OPPENHEIM, IDA: IHRE KRONE
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In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 39. Jahrgang, Ausgabe 48 vom 01.12.1899, S. 485f / Ausgabe 49 vom 08.12.1899, S. 496 / Ausgabe 50 vom 15.12.1899, S. 506
Ihre Krone.
Chanukaerzählung von Ida Oppenheim.
Der Tag der Freiheit war gekommen. Die Juden jubelten auf; sie wurden ihren Mitbrüdern
gleichgestellt und erlangten endlich ihre Menschenrechte. Alle Schmach, alle Kränkungen, alle
Zurücksetzungen waren vergessen. Wie wollten sie sie lieben, all’ ihre Brüder! Wie wollten sie sich
würdig zeigen als treue Unterthanen und mit Gut und Blut für ihr Vaterland kämpfen. Frei sollten
sie sein, nicht mehr eingeschlossen in den dunklen Ghettomauern. Es war ein Taumel des Glücks,
der alle, Groß und Klein, umfaßte.
Mitten in dem Jubel und der Glückseligkeit brach in einer angesehenen frommen Gemeinde
Mährens der Scharlach aus, und die böse Krankheit raffte viele Kinder in wenigen Tagen dahin.
Man ordnete einen Festtag an, verrichtete Gebete im Tempel, beschenkte die Armen, aber der
Todesengel nahm unbarmherzig die holden Kinder in sein stilles Reich.
Der würdige Rabbi, Samuel, saß mit einem alten, ehrwürdigen Dajen und einem fremden Rabbi,
David, in seinem Studierzimmer, eifrig vertieft im Disput über talmudische Fragen, als sich die
Thür plötzlich öffnete und eine Frau hereinstürzte.
„Rabbi, betet und helft, mein Moses, mein einziges Kind stirbt. Hier nehmt alles, was ich habe!“
Und dabei schüttete sie einen ganzen Beutel voll goldener und silbenen Münzen auf den Tisch, riß
eine schwere Kette vom Halse und entfernte die großen Ohrgehänge und rief: „Nehmt alles hin;
ich will keinen Schmuck mehr tragen, nur rettet mir mein Kind. Die Sünde ist in unserer Gemeinde,
die Khilla muß entsühnt werden! Denn nicht nur mein Kind, sondern alle Kinder werden dann sterben! Riwka Kalisch hat sich das Scheitel ausgezogen! Schleppt sie, Rabbi, bei den Haaren her
und und – –“
Die Stimme versagte ihr, und sie sank ohnmächtig zu den Füßen des Erstaunten nieder.
Der Rabbi rief eine alte Dienerin, die starr vor Entsetzen dastand, bei dem Gedanken, daß sich
überhaupt ein Weib gewagt hatte, den Rabbi in seinem Studierzimmer selbst aufzusuchen. Langsam suchte sie die Ohnmächtige aufzurichten, die sich auch dann erholte.
Verwirrt sah Frau Rahel um sich. Sie schien sich zu besinnen, wo sie sich befand, und endlich
stammelte sie flehend: „Verzeiht mir, vezeiht! Der Schmerz, der Schmerz! Ich werde wahnsinnig!
Lebt es noch, mein Kind, sagt?! Oder werde ich es nicht mehr antreffen?!
„Frau Rahel“, entgegnete der Rabbi ruhig, „wir alle kennen Euch als eine fromme, achtbare
Frau unserer Gemeinde. Das Leid hat Euch zu großer Sünde verleitet. Gott in seiner Gnade und
Barmherzigkeit wird Euch vergeben und Euch Euer Kind von neuem schenken. Gehet heim und
pflegt es! Dort ist Euer Platz; nicht das Ihr andere anklagt und verantwortlich macht für das, was
Fügung des Ewigen ist! Wie, Ihr wollt Richter sein statt Gott?! Fühlt Ihr Euch sündenrein oder ist
es je ein Mensch? Bis jetzt ward Ihr glücklich! Geliebt von einem braven Gatten, verehrt von Eurer
Familie, Mutter eines schönen Knaben, lebtet Ihr in Wohlstand; nun wollt Ihr murren gegen Gott,
der Euch die erste Prüfung sendet, und andere dafür verantwortlich machen.“
Demüthig beugte sich die Frau und flüsterte: „Ihr habt recht edler Rabbi. Legt noch einmal Eure
Hände segnend auf mein Haupt, wie damals, als ich, ein glücklich Kind, dem theuren Gatten angetraut wurde, und nie werden sich meine Lippen jemals der Verleumdung öffnen!“
„Dieses Gelübde“, antwortete der Seelsorger, „wiegt all’ Euer Gold auf, gehet getrost heim und
hofft und vertraut!“
Die Dienerin führte die Unglückliche heraus.
