LESSING, THEODOR: WAS ICH VON DER JÜDISCHEN JUGEND ERHOFFE
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In: Selbstwehr, Nr. 20, XXII. (22.) Jahrgang
18. Mai 1928, S. 6.
Das Fest der Barissia, das Fest ihres 50-semestrigen Bestandes, möchte ich dadurch mitfeiern, daß ich Euch sage, was ich von der jüdischen Jugend erhoffe.
Wenn in hundert, in fünfhundert Jahren ein Geschichtsschreiber forschen wird über „die Juden Europas um 1900“, dann wird er zunächst eine Ueberfülle großer Namen zu künden haben aus allen Gebieten der Künste und Wissenschaften. Aber so Stolzes er auch verkünden wird von Einstein oder Bergson, Antokolski oder Liebermann, Ehrlich oder Willstätter, George oder Borchardt, Bizet oder Mahler immer wird die leidige Frage bleiben, ob nicht in diesen vielen bedeutenden Leistungen unsere wunderbare, durch Jahrtausende gespeicherte Volkskraft wie ein Feuerwerk für fremde Kulturen verbrannt ward, eine glanzvolle Schau der Werke, aber dennoch das Abendrot ersterbender Volksreste, die tausendfältig fazettiert und zersplittert, in verglimmenden Funken aufleuchteten und verloschen, hier und dort, überall ungedankt in Schnee und Eis.
Zwei Quellen aber werden dann rauschen und für uns zeugen, fortzeugend, die Zeiten durchdauernd, zwei aus jüdischem Muttergrunde gebrochene und gespeiste Quellmächte: Zionismus und Sozialismus.
Karl Marx und Theodor Herzl, sie erscheinen mir als die größten unter den jüdischen Männern unseres Zeitalters. Ihre ganz entgegengesetzten Naturen sind so gewichtig, daß wir zunächst die Persönlichkeiten betrachten müssen, um ihre Wirkungen zu begreifen.
Theodor Herzl ist von den beiden der glänzendere. Ich liebe nicht Uebertreibung, und so wird es vielleicht den einen oder den andern aufhorchen machen, daß ich gestehe: Theodor Herzl zu lieben als einen der vollendetsten Menschen, die über die Erde gingen. Ja! Ein nur mittelguter Schriftsteller, ein Literat, Journalist nicht weit über Durchschnitt; auch als politischer Organisator, Wirtschaftstechniker und Staatsmann keineswegs vom Formate Bismarcks oder Lenins. Aber wenn wir die Briefe, die Tagebücher, die vielen Gelegenheitsschriften Herzls in ihrer Gesamtheit nehmen, so steigt aus ihnen empor ein Menschenbild von solcher Inbrunst und Kraft des Herzens, von so riesiger Selbstzucht des redlichsten Willens und vor allem von so starker Sachlichkeit, daß nahezu alle Bilder machtvollerer Hirne, klügerer Staatsmänner und kräftigerer Tatmenschen vor diesem reinen und lauter strahlenden Bilde verblassen. Er kam aus dem Samen Spinozas oder jenes Jesus, den Konstantin Brunner allein für unser Judentum in Anspruch nimmt. Aus dem Samen unserer großen rabbinischen Weisen, die Martin Bubers treuer Fleiß von den Toten erweckt hat. Und dieses Menschenbild ist durchaus nicht das eines von Natur schlackenlosen, von Geburt Begnadeten, aus dem Reiche der an Güte Erbreichen, nein! Bild des Ringers und Kämpfers, der mit seinen Zwecken wuchs, täglich neu sich zusammenraffte und in einem Leben von nur 45 Jahren sich zum Führer emporläuterte, sein Herz (und das ist ganz wörtlich zu nehmen) bis auf die letzte Muskelfaser verbrauchend für die Notwendigkeit der Sache. Wohl kaum je ist Einer so unwissend, so ganz unvorbereitet, so optimistisch und zäh vertrauend an eine Sache geraten, die dank ihrer eigenen Wesenskraft sich durchsetzte und ihn mit sich zum Aether trug. Wie man mit Recht von Kant gesagt hat, daß er seine Leistungen nie vollbracht hätte, wenn er die seiner Vorgänger, wenn er zumal die Lehre Humes, die ihn anregte, wirklich gekannt hätte, den Judenstaat zu begründen, wenn er gewußt hätte, was andere, was zumal Pinsker und Moses Heß schon vor ihm gedacht, viel klarer als er gedacht hatten. Noch haftete an Herzl ein Erdrest menschlicher Eitelkeit – Erbteil der im Ghetto Verdrückten – bis er schließlich, die Hohlheit der politischen, der historischen Komödie überschauend, froh und frei vor Kaiser und Papst treten, mit Fürsten der Geburt und des Geldes verkehren lernte, von Witz und Glanz der Menscheneitelkeiten ungeblendet, stolz und demütig sich der Sache opfernd.
