THALER, LEOPOLD: EPILOG ZUM HABIMA-EREIGNIS
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in: Wiener Morgenzeitung Nr. 2623, 22.6.1926, S. 3.
Habima ist abgereist. Es waren Tage der Erfüllungen und Phantasien. Der Traum vom hebräischen Wort auf der Bühne wurde verwirklicht, die Phantasie von einem hebräischen Leben, von einem hebräischen Zentrum lebte auf. Das Märchen, die fast tägliche Pilgerfahrt auf die Insel der Träume, der Leidenschaft und der Erfüllung mitten im Meer der Gleichgültigkeit, des Unverständnisses und des Hasses ist vorüber. Nur der Abschiedsschmerz, die Sehnsucht und die Reflexionen blieben uns zurück.
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Einstimmig fast war das Lob der Künstler des Theaters. Stürmisch die Begeisterung. Ehrlich und heiß die Polemiken. Von Tag zu Tag wuchs das Publikum mit seinem Theater. Zu kurz war die Habima in Wien, um sich ein Publikum zu schaffen. Ein würdiges und ein verständnisvolles. Und doch konnte man auch in dieser kurzen Zeit schon Ansätze dazu sehen. Die Krise des heutigen Theaters leuchtete in ihren Ursachen auf: den verschiedenen Theatern fehlt heute der starke, individuelle Wille, die ganze Hingabe an ein besonderes Ziel. Dieser bestimmte, ausdrückliche, künstlerische Wille, der unzweifelhaft die künstlerischen Fähigkeiten des einzelnen und der Gesamtheit erhöht, ist auch der große Führer und Erzieher des Publikums. Das Theaterpublikum ist nicht viel anders als z. B. die politische Volksmasse: es liebt eine klare, konsequente Stellungnahme, und nur von einer solchen läßt es sich fesseln und erziehen. Die Habima führt nun in den fünf Vorstellungen, die sie uns gezeigt hat, einen abgeschlossenen Abschnitt der eigenen Lebensgeschichte durch die Welt. Einen Abschnitt, in dem ein ganz bestimmtes Verhältnis zur Kunst und zum Volk zum Ausdruck kommt. Die Kunst ist in den Dienst der großen Wiedergeburtsidee des Volkes gestellt worden und ist nur um sie und für sie. Die Idee der Erneuerung im Zeichen der Arbeit und der realen Bemühung ist der tiefste Inhalt der Dramen, die die Habima spielt. Besonders in der Art, wie sie sie spielt. Die Tragödie, der Schiffbruch des Wunders wiederholt sich fünfmal. In jedem Stück erweist sich dessen schließliche Ohnmacht.
In der Form wählten die Künstler der Habima konsequent die Stilisierung durch die Maske und durch das Gruppenspiel. Vielfach wurde vom Ueberwuchern der Masken und Schminke zuungunsten des Mienenspieles in der Habima gesprochen und die Kunst der Habima sogar Ersatz der Schauspielkunst genannt. Diese Ansicht stimmt nur dann, wenn man Schauspielkunst mit reinem Mienenspiel identifiziert, was aber eine willkürliche Beschränkung des Schauspielens wäre. Die Kunst der Maske und der stilisierten Darstellung von Charakteren und Inhalten ist ebenso eine Art der Schauspielkunst wie die Mimik. Mag sein, daß dem westlichen Menschen mehr die mimische Schauspielkunst entspricht, als theatralische Ausdrucksform hat aber jene Art der Habima unzweifelhaft ihre Berechtigung.
Für die Habima ist aber, wie fast alle Künstler einstimmig erklärten, die Epoche der Stilisierung abgeschlossen. Die Habima sucht jetzt nicht nur ein neues Repertoire, sie will auch neue Schauspieler erziehen und eine neue theatralische Form finden. Das ist vielleicht die größte kulturgeschichtliche Bedeutung der Habima, daß sie durch alle Stile der europäischen Theaterkunst sich hindurcharbeiten muß, bis sie den eigenen hebräischen Stil wird schaffen können. Einen Theaterstil ganz ohne Tradition zu schaffen, ist eben nicht leicht. Und da muß man schon manchmal Ueberbetonung des Fremden oder vom künstlerischen Standpunkt nicht ganz einwandfreie Lösungen des Stilproblems (z. B. der jüdische Gesang in der Bar Streatons in Bergers „Sintflut“) mit in Kauf nehmen. Wie wird das alles aber von der wunderbaren Gesamtleistung im „Dybuk“, im „Ewigen Juden“, in „Jaakobs Traum“ überschattet. Und von der hingebungsvollen, ehrlichen Kunst fast jedes einzelnen in allen fünf Stücken! Schauspielerisches Talent haben sie alle und das Schönste an ihrer Menschlichkeit ist, daß ihnen die Schauspielkunst nur Beruf ist, um die großen Ideen der Volks- und Menschheitserneuerung zu verwirklichen. Das skeptische Lächeln auf den Lippen des westlichen Menschen entlarvt den Abgrund der europäischen Kultur und des westeuropäischen Theaters.
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Der Sprache der Habima erstanden viele Richter. Nicht diejenigen sind gemeint, für die das Hebräische der Habima irgendwie problematisch war; nicht die Jiddischisten zum Beispiel, denn mit denen ist eine Diskussion entweder aussichtslos oder sie haben schon eingesehen, daß die einzige Sprache, in der die Habima spielen kann, auf der ganzen Welt und in Palästina, für das jüdische Volk und in seinem Namen – die hebräische ist. Nein, aber es gab manche, die geradezu Ignoranten der hebräischen Sprache sind und nuancierte Fehler der Aussprache oder der Grammatik, die vielfach ganz unbedeutend oder gar völlig unzutreffend sind, hervorstöberten, um sich mit ihrer „Reinheitsschwärmerei“ patzig zu machen. Obwohl die Habima unzweifelhaft im Laufe ihrer Entwicklung, die erst in den Kinderschuhen steckt, auch auf dem Gebiete der hebräischen Sprache wird viel zulernen müssen, so ist gerade jetzt, wo so viel und so Bedeutendes geschaffen wurde, eine Pedanterie unzweckmäßig und lächerlich. Die Verkleinerer der Habima durch das Hintertürl eines Lamed oder He mögen zunächst so viel Hebräisch lernen, wie die Künstler der Habima schon können und dann werden sie zu der Sache wahrscheinlich auch eine genügend große Liebe haben, um mit dem Reinigungsprozeß auf den richtigen Augenblick zu warten.
Jetzt kommt es zunächst darauf an, der Habima ein Heim in Palästina zu bauen. Dem hebräischen Theater die Verwurzelung im hebräischen Land zu ermöglichen. In der Atmosphäre Palästinas und ihrer Pioniere wird die Habima sowohl auf dem gesamttheatralischen als auch sprachlichen Gebiete sicherlich den eigenen, jüdischen Stil und die Reinheit und Echtheit des Ausdruckes finden. Der ehrliche Wille, die Hingabe und das Talent der Künstler ist vorhanden; bahnt ihnen den Weg! Der einzige Dank an diese uns so teuer gewordenen Pioniere der hebräischen Kunst ist Mitarbeit und Hilfe. Vielleicht weckt die Kunst die Gleichgültigen?! …