Im Zimmer war es still; die Männer standen noch unter dem Eindruck des eben Erlebten.
Rabbi Samuel war jünger als seine beiden Freunde, eine edle, schöne, männliche, Ehrfurcht
gebietende Erscheinung. Die hohe Denkerstirn, das eigenartig milde Leuchten seiner Augen fesselte jeden Mann und seine Schüler behaupteten, sein Blick träfe bis in’s Herz. Er war ihnen auch
Lehrer und Vater, den Armen ein Helfer und allen ein Freund und Berather. Alle waren unter dem
Blick seiner Augen wie gebannt. Er strafte oft mehr als Worte, und ihm ordneten sich auch oft seine beiden gelehrten Beisitzer unter. Rabbi Samuel wandte sich ihnen zu: „Verzeiht, wenn ich die
Frage mir erlaube: Soll man um Riwka schicken? Sagt Eure Meinung.“
Der eine antwortete: „Man soll sie her berufen; man soll ihr Fasten auferlegen, da sie es allein
gewagt, in dieser frommen Gemeinde, sich zu überheben und ihr Haar frei und offen zu tragen.
Durch ihr Beispiel verführt sie andere. Eine verheiratete Frau soll dem Gesetze nach einen Scheitel
tragen. Sie soll bescheiden, einfach nur ihrem Hause, ihrem Mann und ihren Kindern leben. Durch
nichts darf sie die Aufmerksamkeit fremder Augen auf sich ziehen und ihre Gedanken von ihren
Pflichten ablenken. Der schönste Schmuck einer Frau ist nicht ihre äußere Schönheit, ihr Haar;
Bescheidenheit, Frömmigkeit, Demuth, Treue und Fleiß zierten bis jetzt die Frauen und Töchter
unseres Volkes, die Mutter unserer Kinder, die sie in ihrem Sinne zu erziehen sich bestrebten. Die
kleinste Uebertretung eines Gebotes ahndet sich schwer, denn es steht geschrieben: „Haltet meine Gebote, auch die kleinsten, denn alle gab ich zu Eurem Wohle!“ Dies ist meine Meinung.“
Rabbi David erhob sich und sprach: „Ich pflichte der Ansicht meines Freundes bei, wenn ich
auch das Vergehen nicht so streng beurtheile wie er. Ist das Tragen des Scheitels doch kein Gesetz, daß es als solches heilig gehalten werden kann. Wir wissen, daß diese Sitte aus dem Orient
gekommen und andere Bedeutung hatte. Seitdem wir aus dem heiligen Lande fortgemußt, Jerusalem zerstört wurde und wir zerstreut in alle Winde, ein Wundervolk geworden, da mußten wir
uns der herrschenden Sitte derjenigen fügen, in deren Mitte wir lebten. Dennoch ist es unsere
Aufgabe, uns überall als Israeliten zu bewähren, die Gesetze zu halten und nicht von dem Althergebrachten abzuweichen. Auch jetzt, wo uns ein anderes Licht aufgegangen, wo wir gleiche
Rechte mit den andern genießen sollen, wo die Thore des Ghetto’s sich geöffnet, auch jetzt müssen wir festhalten an dem Gesetz der Grundlage der Weltordnung, die es für alle Zeiten für uns bleiben wird.