Die Wege, auf denen unser Zionismus zum Siege kam, im Stiche gelassen vom jüdischen Großkapital und Kleinkapital, im Stiche gelassen fast von der gesamten jüdischen Intelligenz, im Stiche gelassen vom liberalen jüdischen Mittelstand, eine Angelegenheit nur der darbenden jüdischen Massen und ihrer Zionssehnsucht, nicht durch Juden gefördert, sondern weit eher durch Nichtjuden (denn was wäre wohl aus Herzls Arbeit geworden ohne jene sonderbaren Käuze: den Theologieprofessor Hechler, den Baron Nochalski, grand Seigneur déchu?), – der Weg, so sage ich, den unser Zionismus nahm – wohl die wunderlichste Geschichte einer politischen Bewegung – hat schließlich zu andern Gebilden, andern Ueberzeugungen geführt als Theodor Herzl voraussehen konnte. Es gab so Vieles was er nicht sah! Die arabische Frage, die Möglichkeiten des religiösen, des kulturellen Zionismus, die Wiedergeburt eines noch naturverbundenen, ich sage getrost eines altheidnischen Judentums (ich nenne nur den einen Namen: Gordon). Er war Politiker, nichts als Politiker; einseitig und darum stoßkräftig. Und seine Politik war dieselbe, die heute die Welt beherrscht: Politik des nationalen Staatengeschäftes, der nationalen Wirtschaft. Jüdische Nationalpolitik!
Da nun stellt sich uns mächtig entgegen der stärkere Mann, der andere große Jude des 20. Jahrhunderts: Karl Marx. Von Rabbinern abstammend, von Talmudisten, und durch und durch ein Vernunftmeister und Hirnweber aus der Hegelzeit. Ganz Wille, ganz Kopf! Als Mensch keineswegs so wohltuend geschlossen wie Theodor Herzl. Ein von Launen und Stimmungen abhängiger, reizbarer Einzelgänger. Tag und Nacht schuftend und ein Leben führend etwa wie der Bocher in Ostgalizien, der immer „lernt“ und „lernt“. Aber: völlig sachlich, und nüchtern, daß er am liebsten die Sehnsuchtsträume des Menschenherzens, die Ideale und Utopien, ersetzt hätte durch mathematische Ziffern. Und doch ist dieser Mann weit zukunftsschwerer als der warmherzige und hochgesinnte Theodor Herzl. Denn er erlöste die Welt von dem gräßlichsten Alp, von dem gräßlichen Fluche Weltgeschichte oder klarer und direkter gesagt von dem Fluche: „Starke Persönlichkeit“. Möge es Alexander sein oder Napoleon, möge der Mensch so groß sein, so edel wie immer, möge es selbst Budha sein oder Jesus – so lange die Menschheit abhängig bleibt vom Einzelmenschen, so lange sind Völker wie Seelen unerlösbar. Der Individualismus, so könnte man sagen, verhindert die Individualität. Individualismus ist Gleichmacherei: Versklavung, Verstaatlichung aller! Solange Völkergeschick und Massenschicksal abhängig bleibt von der Frage, wie wohl der Kaiser geschlafen hat, was wohl der Papst meint, ob der General so beschließt oder so, ob der Minister dies wünscht oder jenes, so lange bleibt „Weltgeschichte“ der uferlose Ozean von Blut und Schweiß, von Galle und Träne. Marx aber erlöste die Politik von der Macht, für welche Herzl verblutete: vom Nationalismus. Der nationale Staat, die nationale Wirtschaft, die nationale Ethik, die nationale Logik, das erkannte Marx als Lüge. Mag an seinen Lehren dieser oder jener Gedanke zeitbedingt und vergänglich sein. Sein Prinzip: die Unbedingtheit und mithin