BAUM, OSKAR: DIE FRAU UND DIE REVOLUTION

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In: Selbstwehr, 13. Jahrgang, Ausgabe 19 vom 09.05.1919 im Beiblatt „Jüdische Frauenzeitung“, ohne Seitenangabe / Ausgabe 22 vom 30.05.1919 im Beiblatt „Jüdische Frauenzeitung“, ohne Seitenangabe / Ausgabe 26 vom 27.06.1919 im Beiblatt „Jüdische Frauenzeitung“, ohne Seitenangabe

 

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Ausgabe 19 vom 09.05.1919 im Beiblatt Jüdische Frauenzeitung (hier datiert auf den 16.05.1919) *)

Wir geben hier den Vortag des bekannten Prager Dichters wieder, den dieser im Rahmen der politisch informatorischen Vorträge der Prager Ortsgruppe des V. j. F. hielt.

Sind die Frauen die Hälfte der Menschheit? Ich meine: Tragen sie die Hälfte der Leiden und die Hälfte der Leistungen?

Was die Leiden betrifft, dürfte es wohl bei weitem die größere Hälfte sein, aber die Leistungen, die aufwärts reißenden Ergebnisse und Taten stehen in beleidigendem Mißverhältnis fast nur bei den Männern.

Die Frage wäre auch ungerecht, wenn nicht die Frauen selbst sie stellen würden, denn sie sind physiologisch geringer dotiert (kleineres Gehirn, zartere Muskeln, Knochen). Das Verlangen nach Gleichberechtigung ist dennoch nicht nur wie wir heute sehen, keineswegs hoffnungslos, sondern auch nicht unbegründet, nicht etwas weil sie der Zahl nach etwas mehr sind, aber weil ihre Ueberlegenheit in manchen wichtigsten Lebensdingen ganz offenkundig und den Männern nur allzu deutlich fühlbar ist.

Es bleibt darum nichts anderes übrig, als bei jeder einzelnen Frage ihre Veranlagung und Erziehungsmöglichkeiten zu aktiver oder passiver Teilnahme zu untersuchen.

Was ist denn nun Revolution? Ist es etwas, das plötzlich gewaltsam die Entwicklung unterbricht, mit Zerstörung und Verneinung in die friedliche Arbeit der Jahrhunderte hereinsaust, wie ein Gewitter die Luft reinigt, und nachher geht erst wieder die aufbauende Tätigkeit der Menschheit weiter?

Den größten Verneiner des vorigen Jahrhunderts, den Begründer des Anarchismus Bakunin, der überall nur das Unzulängliche sah und immer etwas niederzureißen haben mußte, um lebendig zu werden, fragte einst ein Freund, was er denn täte, wenn seine Forderung erfüllt und die Menschheitsordnung ganz in seinem Sinn aufgerichtet wäre. „Sie wieder umstürzen“, antwortete er in vollem Ernst. Und das war nicht simple Freude am Paradoxen. Revolution ist ein ständiger und vielleicht der positivste Zustand des einzelnen Geistes, des öffentlichen Lebens, der sozialen Verhältnisse, von unmittelbarer, nicht von mittelbarer Fruchtbarkeit, von der höchsten Warte aus gesehen für die entwickeltesten Persönlichkeiten der einzig mögliche Zustand.

Wie nun ist das zu verstehen?

Es braucht wohl keiner besonderen Beweise, um einzusehen, daß wir uns immerfort im Kompromiß befinden, auf allen Gebieten, nicht nur in der Politik, wo es am leichtesten ins Auge springt. Was auch mit reinster und unbedingtester Forderung und Hingabe gegen irgend ein Unrecht ankämpft, – wenn es zur Macht kommt, ist es von irgend einer anderen Seite her ganz gewiß nur wieder wert gestürzt zu werden. Denn was zur Form gerinnt, existente Tatsache wird, muß sich unausweichlich irgendwo mit hingenommener Halbheit, mit geduldetem Unrichtigen beflecken, sich einerstanden und zufrieden damit erklären, daß man das Vollkommene nicht erreichen kann. Nun: Sich in fauler Dumpfheit in die Autorität des Bestehenden, des zufällig Gewordenen ducken, sich fügen, wenn man weiß, wie es zu bessern wäre, ist für ein denkendes Wesen unerträglich. Das Bessere, ideegewordene Neue kann aber nicht anders Wirklichkeit werden und das Alte überwinden, als indem es auf dessen Boden herabkommt und seinerseits wieder Autorität wird. Autorität aber heißt ja befehlen statt überzeugen, kann also nicht anders als Unrecht haben. So ist Kampf der einzige Zustand, in dem sich die reine Seele mit unbeschwertem Gewissen vorwärts kommen fühlt, unterwegs, der ewige Kampf gegen das Unvollkommene.

