SCHEUER, MIRJAM: BEMERKUNGEN ZUR JÜDISCHEN LITERATUR VON HEUTE

Zur Biographie: Mirjam Scheuer

In: Selbstwehr, 19. Jahrgang, Ausgabe 9 vom 27.02.1925, S. 2f

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Sokolow, der soeben seine Reise beendet, die nach den Triumphzügen Ussischkins und Weizmanns als die dritte Heerschau der letzten Monate über das aktionsbereite Judentum Europas gelten kann, – Sokolow schrieb eine Novelle „Der neue Jude“, die der Wiener Renaissanceverlag jetzt als Büchlein erscheinen läßt. Sie enthält den Werdegang eines Bochers, der tiefreligiös und von genialer Begabung, von allen Formeln politischer und ethischer Gegenwartsfragen unangefochten, zur Erkenntnis gelangt, daß „Jude sein“ wahre Religion wie wahre Volksarbeit in sich schließt und sein Leben als „persönlicher Zionist“ in Palästina aufbaut. Diese kleine Novelle enthält im Kerne all das, was Stärke und Schwäche der gegenwärtigen jüdischen Erzählung ausmacht, die seit der Umwandlung und Verkörperung des jüdischen Volksgedankens nur noch einen Gedanken hat: Das Leben des Juden, wie es ist, wie es war, sein sollte, sein wird. Die Sorge, die sich in diesen ständig variierten Themen äußert, ist recht sonderbar: einerseits erscheint sie geradezu wissenschaftlich bemüht, das Heute für die Kultushistorie des späteren. besseren Volkes aufbewahren zu wollen, andererseits ist sie oft tendenziös, eine Erweckungs- und Einkehrlektüre, die von rechtswegen durch eine Mission herausgegeben werden müßte.

Es ist das kein künstlerischer Fehler, aber ein besinnlicher. Die Literatur darf Prophet und Tyrtaeus sein, es ist ihre Pflicht, den Gefühlen der Gesamtheit einen höheren Ausdruck zu geben, sofern dieser ein persönlicher ist (nur dann ist er ein höherer). Und sie darf und muß nur das schildern, was sie sieht. Aber das Sonderbare ist, daß diese Literatur eben nur den Juden sieht, immer wieder ihn, die Anderen nur als seine äußeren Bedingtheiten, ohne daß sie ihr ein eigenes Interesse erwecken könnten. Das ist die Weiterentwicklung unseres Intellekts: beim ersten Auszug nahm man die Schätze der andern mit, so viel man von ihnen erraffen konnte. Beim zweiten Auszug trennte man sich von ihnen durch eine sorgfältige Zwischenschicht. „Rückkehr ins Judentum?“ Rückassimilierung an einen Begriff, der uns ebenso fremd ist, wie es uns der der Wüste war, an den wir uns zuerst assimilierten. Rückassimilation an sich selbst und als vorsichtige Zwischenschicht zwischen dem Gestern, das der Jude unter Fremden erlebte, und dem Morgen, das er unter Juden erleben soll, wird das Heute als eine Isolation, wo er sich beschauend mit sich allein ist, eingeschaltet. (Dieser Einstellung ermangelt nur jene Literatur, der die Vorbedingung der Assimilation des Gestern fehlt, die eine jüdische Vergangenheit hat: die der Ostjuden. Aber von der ist hier nicht die Rede.)

Wenn der Jude (des Westens) sich als Jude fühlen werde, so müßte er nicht eben an dem heutigen Zeitpunkte sich selbst erforschen, abschildern und moralisieren. Das Gegenteil wäre der Fall, ein letztes dankbares und inniges Beschäftigen mit den Anderen, denen er, ob räumlich oder geistig, morgen schon entfremdet sein wird. Ein letztes Zusammenfassen, Erfassen der Güter, mit denen er zum letzten Male so vertraut ist, so wie man aus einer schönen fremden Landschaft sich Andenken mit nach Hause nimmt. Aber der Jude ist seiner selbst nicht sicher. Solch letzte Steigerung dessen, was er bisher genoß, wäre eine Gefahr, sich aufs neue zu verlieren. Und dann ist das Eigene noch gar nicht erfaßt. Dieses Heute ist der Augenblick, wo das Fremde schon losgelassen, das Eigene noch nicht ergriffen wird. Und so faßt er mit beiden Händen danach.

Die Gegenwart des Juden wird mit einer fast feindseligen Objektivität in Lacretelles „Silbermann“ dargestellt. Der hochgesinnte junge Arier, der sich des Juden annimmt, weil er dessen geistige Ueberlegenheit im gleichem Maße bewundert, wie dessen bedrängte Lage seine ritterlichen Instinkte entflammt, fällt von dem Juden ab, durch die schäbigsten und menschlichsten Nöte getrieben. Das Buch schildert beide Jünglinge, den einen als Menschen, den andern als Rassetypus mit gleicher künstlerischer Sorgfalt. Der Jude nimmt allen geistigen Besitz der anderen in einer nachschöpferischen Weise auf (die, sehr gut geschildert, ein Zwischending zwischen Produktion und Reproduktion darstellt), ist tapfer, verbissen, prahlerisch und berechnend, erhebt den anderen auf den Fittig seiner erborgten Fähigkeit zur Höhe – das alles, dieses Spiel und Widerspiel, zeigt mehrmals den Juden allein, zeigt weniger ihn im Verhältnis zu seiner Umgebung, als seine Umgebung im Verhältnis zu ihm. Diese schonungslose Novelle ist sehr schön. Sie stellt schon einen höheren Grad der Selbstbetrachtung dar, jenen, der sich den andern zum Maßstab nimmt, nicht um zu dem optimistischen Schluß zu kommen, daß jener wenigstens nicht besser ist, sondern zu dem realistischen, daß sie „beide elend sind.“