die Internationalität der weltordnenden Vernunft, emporgetragen durch die Macht der Not, durch die Macht des internationalen Leides aller duldenden und hungernden Menschen, dieses Prinzip, dies Prinzip des Schmerzes, erwies sich als das siegreiche, denn es ist die Wurzel des Geistes selber. Und ich scheue nicht zu bekennen, daß ich angesichts der Gedankenarbeit des großen Wirtschaftsdenkers auch die politischen Taten und Mittel Herzls – (alles Antichambrieren und Diplomatisieren, all den Kuhhandel an den Höfen, in den Parlamenten, die Geheim- und Wichtigtuerei der Kabinette, ihre Staatsverträge und Handelsverträge) – für recht zeitbedingt, recht vergänglich, ja zuletzt für komisch und zwerghaft halte.
Und doch bist Du Zionist? Zionist und Sozialist in Einem?
Mein ganzer Wunsch ist, der jüdischen Jugend zu zeigen, daß dies nicht unvereinbar ist: Zionist und Sozialist, national und international zu sein, ja daß die Zukunft und Größe des Judentums darauf beruht, daß unser Volk als ältestes und jüngstes, dieses scheinbar Unvereinbare als Eines eben ist und eben darlebt.
Zunächst freilich scheinen hier (auf der Ebene bloßer Verständigkeit) Widersprüche zu obwalten. Wir wissen es ja, welche Schwierigkeiten die Poalezionbewegung zu bewältigen hat. In Rußland darf der Jude Kommunist sein, nicht aber Jude. In Oesterreich schließt sogar die Sozialdemokratie die Zionisten von ihren Organisationen aus. Eine kurzsichtige Maßregel! Denn das Nationale ist überhaupt kein politisches Prinzip, sondern nichts als naturgegebene Tatsache. Und welchen Sinn hätte denn wohl die internationale Regelung der gesamten Erde als den: Jeder Menschart, jeder Landschaft, jeder Nation zu ihrem Recht zu helfen. Nationale Rechte aber hat jede Nation im selben Maße, als die Träger ist der internationalen Werte. Durch die Sozialisierung der äußeren Güter werden die Seelen befreit, die Einzelmenschen erlöst.
Vorläufig aber sieht es noch so aus: Die großen Theoretiker der Zeit stellen uns zur Wahl: Hie Sozialismus, hie Nationalismus. Diejenigen, die dem Judentum eine übervölkische oder zwischenvölkische Sendung geben (ich nenne als Beispiel Popper Lynkeus oder Konstantin Brunner), wissen nichts, wollen nichts wissen von der nationalen Kraft des Judentums, von der Kraft des Nationalen. Und umgekehrt, unsere Führer zum Zionismus, unsere nationalen Erzieher, fassen den zionistischen Gedanken noch so eigenwillig, als wäre es unser Ziel, uns zu erhalten. Nein! Unser Ziel ist, uns der Erhaltung wert zu machen. Das aber heißt: als eben dieser Mensch, dieser nationale und landschaftlich und biotisch bedingte Mensch zugleich Träger sein jener Werte, die nicht einem Volke gehören, sondern allen Völkern. Nur als Träger der internationalen Idee darf, kann, muß der Jude national sein. Mißt sich nun Würde und Höhe des Menschen daran, daß er widerspruchlos in klarer Schönheit in sich als Einheit darlebt, was auf der Ebene dialettischer Klugstreiterei „widerspruchsvoll“ erscheint, so dürfen wir, das älteste aller Völker, uns rühmen: zugleich heute zu sein das freieste und das treueste: gebunden an unsere Erde, aber Hochhalter des Lichtes, national und international in Eins.
