WELTSCH, FELIX: JÜDISCHE KUNST
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In: Selbstwehr, 19. Jahrgang, Ausgabe 21 vom 22.05.1925, S. 2
[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]
Kunst ist Gefühlsgestaltung; im weitesten Sinne stets Expressionismus; Gestaltung der tiefsten Schicht der menschlichen Seele in einem bestimmten Material, in Worten, Tönen, Geschehnissen, Farben, Bewegungen. In dieses Material werden die Gefühle transponiert, sie werden gleichsam abgebildet, in Wahrheit neu gebildet, denn durch die Gestalt werden sie erst eine Einheit, ein Ganzes, unteilbar, gemeinsame, soziale Wirklichkeit.
Zwei Urkräfte sind am Werk: die primäre Kraft des Erlebens, die Intensität des Gefühls, die zum Ausdruck drängt, ins Weite geht, auseinanderzuströmen droht, und die Gegenkraft des Einheitsstrebens, welche formt, Ganzheit schafft und so den Ausdruck erst ermöglicht. Aus dem Kampfe der beiden Gegenkräfte, der Ausdrucksbegierde, dem Ausdruckstaumel und dem formenden, hemmenden, herrschsüchtigen Einheitswillen entsteht erst die Kunstgestalt.
Es sind Gegenkräfte; aber die eine kann ohne die andere nicht leben. Sie bekämpfen einander und sie brauchen einander. Ja schließlich ist jede eigentliches Betätigungsmaterial der anderen. Die Formtendenz ist die Gegenkraft, in welcher der Ausdruckswille seine Kraft erprobt, sie ist der Widerstand, den er bracht, wenn er Wirklichkeit werden will. Die Intensität des Erlebnisses müßte verpuffen, wenn sie sich nicht die Gegenkraft des Form- und Einheitswillens willig-unwillig schüfe; und der Einheitswille wäre eine starre, leere und schwächliche Tendenz, wenn er nicht vom Ausdruckswillen stets bedroht und gespannt würde.
Diese beiden Urkräfte befinden sich nicht in stetem Gleichgewicht. Es gibt Menschen, Völker und Kunstperioden, wo die Ausdruckstendenz stärker ist und solche, wo der Formwille mächtiger ist. Keine der beiden Kräfte darf fehlen, wenn Kunst werden soll, aber ein kleines Mehr oder Minder kann es geben. Und so entsteht, wo der Formwille überwiegt, die klassische, die naive, die objektive Kunst, die Kunst des edlen Maßes und der beherrschenden Form, und auf der anderen Seite die sentimentale, romantische, expressionistische, aber auch impressionistische Kunst, wo die Ausdrucksbegierde den Formwillen überwältigt.
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Es ist gewiß keine leichte Aufgabe, zu entscheiden, ob man überhaupt von einer spezifisch jüdischen Kunst reden darf und zu erfassen, was das Spezifische an ihr ist. Wollte man aber bloß eine beiläufige Einreihung in die beiden Grundkategorien versuchen, so liegt es so ziemlich auf der Hand, die Juden zu den Expressionisten im weitesten Sinne zu rechnen – etwa im Gegensatze zu den Griechen, welche die Formkünstler par excellence waren. Nicht maßvoll, nicht edel, nicht zierlich ist die jüdische Kunst, wo man ihr spezifisch begegnet, sondern bewegt, gewagt, stark, zum Aeußersten strebend, exzentrisch, phantastisch.
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Es ist hier nicht der Ort, die Gedanken gründlicher und weiter auszuführen. Sie sollten nur eine allgemeine Einleitung zu folgenden zwei Notizen sein. Wenn wir hier zwei Künstler aus ganz verschiednen Gebieten und von verschiedenem Niveau nacheinander besprechen, so ist es gerade jenes Gemeinsame, zu dessen Erfassung wir vorstehende Zeilen schrieben.