Ist die Uebertretung der Frau so groß, daß man sie als eine Versündigung hinstellen darf, die
Schuld daran ist, daß Sterblichkeit über die Kinder gekommen? Nähren wir nicht damit den Aberglauben, den Haß, Neid und die Verfolgung? In unserer Mitte soll solches nicht Fuß fassen! Wir
wollen die Frau rufen, ihr in Güte zureden, daß sie das Haar sich abschneidet, mit einer tiefen
Haube ihr Haupt verhüllt. Gott wird helfen, seine schirmende Hand ausstrecken und die Gefahr von den Kindern ablenken.“
Tief aufathmend wollte der Rabbi sich setzen, als ihm der andere in’s Wort fiel in erregtem Eifer:
„Ihr seid zu nachsichtig, das ist der Anfang zu allem Bösen! Immer nachgeben und immer
nachlassen! Langsam fällt eines nach dem andern! Die Ceremonien, die gleichsam eine Mauer um
uns gebildet, sie fallen eine nach der anderen! Dann rüttelt man auch an den heiligen Satzungen!
Ernst wird man uns, die Wächter des Gesetztes fragen: „Wo wart Ihr, als man dieses und das vernachlässigte? Wie habt ihr das Gesetz erhalten?“ O, ich sehe es kommen, daß unsere Kinder und
Enkel mit der sogenannten Freiheit ihre heiligsten Güter vernachlässigen. Ein Beispiel muß gegeben werden! Die Frau muß gezwungen werden, vor unseren Augen sich das Haar schneiden zu lassen!“
„Beruhigt euch, meine Freunde“, sagte Rabbi Samuel. „Ich habe eure beiden Meinungen gehört. Nun wollen wir vereint bestimmen, zu unserer eigenen Beruhigung und zum Frieden der Gemeinde. Vorerst müssen wir nur einzig und allein den vor uns liegenden Fall besprechen. Ich frage:
Ist das Scheitel oder das falsche Haar, das den Schmuck des eigenen Haares ersetzen soll, nicht
ein Irrthum. Wenn dichte Schleier im Orient das Frauenantlitz verhüllten, so hat man niemals gewollt, daß der Schönheit Einhalt gethan wird. Das Haar ist ja für jeden eine Zierde und besonders
für die Frau. Die Sitte hatte zur Zeit wohl Berechtigung, doch nirgends wird dieselbe als Gesetz
und das Uebertreten derselben als Todsünde erachtet. Laßt mich allein mit Riwka reden! Jetzt
wollen wir in den Tempel gehen zum Abendgebet und Thillem sagen für die kranken Kinder. Morgen um diese Zeit wollen wir uns wieder versammeln.“
Es war im November. Trübe Nebel umhüllten die Luft. Der Himmel hing schwer voll grauer Wolken. Nacht war es überall. Im Ghetto sah man einzelne Häuser schwach beleuchtet. Dann und
wann huschte scheu eine Gestalt über die Straße. Alles bangte für den kommenden Morgen, der vielleicht neue Opfer fordern würde.
Ein dunkle Frauengestalt, fest in Tücher gehüllt, schritt dem Hause des Rabbi zu. Nach leisem Klopfen trat sie in das Arbeitszimmer.
Er hatte den Talmud aufgeschlagen und studierte eifrig. Mit einem freundlich-ernsten Blick
grüßte er die Eintretende, die sich ehrfurchtsvoll vor ihm neigte.
„Ihr habt mich rufen lassen, Rabbi!“ Sie hob ihre Augen und ihre gebeugte Gestalt und stand
nun in eigenartiger Schönheit vor ihrem Lehrer. Der kleine zarte Kopf mit dem edel geschnittenen
Gesicht konnte kaum die Fülle ihres schwarzen Haares bergen, die sich in dicken Zöpfen um ihr
Haupt gelegt. Der Rabbi selbst, der sie nur vorübergehend oft gesehen, war geblendet von ihrer
Erscheinung. Es war ihm schwer das rechte Wort zu finden.
„Ihr seid eine treue Gattin“, redete er sie an, indem er ihr winkte, sich niederzusetzen.
Sie sah ihn fragend an.
„Ihr seid noch nicht lange in der Gemeinde und habt Euch schon allenthalben Liebe erworben.