Und nun ein Drittes: Mit Politik, Wirtschaft, Logik, Ethik ist es nicht getan. Man kann uns soll auch gleichzeitig „Jude“ sein. Jude sein, damit meine ich etwas Religiöses; also schlechthin Unpolitisches und Nichtsoziales, etwas ganz Persönliches. Denken wir nun an den Weg der Misrachim, etwa an den Weg Mathias Aschers oder denken wir an die große freie religiöse Kultur, etwa den Weg Martin Bubers zu den Chassidim, – es liegt jedenfalls keinerlei Widerspruch und nichts Hemmendes darin – (so sehr diese Einheit von Zionismus, Sozialismus und religiöser Verbundenheit heute noch manchem fremd ist) – in Eines Religion, Heimat, Volkstum und internationale Ordnung der Erde zu verkitten. Nicht als Synkretismus, nicht als Amalgam, sondern als Einheitskraft des Lebens selbst.
Religion ist ja doch nicht eine Angelegenheit des Menschen als Menschen. Der ganze menschliche Kreis, die ganze Geschichte der Erde ist kurze Episode innerhalb des kosmischen Seins, dem sich verbunden, darin sich geborgen weiß der Religiöse, der (das ist wörtliche Verdeutschung) „Verbundene“, durch den, wie durch alle Menschlichkeit, jene Schicksalsgewalt, der wir dienen, hindurchgreift.
Daß nun das Judentum einst dieser Macht, die wir Gott nannten, sich ans Herz legte ohne Mittler, unmittelbar und näher an Gottes Herz als sein bedürftigstes und kränkestes Kind: wohl! es mag Stärke sein. Aber das ganzeJudentum ist das nicht, nicht jenes Judentum, das auch im Baum und in der Wolke, in Wasser und Flamme, in Blume und Tier den Gott sah, jenes vor dem Schicksal noch stumme Judentum, welches (ich gebrauche Worte Martin Bubers) noch nicht den anredbaren Gott kannte, noch nicht fühlte wie jenes Israel, „das Leben als ein Angesprochenwerden und Antworten, Ansprechen und Antwortempfangen, als Verantwortung“. Nicht alle Religiosität ist Monolog der einsamen Seele, und weniger noch Dialog der Seele mit Gott. Spinoza hat völlig Recht! Gott greift durch uns hindurch. Wir sind; Er ist. Da gibt es kein Eins und keine Zwei. Was aber hat denn nun diese kosmische Allverschlungenheit zu schaffen mit unserer zeitlichen und flüchtigen Menschlichkeit, mit Jude oder Christ! Man muß da unwillkürlich denken an jene köstliche Belehrung, die einst Goethe dem Schiller erteilte. Dieser hatte ein Epigramm geschrieben: „Welche Religion ich bekenne? Keine von allen, die Du mir nennst. Und warum keine? Aus Religion.“ Goethe aber sagte, der Spruch sei recht gut, man müsse nur statt des Wörtchens keine besser setzen: Jede!
Jüdische Jugend! Du darfst dieses harmonische Einessein darleben. Was für uns Aeltere noch Problem und problematisch war: „wie kann ich zugleich sein ein guter Deutscher und ein guter Jude?“, „ein guter Tscheche und ein guter Jude?“, „ein guter Engländer und ein guter Jude?“ oder was immer! – „wie läßt sich Nationalismus und Sozialismus versöhnen?“, „wie kann ich religiös sein und ein Politiker?“ – für Dich sind alles Dieses keine „Probleme“ mehr. Du lächelst über diese Streitereien und mit Recht. Du hast den ruhigen und klaren Einheitspunkt, darinnen all diese scheinbaren Widersprüche des Verstandes sich ganz von selber lösen. So wächst Du heran stolz und froh. In Deinen besten, körperlich ertüchtigten, gesund und stark gewordenen, seelisch und leiblich heilen und genesenen Exemplaren die schönste und beneidenswerteste Jugend, die heute auf der Erde zu finden ist. Möge Barissia ihr weiter Heimat sein.