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In der Kunstausstellung im Parlamentsgebäude stellt der jüdische palästinensische Maler Abel Pann seine Werke aus. Wir haben bereits zweimal über dieses Ereignis, das immerhin in der Prager jüdischen Welt weit mehr Interesse finden sollte, als dies der Fall ist, berichtet. Betrachtet man die große Reihe der Pannschen Pastelle zur Bibel, so merkt man gleich: das ist nicht die Malerei, die heute Mode ist; aber es ist auch nicht die Malerei, die an der Stelle steht, wo heute in der Malkunst um neue Wege des Ausdrucks gerungen wird. Sie schließt offenbar an eine Zeit und an eine Praxis an, die heute als längst überwunden gilt. Und doch sieht man in diesen Bildern eine ungeheuere Kraft des Ausdrucks. Man kann die Bilder als literarische Malerei klassifizieren. Ihr Ausdrucksmittel ist nicht so sehr der Raum und die Raumform als Handlung und Geschehen. Für die heutige Malerei ist das Sujet ein bloß neutraler Vermittler zwischen Gefühl und Raumgestaltung; hier nimmt es eine beherrschende Stellung ein; hier ist es Hauptmittel der Gestaltung. Vielleicht fühlt dies mancher heute als eine Mischkategorie, als eine Zwischenstufe zwischen Literatur und Malerei; ein Einwand gegen Panns Kunst scheint mir das nicht zu sein. Sein Hauptausdrucksmittel ist die Farbe; und ist dies hemmungslos, wahrhaftig nicht maßvoll, überströmend und unbedenklich. Es ist ungeheuer viel Leben in diesen Farbensymphonien um Bibelzitate herum; die Bilder machen irgendwie nicht ganz den Eindruck des Bleibenden, Festen, sondern des Hinübergehenden, Weiterdrängenden. Rudolf Fuchs hat in einer kritischen Betrachtung den Vorwurf gemacht, daß diese Bilder nicht für sich allein bestehen könnten, daß sie nicht Bilder, sondern Illustrationen seien. Vielleicht: doch sag’ ich nicht, daß dies ein Fehler sei. Ich möchte noch weitergehen: Nicht nur, daß die Bilder zu ihrer vollen Existenz die Bibel brauchen; sie brauchen auch einander selbst. Sie werden durch ihre Geschwister erhöht und vervollständigt. Große Kunst im besten Sinne ist nicht so sehr das einzelne Bild, als das ganze Malunternehmen, wie es uns die Ausstellung – imponierend und doch noch lange nicht vollendet – zeigt: ein Gesamtillustrationswerk der Bibel, ein farbiger Phantasietraum von der Bibel.
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Zwei jüdische Tänzerinnen, Grtrud Kraus und Guilp. Delp, veranstalteten in der vorigen Woche einen eigenen Tanzabend, in dem sie ihre Kunst zu zeigen versuchten. Tanz – als Kunst – ist Aus- druckskunst im stärksten Sinn. Seine Ausdrucksmittel sind die Bewegungen des eigenen Körpers.– Und auch hier gilt von Form und Ausdruck, und von jüdischer Kunst das, was einleitend gesagt worden ist
Gertrud Kraus ist eine jüdische Tänzerin. Sie ist aus dem Wiener Makkabi hervorgegangen. Was sie – und ihre Partnerin leistet – ist wahre Kunst und man kann es vielleicht trotz aller Bedenken sagen, – jüdische Kunst. Denn auch hier ist eine heftige Begierde des Ausdrucks zu verspüren, welche die in der Tanzkunst vielleicht allzu starren Formen sprengt und neue phantastische Wege sucht. Die Tanzkunst ist heute noch keine selbständige Kunst; sie ist verschwistert mit der Musik, lehnt sich an die Musik an und wagt nur Gefühle auszudrücken, welche bereits durch die Musik eine Form gewonnen haben. Die Intimität, mit der sich die Tänzerinnen an die musikalische Form anschmiegten, sowie der Versuch, durch diesen engsten Anschluß an die Musik neue Formen der Tanzexpression zu finden, boten einen wahren Kunstgenuß; – der freilich nur einer kleinen Schar von Anwesenden zugute kam. Eine Tanzvorführung jüdischer Tänzerinnen um 6 Uhr in der Alhambra ist für das Prager Publikum eine ungewohnte Sache. Und zu ungewohnten Darbietungen hat das Prager Publikum kein Vertrauen. Hier war’s mit Unrecht.