HOFMANN, MARTHA: AUSSEN UND INNEN
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In: Selbstwehr, 25. Jahrgang, Ausgabe 9 vom 27.02.1931 im Beiblatt „Blätter für die jüdische Frau“, S. 1
Außen und Innen.
(Zur Morphologie der Assimilation.)
Von Dr. Martha Hofmann.
Daß Verallgemeinerungen zwar verlockend aber gefährlich sind, ist eine Binsenwahrheit – die man sehr leicht vergißt, wenn man in ein fremdes Land kommt oder sonst mit Angehörigen eines fremden Volkes zu tun hat.
Auch der Wissende – (und wer wüßte dies nicht!) – erlebt an sich, wie sehr er in neuer Umgebung Verallgemeinerungen und Vorurteilen ganz oder doch beinahe zum Opfer fällt und es macht wenig aus, ob er dazu auf Grund eigener Zufallserfahrungen oder auf Grund übernommener Urteile gelangt ist. Nur darauf kommt es an, welch ein „Vorzeichen“ ein jeder den beobachtenden Symptomen gibt, ob er sich identifiziert oder abseits stellt – ob er Subjekt oder Objekt der Beurteilung ist. Darnach richten sich seine Sympathien und Antipathien, seine Schlüsse aufs Allgemeine wie aufs Besondere. Nur so entstand die Scheidung der Menschheit in Barbaren und Helennen – in Arier („Gojim“) und Juden . . .“
Wer immer solch ein Neuland der anthropologischen Selbsterfahrung betritt, verspürt zuerst nichts anderes als ein eigenartiges, ein wenig betäubendes Fluidum, das von all den neuen Gestalten, Gesichtern, Gebärden, von Haaren und Augen, Kleidung und Nahrung, Bauweise und Wohnung – von all dem Persönlichen und Unpersönlichen dieser fremden Menschen ausgeht – ein die ganze Atmosphäre beherrschendes, intrigantes Fluidum, das von wilden, d.h. naturnahen Lebewesen wahrscheinlich mit dem Geruchsinn wahrgenommen würde. Ein Bündel fremdartiger Strahlungen und Ströme dringt auf das Unterbewußtsein des Ankömmlings ein, projiziert ein verschwommenes Bild auf die seelische Rezeptionsfläche des Betrachters – eine nebelhafte Landschaft, deren größere oder geringere (zumeist aber größere) Verschwommenheit nicht wenig von der seelischen Substanz des Empfängers bedingt wird. Die so undeutlich umrissene „Landschaft“ wird von der inneren Natur des Empfängers angenehm oder unangenehm empfunden, „schön“ oder „unschön“, „sympathisch“ oder „unsympathisch“. Sie erweckt Empfindung, doch ermöglicht kein Urteil. Das ist der innere Zustand der flüchtig Reisenden aller Orten. Ein Eindruck – eine Rezeption. Nicht mehr. Und dennoch bildet fast jeder sich seine Ableitungen und „Ansichten“ auf Grund dieses nebelhaften Diagramms.
Wer länger verweilt, macht einzelne Erfahrungen. Macht die Bekanntschaft eines dieser Fremdlinge, vielleicht mehrerer – und nun beginnt die skizzenhafte Landschaft sich von einem bestimmten Punkt aus zu füllen: was früher nur blasse Kontur war, wird jetzt durch Licht und Schatten, Tiefe und Breite annähernd bestimmt. Ein eigenartiger Prozeß – ein unbewußtes Ineinandergreifen von Beobachtung und Ableitung. Zuerst nämlich beeinflußt jener ursprünglich subjektive „Eindruck“ daß neugewonnene Bild viel mehr als eine vermeintlich objektive Erfahrung am Einzelnen, am Individuum. Denn noch werden die Einzelzüge aus der umhüllenden Atmosphäre des Ganzen mehr intuitiv (d.h. subjektiv) erraten, als betrachtend erkannt. Noch wirkt die Gleichartigkeit der Gattung viel stärker als die Verschiedenheit der Arten. Die Atmosphäre der Fremdheit hängt über jedem einzelnen wie ein die Nuancen umhüllender Schatten oder wie ein überstark blendendes Licht. Innerhalb dieses Rahmens, den die belebten und leblosen Seelenzeichen eines Volkes bilden, wirkt der zugehörende Einzelne ganz anders als in einer ihm wesensfremden Umgebung. Hier ist er organischer Teil, dort eigenartiges Individuum. Diese Wirkung kann so verschiedenartig sein, daß sie dem Betrachter neue Gesichtspunkte über das Objekt seiner Betrachtung erschließt.
Später erst vermag der Beobachter die persönlichen Züge des Individuums von dem umhüllenden Rahmen deutlich abzuheben und abzulassen.
Hierbei aber unterliegt der sich Gewöhnende demselben tragischen Geschehen, das jeder Heranwachsende in dem grausamen Gewöhnungsprozesse des Lebens durchmißt: Leben – das ist eben die Gewöhnung an das Ungewöhnliche!
