das ist nun einmal nicht zu leugnen. Man muss sogar zugestehen, dass es den Juden beim Theater sogar besser ergangen ist als in anderen Berufszweigen. Ihre Abkunft und ihre Religion hat hier ihre Carriere selten behindert, sie konnten – immer alle sonst erforderlichen Qualitäten vorausgesetzt – zu den höchsten äußeren Ehren dieses Berufs gelangen. Beispiele braucht man nicht anzuführen. 

            Heute beginnt das schon schwieriger zu werden. Wenn man ein bisschen nachdenkt, muss es einem auffallen, dass in den letzten fünfzehn Jahren kein jüdischer Schauspieler so recht in die Höhe gekommen ist, wie früher. Die Autoren allerdings haben inzwischen bessere Tage gesehen, aber diese hängen ja zumeist von spontanen Volksbeschlüssen ab. Im internen Bühnenleben jedoch haben die Juden in der letzten Zeit mehr und mehr zu kämpfen. Die einfache Umfrage bei den Theateragenturen würde den Unterschied ergeben, um wie vieles leichter jüdische Schauspieler ehemals zu placieren waren. Man könnte bei dieser Gelegenheit erfahren, dass es zahlreiche Städte gibt, deren Theaterdirectoren das Engagement jüdischer Schauspieler von vornherein refusieren, theils mit Rücksicht auf die Gesinnung der Bevölkerung, theils auch wegen ihrer persönlichen Abneigung gegen die Juden. Ferner würde man hören, wie viele jüdische Schauspieler schon am Beginne ihrer Carriere auf Zureden des Agenten ihren Glauben wechseln, um soviel als möglich von den Folgen dieses Geburtsfehlers befreit zu sein. Der Antisemitismus beim Theater ist eben nicht mehr neu. Vielleicht ist er älter als die politisch organisierte Judenfeindschaft. Er datiert genau von da an, wo die Juden ihre ersten großen Bühnenerfolge hatten, als „die Verjudung des Theaters begann“, wie der Parteijargon sagen würde.

            Wie nirgendwo sonst herrscht beim Theater ein beweglicher, durch Neid, Ehrgeiz und Eitelkeit angefeuerter Wettbewerb der Talente. Dass man die Juden hinter den Coulissen so bitter hasst, ist vielleicht das größte Compliment, welches ihren Fähigkeiten gemacht werden kann. Aber der Antisemitismus beim Theater ist auch intensiv, erbittert und wüthend, wie nirgends sonstwo. Nicht allein, weil man dort leidenschaftlicher empfindet, sondern weil man ihn zu verheimlichen vielfacht genöthigt ist. Es spielen da allerlei Rücksichten mit, auf das Publicum, die Presse und andere wichtige Factoren. Die jüdischen Theater-Enthusiasten würden erschrecken, wenn man ihnen unter den Künstlern diejenigen nennen wollte, welche als Antisemiten excellieren. Und die jüdischen Banquiers, die sich darum reißen, beliebte Schauspieler zu bewirten und mit Geschenken überhäufen zu dürfen, die sich nicht genug thun können, ihre Lieblinge vom Theater auf das Freigebigste aus allerlei Nöthen zu erlösen, wären entsetzt, wenn sie ihre Schauspieler einmal untereinander könnten reden hören.

            Jetzt aber beginnen auch beim Theater die Zeiten, in welchen der Antisemitismus unverhohlener hervortritt. Man schickt sich auch hier an, die Juden ganz offenkundig und programmmäßig zu unterdrücken. Die Hintertreppen-Intrigue, die einstmals zu solchen Zwecken verwendet wurde, ist jetzt überflüssig geworden. Man kann aus dem Vollen schöpfen, man kann System in die Sache bringen. Dass der Anfang hierzu in Wien gemacht wurde, ist bekannt. Der wichtigste Programmpunkt des jüngsten Wiener Theaters ist die vollständige „Judenreinheit“. Aber aus geschäftlichen Rücksichten wird dieses Princip nicht ausgesprochen, vielmehr, wo es der Vortheil erheischt, unter der Hand, ganz im Vertrauen, geleugnet. Auch verlangt man von den Juden, die sich etwa zur schauspielerischen Mitarbeiterschaft anbieten, nur, dass sie sich taufen lassen. Den Autoren würde man auch gestatten, ungetauft vor die Rampen zu treten. Da ist denn ein Beschluss, welchen der Grazer Gemeinderath dieser Tage fasste, bemerkenswert. Dem neuen Pächter wurde aufgetragen, seine „arische Abstammung“ nachzuweisen, bevor er die Direction des Grazer Stadttheaters antrete. Wie sorgfältig die Grazer unter den Pachtbewerbern Musterung hielten, wie vorsichtig sie waren, zeigt, dass während der Sitzung Telegramme einliefern, in welchen der Gemeinderath verständigt wurde, dass der oder jener Petent Jude sei, worauf der der oder jener Petent sofort außer Betracht gestellt wurde. Die Ahnenprobe, welche die Stadt Graz von ihrem Theaterdirector fordert, hat natürlich einen etwas komischen Beigeschmack. Allein eine gewisse symptomatische Bedeutung kann man ihr nicht absprechen. Der Jude soll von jeglichem Antheile an irgendeiner Culturarbeit ausgeschlossen werden, auch der Sohn eines Juden, selbst der Enkel eines Juden, vielleicht auch der Neffe oder Vetter eines Juden. Man muss von reinster arischer Abkunft sein, wenn man ein Theater leiten will – in Graz vorläufig. Interessant bleibt es, dass der Antisemitismus in künstlerischen Angelegenheiten stark genug werden konnte, um die Frage // nach dem Talente völlig in den Hintergrund zu drängen. Man muss constatieren, dass es dem Juden absolut nichts nützt, Talent zu besitzen. Er kann ein Genie ersten Ranges sein und wird beim Theater nichts erreichen – in Graz vorläufig. Vorläufig allerdings nur in Graz. Die jüdischen Talente brauchen ja nicht nach Graz zu gehen, das ist wahr. Kommt es einmal auch in Wien so weit, dann können sie ja auch aus Wien auswandern. Je größer aber der Complex der Kunstsperre für die Juden wird, desto lebhafter wird dann die Frage für sie werden, wie sie sich aus diesem neuen Ghetto zu befreien haben. Man kann sie ausschließen von allen Gedankenarbeiten und von allem Kunstschaffen, aber weil man ihnen den Antrieb und die Fähigkeiten hierzu schließlich doch nicht nehmen kann, werden sie sich unmöglich in aufgezwungener Unthätigkeit bescheiden können. Wie dann die Expansivkraft ihrer Triebe sie aus den localen geistigen Fesseln einmal herausschleudern wird und wohin sie sich wenden werden, um ihre culturellen Instincte ausleben zu können, ist ein fesselnder Zukunftsgedanke. Vielleicht werden sie Graz im Gedächtnis behalten, wo das jüdische Talent bestraft wird bis ins vierte und fünfte Glied, als den Ort, der zuerst an Stelle des Befähigungsnachweises in künstlerischen Dingen die Ahnenprobe begehrte.