Habt Ihr nie einen Scheitel getragen? Wißt Ihr nicht, daß eigenes Haar zu tragen, bei uns verboten ist?“
Sie richtete sich zu ihrer vollen Höhe auf:
„Warum diese Frage, edler Rabbi? Habe ich irgend etwas gethan, was Euch mißfällt? Und mein
Haar – ich habe es nie anders getragen!“
„Wißt Ihr denn nicht, daß allen jüdischen Frauen geboten ist, das Haar am Tage der Hochzeit
abzuschneiden? Ihr habt dieses nicht geachtet. Man macht Euch deshalb verantwortlich, daß Ihr
durch diese Sünde Unglück über unsere Gemeinde gebracht. Man glaubt, daß Ihr dadurch die
Krankheit der Kinder verschuldet!“
Von tiefem Schmerz gebeugt, senkte die Frau das Haupt.
„Ich werde beschuldigt, solches Unheil hervorgerufen zu haben?“ kam es tonlos über ihre Lippen. „Sagt, edler Rabbi, was soll ich thun, um dieses abwenden zu können?
„Ihr müßt Euch Euer Haar abschneiden, um die Leute zu beruhigen, die in ihrem Unglück unberechenbar und abergläubisch geworden sind.“
Wie eine Statue, bleich, hochaufgerichtet, stand die Frau da und löste langsam das Haar von
ihrem Haupte, das in zwei schweren Flechten bis zur Erde herunterfiel.
„Soll dies gleich geschehen, Rabbi?“ fragte sie. „Ich bin bereit. Ich bin es gewöhnt von Kindheit an, jedes Opfer zu bringen, wenn es gilt, jemand zu helfen. O, daß ich doch all’ die lieben
Kinder damit retten könnte! Abraham hat seinen einzigen Sohn Gott zum Opfer bringen wollen!
Was bin ich, daß ich einen Moment zaudern sollte, um dieses Geringe zu thun! Sie sollen um meinetwillen nicht einen Augenblick länger leiden! O, säumet nicht, Rabbi, nehmt sie fort, diese Haare, scheert das Haupt kahl, damit das Haar keines andern Hauptes gekrümmt werde. Ich hatte es
lieb, weil es alle bewunderten; vielleicht war ich gar stolz darauf! Legt mir noch eine Buse auf! Was
soll ich noch thun? Ist meine Sünde so groß?“
(Schluß folgt.)
Ausgabe 49 vom 08.12.1899, S. 496
(Fortsetzung.)
„Seid ruhig, edle Frau,“ antwortete der Rabbi tief gerührt. „Ihr habt Euch in nichts vergangen.
Ihr seid würdig unserer Erzmütter. Ich hätte gewünscht, daß Eure edle Bereitwilligkeit, Euren hohen Sinn, die ganze Gemeinde, ja, ganz Israel gehört hätte! So lange unser Stamm solche Frauen
und Mütter hat, so lange brauchen wir nicht an einem Fortbestand zu zweifeln! Ihr bewähret Euch
im Unglück, Ihr werdet Euch auch im goldenen Lichte der Freiheit bewähren! Recht habt Ihr, daß
Ihr Vater Abraham als Beispiel angeführt, und ich sage Euch, wie Gott sein Opfer nicht verlangt,
so wird auch das Eure nicht verlangt. Behaltet Euren Haarschmuck, diese schöne Zierde der
Frauen! Einen Edelstein tragt Ihr in Eurem Herzen! Ueberlaßt jetzt mir die Sache! Ich will dieses
Haar vor allen verantworten! Sagt mir, wie es kam, daß man bei Eurer Trauung dieses alten Brauch
nicht angewendet?“
„Wie soll ich Euch, edler Rabbi, danken. Trost und Beruhigung ist mir Eure Rede; ich hoffe,
Gott wird die schweren Prüfungen abwenden von der Gemeinde und Ihr werdet Glauben finden
und die Abergläubischen beruhigen, und durch Eure milde Nachsicht und Geduld in rechte Bahnen leiten, wie Ihr sie mir jetzt bewiesen,“ sagte sie, indem sie unter heißen Thränen die Hand
Rabbi Samuels küßte. „Und nun hört die Geschichte meiner Vergangenheit: Unsere Großeltern
wurden aus Spanien vertrieben und siedelten sich im südlichen Frankreich an. Sie lebten dort in