So wie die engere Familie stets mehr die Verschiedenheiten der Geschwister als ihre Ähnlichkeiten in Zügen und Charakteren beobachtet, während die Außenstehenden zunächst die große „Familienähnlichkeit“ erfassen, – so auch bei der Bekanntschaft mit einem neuen Volk. Tatsächlich sind auch bei allen Menschen und besonders bei Gliedern einerRasse, die Ähnlichkeiten weitaus größer als die Verschiedenheiten. So, wie wir aber selbst ein Teil geworden sind, nicht mehr von außen kommend, harmlos oder kritisch, ängstlich oder argwöhnisch das Ganze beobachtend – verlieren wir den Überblick über das Gesamtbild und sehen nur noch das Detail, das immer vielfältig ist.
Bei dieser Stufe angelangt, wird der Betrachter den einzelnen nicht mehr nach dem Klischee des ersten Eindrucks beurteilen, und er gelangt dazu, „ Ausnahmen“ zu konstatieren. Nun entdeckt er, daß seine individuellen Erfahrungen die ursprünglichen Verallgemeinerungen Lügen strafen; wieder du wieder stellt er fest, daß „nicht alle so sind“, wie er vermutet hat, Unterschiede treten ihm vor Augen – er stockt, zögert in der Beurteilung, wird irre an der Wertung des Einzelnen, wie des Ganzen. Immer aber noch behält im Unbewußtsein jener erste oder ererbte, effektbetonte „Eindruck“ die Oberhand.
Denn nur zwei Standpunkte der Betrachtung und der Urteilbildung kann es geben: den von außen und den von innen. Hier aber hat der Betrachtende keinen dieser Standpunkte inne – es ist der kritische Moment der Überganges von dem einen zu dem anderen. Er hat den naiv subjektiven ersten Eindruck des Außenseiters verloren und ist irre geworden, ob dieser Eindruck der richtige war. Denn noch ist er nicht der Umgebung ähnlich genug, um diese von innen her verstehen zu können. „Du gleichst dem Geist, den du begreifst“, sagt Goethe. Man kann dieses Wort ohne jede Vergewaltigung umkehren, ja, es wird deutlicher in seinem Tiefsinne durch diese Umkehrung: „Du verstehst den Geist, dem du gleichst.“
Erst wenn der Prozeß der Angleichung eingesetzt hat, kommt das Gefühl des Verstehens über den nicht mehr Fremden. Nun werden seine Urteile über das Volk, dessen Teil er zu werden beginnt, sich überraschend ändern und vielfach in ihr Gegenteil verkehren. Eine Umwertung der Werte tritt ein, jene oben angedeutete Verwandlung der „Vorzeichen“ im mathematischen Sinne; es vollzieht sich nicht mehr und nicht weniger, als die Wandlung des Objektes zum Subjekt. Das alles durchdringende Fluidum ist in den ursprünglich Außenstehenden eingedrungen, er ist nicht mehr unbeteiligter, subjektiver Beobachter – er ist subjektiv Beteiligter geworden. Unbewußt hat er die Identifizierung vollzogen. Daher ist seine Deutung der gleichgebliebenen Symptome charakteristisch verändert. Was früher objektiv und kritisch analysiert wurde, ist nun subjektiv affektbetont. Der Analyse unzugänglich, wenn nicht feindlich. Nicht die Umgebung ist eine andere, er selbst ist ein anderer geworden.
Dies ist der Prozeß der Assimilation oder der Selbstaufgabe, der Selbsthingabe an die neue Atmosphäre, welcher der eine rascher und weitgehender erliegt als der andere, dem aber keiner gänzlich entgeht, der als ein Einzelner in eine fremde Umgebung versetzt wird.
In der Regel freilich gelingt dem Fremden nicht die völlige Identifikation, auch wenn er sie anstrebt. – Und darum kommt der eine niemals über den geschilderten Übergangszustand des „Irregewordenseins“ hinaus, er ist in seiner Wertung der Werte erschüttert, unsicher und schwankend und zu blinder Nachahmung geneigt: der andere glaubt, die volle Sicherheit der Wertung gefunden zu haben und steht plötzlich, wie von Rätselhaftem überwältigt, vor einem Anderssein und Nichtbegreifenkönnen, das eine Kluft zwischen ihn und seiner Umgebung aufweist. Eine Tragödie, die namentlich viele scheinbar assimilierte Juden während des Weltkrieges oder während der Pogromstimmung der Nachkriegszeit erlebten und nun vollzog sich in manchen von ihnen, den Konsequentesten, Mutigsten, ein langsames Zurücktasten zum eigenen Wert und zur eigenen Wertung die umnebelt und verschüttet unter den neuen, aufgetragenen Schichten begraben lagen. Ein neues, nicht minder mühsames Abtragen der künstlichen Schichten setzt ein. Aber nicht jedem gelingt nunmehr die Rückkehr von außen nach innen, selbst wenn sie die ursprüngliche Wertung wiederherstellen sollte. Das Gleichgewicht ist erschüttert und in Fetzen hängt an ich die zerrissene Atmosphäre der beiden Welten.