SCHEUER, MIRJAM: RADIKALER ZIONISMUS
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In: Selbstwehr, 20. Jahrgang, Ausgabe 13-14 vom 29.03.1926, S. 13
[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]
Die Schierigkeit, das Wesen des radikalen Zionismus darzulegen, ist identisch mit der Schwierigkeit, der zionistischen Ideologie das Supremat in unserer heutigen Arbeit zu sichern. Diese Schwierigkeit ist sehr groß, da die Behauptung, daß die zionistische Ideologie dieses Supremat verloren habe, als nicht diskutabel, fast als eine Beleidigung der Organisation empfunden wird. Während sich der Majoritätszionist ohne weitere Empfindlichkeit von seiner Leitung im Ijaraufruf sagen läßt, er müsse „in seinem Herzen begreifen lernen, was der Zionismus bedeute – und daß es keinen Ersatz für Zionismus und keine Abschwächung seiner Wahrheiten geben kann“, empfindet er die gleiche Feststellung im Programme der Radikalen als eine ungeheuerliche Verdächtigung. Deshalb greift er dort, wo der radikale Zionismus in Erscheinung tritt, – beim Kampfe gegen die Politik der Leitung, beim Kampfe um die Souveränität des Kongresses, beim Kampfe um das Jewish Agency-Projekt, – diese zufälligen Anlässe heraus, um den radikalen Zionismus damit zu motivieren. Er will nicht begreifen, daß diese alle nur zufällige, wenn auch bedeutungsvolle, verhängnisvolle Anlässe sind, an denen sich die Einstellung des radikalen Zionismus manifestiert: daß dieser selbst aber nicht Opposition gegen „Personen“ oder gegen ein Projekt bedeutet, sondern eine prinzipielle Anschauung ist, die keinen aktuellen Ursprung aus politischen Ereignissen nahm, sondern tief und wesentlich die zionistische Existenz aller ihrer Anhänger kennzeichnet. Der radikale Zionismus ist die Forderung nach dem unbedingten Supremat der zionistischen Ideologie innerhalb der zionistischen Bewegung; das ist keine neue und keine sensationelle Forderung. Sie wurde es erst dadurch, daß der Majoritätszionismus sich neben der theoretischen Anerkennung des ideologischen Supremats ein Aktionsprogramm anfertigte, das die weitesten Abweichungen von der Theorie gestattete. Dieses Aktionsprogramm, nach dessen Weisungen die Organisation geführt wird, machte die Bewegung zu einer Kette zusammenhangloser Ereignisse, zerlegte sie in einzelne Phasen, die jeweils von den Forderungen des Augenblicks und dem Streben nach dem Augenblickserfolgt geformt waren. Sie raubte ihnen die Kontinuität, die aus der Reihe aufeinanderfolgender Schritte die einheitliche Bewegung schafft: diese Kontinuität ist die Ideologie. Da sie fehlte, wurden die einzelnen Effekte unter dem einzigen Ziel größtmöglichsten Erfolges im Augenblick angestrebt; und wo immer dies das einzige Ziel ist, ist der einzige Weg dazu das Kompromiß, das alles um des Erfolges willen zu geben bereit ist. Die Organisation hatte nur einen Besitz zu vergeben: ihre Ideologie. Diese mußte, wo immer ein Kompromiß geschlossen wurde, zum Opfer gebracht werden; und sie wurde zum Opfer gebracht. Wie schrankenlos diese Kompromißbereitschaft war, zeigte sich in der Frage der Jewish Agency.
Da die Kontinuität der Arbeitsepisoden fehlte, mußte jede dieser Episoden sich vollziehen, als wäre sie allein vorhanden: mit Beanspruchung aller Kräfte. So sahen und sehen wir bei jeder zionistischen Aktion Befehl zur Anspannung aller Kräfte, die Vorstellung, daß es heute und nur heute um alles ginge, – der Zustand einer perpetuellen Krisis, in die keine Kraft von gestern kam und keine für morgen aufbehalten wurde, in der alles nur dem Heute galt.
Der radikale Zionismus hat kein realpolitisches Aktionsprogramm neben seinem prinzipiellen Programme. Er hat nur das eine Programm, die unverletzliche zionistische Ideologie als einziger Motor aller zionistischen Arbeit. Deshalb gibt es für ihn kein Kompromiß, denn Ideologie und Kompromiß sind antagonistische Begriffe. Ideologie ist essentiell Unbedingtheit; Kompromiß bedeutet Bedingtheit. Das eine ist der Tod des anderen.
Wo immer der radikale Zionismus praktisch erscheint, muß er demnach dem Wesen des heutigen Majoritätszionismus entgegengesetzt sein. Da er nichts mehr und nichts anderes als das Phänomen des Zionismus darstellt, gelingt es dem Beschauer, der gewohnt ist, sich alle Zionisten unter bestimmten Ettiketten zu einer Art Kongreßpanorama zu gruppieren, wo er sich von links nach rechts und in allen Farbennuancen des Zentrums von tiefschwarz bis stagelgrün leicht zu orientieren vermag, nicht, den Radikalen zu placieren. So glaubt er in ihm einen gelegentlichen Oppositionellen ad hoc, zur Jewish Agency und derlei, zu verstehen und begreift nicht, daß es nicht die Anlässe, daß es der Geist ist, welcher die Anlässe der Jewish Agency und derlei geschaffen hat, gegen den es hier geht.
Der radikale Zionismus ist keine Fraktion. Er hat kein ephemeres Kongreßmotiv und kein Separatsprogramm. Er ist die sichtbar gewordene gewaltige Strömung, die ehedem in der Organisation universell war und heute auf einen kleinen Teil der Organisation beschränkt ist, morgen aber wieder universell sein wird: der unbedingte, kompromißlose herzliche Zionismus.