Ruhe und hatten sich das Vertrauen ihrer Mitbürger erworben. Mein Großvater war Juwelenhändler gewesen. Mein Vater richtete in Holland eine Diamantschleiferei ein. Er wurde das Faktotum
eines großen Besitzers und Fabriksherrn, und wir wohnten unweit seines Schlosses. Wir durften
mit den Kindern des Herrn spielen und wurden vollständig ihnen gleichgestellt. Meine Eltern lebten in stiller Zurückgezogenheit ganz in ihrem Glauben, und da sie durch zunehmende Wohlhabenheit und durch die innige Freundschaft mit ihrem Brotherrn sich den Neid der andern Beamten auf sich zogen, wurden Pläne ersonnen, um die Verhältnis zu lösen, und da man nichts fand, griff man endlich zur Gewalt. Es war zur Zeit des Chanuka-Festes. Mein Vater hatte die kleinen Lichter entzündet und sang mit der Mutter, mit den drei Brüdern und mir das schöne Lied: „Moaus zur
jischu ossi“, und ich tanzte und jubelte und erzählte recht geschwätzig nach kleiner Mädchenart
die Geschichte von den Makkabäern, als bleich und athemlos ein Diener in’s Zimmer stürzte und
uns in fliegender Hast mittheilte, daß das Haus in Brand stehe. Ehe wir uns noch recht fassen
konnten, klirrten die Fensterscheiben, vermummte Gestalten liefen an’s Fenster, faßten meinen
Vater und verlangten die Herausgabe aller Schätze. Was weiter geschah, ist mir nicht mehr erinnerlich.
Ich befand mich, als ich erwachte, in einem schönen Zimmer. Neben meinem Bette saß meine
Mutter. Sie hatte einen Schirm vor den Augen und fragte zärtlich: „Siehst du mich, mein
Kind?“ „Ja“, sagte ich verwundert und erstaunt. „Ich aber sehe dich nicht, mein Kind, ich fühle
blos deine liebe Nähe.“ Ich verstand das nicht. „Wo ist der Vater, wo sind die Brüder?“ fragte ich
hastig. Ehe mir noch Antwort wurde, trat der Arzt des Fabriksherrn ein: „Mein Kind, Gottlob, du
bist gerettet. Bald sollst du auch den Vater sehen! Meine Mutter gab keinen Laut von sich; nur
fester hielt sie meine Hände, und als ich noch weiter fragen wollte, warum wir hier sind und nicht
daheim, nicht bei dem Vater und den Brüdern, da stöhnte sie leise auf: „Es ist Gottes Wille, mein
Kind!“ – Der Arzt gab mir ein Pulver und bald schlief ich ein. – Als ich erwachte, waren wir noch in
demselben Raum; der Vater bei mir, tief gebeugt, der Mutter Augen waren groß und offen, die lieben, milden Augen, die mir stets so freundlich geleuchtet, waren erloschen. Jetzt faßte ich erst
das Entsetzliche: meine Mutter war blind geworden. Ich erfuhr dann, daß die Brüder im Kampfe
gefallen waren, sie hatten die Eltern schützen wollen; man hat sie vor ihren Augen gemordet. Wir
lebten unter fremdem Namen in Paris. Meine Eltern widmeten sich ganz meiner Erziehung.
Als ich 16 Jahre alt war, übernahm mein Vater die Verwaltung eines Gutes in Ungarn, das dem
Herrn durch Erbschaft zugefallen war. Ich pflegte meine Mutter und verließ sie nie. Sie war meine
beste Freundin und Lehrerin; wir lebten ganz still und zurückgezogen ohne irgend welchen Umgang, und nur zu den Festen kamen einige Leute zum Gottesdienst zu uns. Der Neffe meiner Vaters zog zu uns, um ihn unser jetziges Eigenthum bewirtschaften zu helfen. Er war jung verheiratet
und hatte drei schöne Knaben. Wir verlebten zusammen zwei schöne Jahre des Friedens und des
Glücks. Da starb die Frau bei der Geburt des 4. Sohnes. Der junge Mann war gebrochen. Die
Pflicht ließ ihn endlich wieder aufleben, und wir hatten die Sorge um die Kinder, die sich an uns
ketteten und von niemand anders versorgt werden wollten als von meiner Mutter und mir.