Aber sonst ist für unsere Literatur dieser Zeit die Sehnsucht nach der positiven, nicht nach der objektiven Selbsterkenntnis typisch. Man sucht den Helden im Juden, den Helden, der nach Carlyles Definition den ritterlichen und persönlichen Wert in gleich ungewöhnlichem Maße besitzt. Daraus resultiert die Schilderung heroischer Judenkämpfe, die, so wie seinerzeit im Buche „Jiskor“ ziemlich lesebuchhaft in dem Büchlein Poljekins „Helden und Kämpfer“ (Renaissanceverlag) dargestellt wird. Es ist der Fehler unserer Sehnsucht, daß wir solche Schriften, seien sie literarisch auch noch so belanglos, nicht ohne Ergriffenheit lesen können. Wenn wir diesen Fehler überwinden, so sehen wir, wie wir uns selbst ins Romantische zu verlocken trachten, wie der Kampf des Morgen mit dem Zauberschleier der Aventiure verhüllt wird, um die Abenteurer- und die Heldenlust zu entfachen. Das ist die Art eines Volkes, das seine „Wiedergeburt“ so wörtlich nimmt, daß es sich jetzt in den Gymnasiastenjahren glaubt und an die edle Tatenlust der Halbwüchsigen appelliert. Aber Kunst ist es nicht. Aufrufe und Angelegenheiten der Flugblätter und Zeitungen. Literatur gibt das Gefühl des Einzelnen nur dann wieder, wenn es sein persönliches Gefühl ist. Tendenziöse Literatur muß sich in Acht nehmen, sonst kommt sie auf den Hund oder gar auf den Judenfresser Bartels, der neulich (in seinem „Deutsches Schrifttum“) seine „Deutschvölkischen Gedichte“ so charakterisierte: „Daß meine Sammlung dichterisch nicht mit Arndt und Dingelstedt zu vergleichen ist, weiß ich selbst genau, aber es gibt keine zweite, die die Entwicklung von 1923–24 so deutlich spiegelt …“

Ohne im Entferntesten zu glauben, daß jemals ein jüdischer Schriftsteller sich auf dem Niveau Bartelsscher „Gedichte“ befinden könnte, muß man doch vor der Gefahr warnen, die Entwicklung widerspiegeln zu wollen. Morgenröte ist kein kontinuierlicher Zustand; sie hat vorüberzugehen, um das volle Tageslicht auf die Dinge fallen zu lassen. Etwa so, wie das in Gronemanns beiden Büchern geschah, in „Tohuwabohu“, das die Erlebnisse der Juden, in „Hawdoloh und Zapfenstreich“, das die Erlebnisse des Juden darstellte, – nein, nicht darstellte, sondern bemerkte, mit jener scharfen und geistvollen, nachdenklichen und überlegenen Genialität, die die des Epigrammatikers ist.

Dort, wo unsere Literatur nicht auf das individuelle Empfinden zurückgeht, sondern wo der dichtende Mensch nur dichtender Jude ist, gibt es nur zwei reine Quellen der Kunst: vorerst den Osten. Nicht derart wie in Bernhards interessantem Schauspiel „Jagd Gottes“ (Volksbühnenverlag, Berlin), das einen, wie mir scheint, völlig westlichen Konflikt (den „Vaterkomplex“) ins Milieu einer ostjüdischen Gemeinde transponiert und damit, anscheinend absichtlich, nichts als eine ungeheure Verwirrung zustande bringt. Sondern jenes Ostjudentum, das Buber vermittelt und die Uebersetzungen jüdischer und hebräischer Dichtungen, um dessen Material sich Eliasberg bemühte und dessen Volkslieder Nadel und Kaufmann uns brachten (das größere Sammelwerk ostjüdischer Lieder von Günzburg und Marek, Petersburg 1901, ist leider dem deutschen Leser noch nicht leicht zugänglich).

Und als zweites die Forderung jüdischer Dichtung und Betrachtung auf anderen Zeiten, so wie dies dem „Weltverlag“ jetzt mit der Heraushabe der Confessio judaica Heines gelingt. (Die allerdings Eulen nach Athen trägt, denn welche Zeilen von Heinescher Hand gibt es, in der er sich nicht, nolens volens, als Jude bekannt hätte): oder die Nachdichtung biblischer Lyrik, wie sie in einem prächtigen Deutsch durch Manfred Sturman vollbracht wurde („Althebr. Lyrik“, Allgem. Verlagsanstalt, München).

Alles dieses und nur dieses ist jüdische Literatur, weil es Kunst ist, die selbstverständlich und aussichtslos jüdisch ist. Dort, wo die Absicht zum Jüdischen besteht, mag das Jüdische zustandekommen, nicht aber die Literatur.