(Schluß folgt.)
Ausgabe 50 vom 15.12.1899, S. 506
(Schluß.)
An einem Chanukaabend saßen wir beisammen, vereint umdie Lichtchen der Menorha. Da kam
der Vater der Kinder zu mir und sagte: „Ich habe eben die theuren Eltern um deine Hand gebeten;
sie wiesen mich an dich. Willst du mich, die Kinder und die Eltern beglücken. Ich war damals noch
so jung und sollte so schwere Pflichten übernehmen. Ich fand zuerst kein Wort der Erwiderung.
Als ich den greisen Vater vor mir sah, die blinde Mutter, die armen verwaisten Kinder und den
ernsten Mann, und ich vergegenwärtigte mir meine traurige Jugend mit all’ den Kämpfen, da
glaubte ich ein Anrecht zu haben auf Glück, auf ein volles, echtes Menschenglück. Doch in demselben Augenblicke tönte eine Stimme in meinem Innern: „Gott hat dich dieser Aufgabe gewürdigt, – erfülle sie!“
„Ich will!“ sagte ich nach kurzem Zögern und legte meine Hand in die meines Werbers.
O, dieser berauschende Augenblick, indem ich das Glück in aller Augen aufleuchten sah!
„In Stille wurde unsere Vermählung im Hause gefeiert. – Als man mich zum Bedecken führte,
stand ich mit aufgelöstem Haar zitternd und bangend vor dem Rabbi. Es war mir so weh, daß
man mir diesen Schmuck rauben sollte, aber ich wagte keinen Widerspruch.
Da trat meine Mutter vor und bat: „Laßt meiner Tochter das Haar; es war ihre und meine Freude. In den langen Jahren meiner Blindheit konnte ich die schweren, weichen Flechten fassen und
meine Sehnsucht stillen, die mein Herz oft zu brechen drohte, daß ich das Antlitz meines geliebten
Kindes nicht mehr sehen konnte. Sie war mein Herzenstrost; im Geiste sehe ich sie mit dieser
Krone, die ihr Gott gegeben. Sie wird sich ihrer stets würdig zeigen; ich kenne ihr reines, schlichtes Kinderherz.“
Sie legte die Hände auf mein Haupt: „Mein Gott, segne dieses Kind, laß’ Licht um sie werden,
die der Blinden Stütze war, die den Waisen eine Mutter sein wird, dem Gatten eine treue Frau!“
Der Vater legte seine Hände auf mein Haupt und deckte das goldene Tuch über mein Antlitz.
Jahre sind es her, und ich kann sagen, daß ich meine Pflicht erfüllt. Meine Söhne sind tüchtige
Menschen geworden und auch meine Tochter hoffe ich bescheiden und sittsam zu erziehen. Wir
leben jetzt allein und zurückgezogen. Mein Mann widmet die letzten Jahre seines Lebens dem
Studium der Thora. Meine Gedanken kehren oft in die Vergangenheit zurück. Ich höre tröstend,
wie aus weiter Ferne die letzten Worte meiner sterbenden Mutter: „Gelobt seist Du Gott, daß Du
die Gnade hattest, mich zu prüfen. Licht und hell ist es um mich; Dein Segen strahlt meinen Kindern und Enkeln!“
Tief gerührt hörte der Rabbi zu. Es war spät geworden. Frau Riwka erhob sich, und er reichte ihr die Hand.
„Behaltet Eure Krone!“ sagte er innig. Daß es doch in Israel stets solche Töchter und Mütter
gäbe, dann werden auch die Söhne würdig ihrer Ahnen sein.“
Im Ghetto fing es nun an, besser zu werden. Die Kinder genasen und man richtete sich zum
Chanuka-Feste. Ein dreifacher Festtag kam heran. Der heilige Sabbat, der Beginn des ChanukaFestes, und das Genesungsfest, das die Eltern ihren ihnen erhalten gebliebenen Lieblingen feierten. Froh und dankbaren Herzens rüstete man sich zur würdigen Feier.
Der Rabbi saß mit seinen Freunden beisammen und erzählte ihnen die Geschichte der Frau.
Sie waren doch beide befriedigt, daß die Sache so in den Sand verlief. Sie bewunderten die edle
Frau und kamen darin überein, daß Israel es wohl nothwendig hatte, in erster Linie die Augen aufzuheben zu solchen Frauen, zu solchen Müttern ihrer Kinder. Denn sie sind es ja, die die ersten
edelsten Keime in das Kinderherz pflanzen, die Söhne und Töchter erziehen. Die größte Aufgabe
liegt in ihren Händen. Kinder, von edlen Müttern erzogen, die durch den Glauben in sich gefestigt
dastehen, deren Herz gebildet ist, Ehrfurcht empfindet vor Gott, für alles Große, Edle und Schöne
erglüht, die werden dann Männer, die sich nicht durch das Licht der Freiheit blenden lassen, die
nicht vergessen, woher sie stammen und was sie dem edlen geistigen Ursprung zu verdanken
haben. Religion und Wissen vereinigen sich, Religion und Unwissenheit bekämpfen sich. Geistesund Herzensbildung gepaart, führen in heißem Streben zu hohen edlen Zielen!“
So sprach der Rabbi begeistert. Seine Freunde sahen ihm stumm in das verklärte Antlitz.
„Meine Predigt am Sabbat soll noch tiefer das Gesagte beleuchten! Nicht war, Ihr stimmt mir
bei und werdet mir Recht geben?“
Der große Sabbat nahte. Alles strömmte in den Tempel Der ehrwürdige Rabbi spendete Gaben
für die Armen und gedachte in einem Segensspruch besonders der Frau Riwka und ihrem Gatten.
Die ganze Gemeinde rief das Amen dazu. Die Frauen, die unter den vergitterten Fenstern saßen,
sahen alle auf sie, die erröthend ihr schönes Haupt senkte und ihr Gebetbuch mit Freudenthränen
netzte. Der edle Rabbi gab ihr Genugthuung, und die bösen Zungen mußten schweigen. Sie behielt in Ehren ihren Schmuck und durfte frei und offen ihr Haar tragen.
Als der Rabbi dann seine Predigt endigte, rief er begeistert „Israel braucht Mütter, fromme,
pflichttreue Mütter! Dann werden sich die Söhne zu allen Zeiten, in allen Lagen siegreich bewähren, wie es einst unsere großen Vorfahren gethan, die Makkabäer!“
Der Tag war ein Freudentag für die ganze Gemeinde. Aus jedem Hause strahlten hell die kleinen Lichtchen, und jubelnd vereinten sich Alle an dem Lobgesang zur Ehre des Höchsten.
Ein halbes Jahrhundert ist seitdem verflossen.
Die Freiheit hat am Anfang desselben ihre Pforten aufgethan. Langsam ging ihre strahlende
Sonne unter; jetzt droht sie ganz zu verlöschen. Unsere Ahnen haben stark und kräftig allen Unbill
Trotz geboten und hielten in tiefster Erniedrigung, in der Verfolgung die Fahne ihres Glaubens
hoch und hofften sicher an ihren Sieg.
Und sie siegten und werden auch immer siegen, wie die Wahrheit, die sich langsam ihren Weg
bahnt. Doch die Mahnung des alten Rabbi: „Israel braucht Mütter!“ – – sie darf auch heute nicht
außer Acht gelassen? sie müßte heute mehr denn je beherzigt werden. Das Haus und die Schule
müssen zusammen wirken um jene Helden zu erziehen, die einst mit Gut und Blut ihre heiligen
Rechte, ihr Gotteshaus vertheidigt haben. Wenn solche Makkabäer in unserer Mitte erwachsen,
dann werden endlich die ewigen Lichter der Freiheit aufstrahlen und sich mit dem göttlichen Funken des Glaubens, der Liebe, der Freiheit und der Brüderlichkeit vereinen.