Das heißt natürlich nicht, daß man immer möglichst das allen Entgegengesetzte denke, spreche, tue und jeder eine Partei für sich bilde, wie es den Intellektuellen, namentlich unter den Juden, zur Rettung ihres Weltgefühls unumgänglich scheint. Das ist im Gegenteil das gefährlichste Hindernis der Bildung einer wirklich freien eigenen Meinung, denn Eitelkeit ist stärkste Abhängigkeit vom Urteil der Anderen. Revolution ist aber nichts anderes als bis zur Tat fortgeschrittener Ausdruck unabhängigen Urteils.

Man erwartet jetzt vielleicht ein langes schönes Loblied auf die Rolle der Frau in den Revolutionen aller Zeiten: Wie sie trotz ihres zarten Leibes im Kampf um Recht und Freiheit, die klirrende Männersache ist, im vordersten Glied stritt und ihre Heldentaten durch die Jahrhunderte schimmern. Von Antigone und der Mutter der Gracchen an bis zur berühmten Großmutter der russischen Revolution, von der roten Marallen, die den Bauernaufstand von 1525 mithervorrief bis zur Rosa Luxemburg im jüngsten Berlin, von der kleinen Spitzenhändlerin Madame Goriot, die auf einem eiligen Geschäftsgang zufällig einen Zettel fand, den ein verzweifelter Unschuldiger aus dem Fenster des Gefängnisses geworfen hatte und die im Innersten gepackt, Mann, Haushalt und Geschäft vergaß, ganz Paris anzündete und in alle Ohren schrie, neben was für einer ungeheueren Gemeinheit sie es sich wohl gehen ließen und so mit ein Anstoß wurde zur großen französischen Revolution.

Diese neben all den Revolutionsmännern spärlichen Beispiele sind nur Beweis, daß nicht die Natur, die physiologischen Begebenheiten der Frau die befreiende Tat und Denkweise versagten und ein Kronzeuge mehr für die Anklage, die ich erheben muß.

Die Revolution, trotzdem sie sich in Parlamentsgetriebe, in Straßenreden und Regierungsdekreten äußert, ist nicht nur eine politische Angelegenheit. Das Politische ist eigentlich bloß die letzte Konsequenz, der formelle Schlußpunkt. Auch die wirtschaftlichen Ursachen und Wirkungen sind es nicht allein; alle, auch die geheimsten Kräfte und unbewußten Beziehungen in der Gesellschaft treiben zu ihr hin und werden durch sie beeinflußt. So wie der wirksamste Widerstand gegen jede Tyrannei die Erziehung jedes Einzelnen zu scharfem eigenem Blick und unabhängigem, logischem Denken ist, besteht im sittlichen Antrieb jeder einzelnen Seele, dies Urteil in der Welt der Tatsachen zu vollstrecken, die eigentliche Revolution.

(Fortsetzung folgt.)

 

Ausgabe 22 vom 30.05.1919 im Beiblatt Jüdische Frauenzeitung (hier datiert auf den 05.06.1919) (Fortsetzung.)

Jeder soll in seinem Inneren und um sich her in allem, was ihn persönlich angeht oder was er sonst beherrscht, durch erstarrte gewohnte Anschauungen zur lebendigen natürlichen Wahrheit durchbrechen, bei jeder einzelnen Handlung sich fragen, ob das Angenehme, Sichere, Unauffällige, Uebliche nicht mit dem nach dem Gewissen Richtigen, Wahrhaftigen in Widerspruch steht. Er soll sich nicht mit halbem und Falschem aussöhnen, um des lieben Friedens willen, bei erkanntem Unrecht, bei Niedrigkeit und Gemeinheit neben sich nicht ruhig bleiben. In der Schwäche gegen das augenblicklich Bequemere, gegen das Beharrungsvermögen erkennt weiter Ueberblick das viel schmerzhaftere und gefährlichere Opfer als es die schwerste Selbstüberwindung und der Kampf gegen mächtigste äußere Widerstände sein kann.

Von diesem Gesichtspunkt aus nun, scheint mir, beweist die Frau im allgemeinen die völlige Unfähigkeit zur Revolution, die größte Neigung und Begabung für die Geschäfte der Reaktion, für das Verhindern der wagemutigen großen grundlegenden Neuerungen. Es liegt ihr nahe, alles auf die Unvollkommenheit der Welt zurückzuführen und ihrem Schöpfer die Verantwortung zu überlassen, ja geradezu das Schönere, Gottgefälligere, Fruchtbarere darin zu sehen, die Unabänderlichkeit des Vorhandenen zu ertragen, lieber unter dem Bösen zu leiden, als es zu bekämpfen. Sie sind ja auch überall die stärkste Stütze der zu Tradition und Dogma erstarrten Religionen, die fanatischeste Gegnerschaft der ersten Anfänge aller erneuernden Strömungen in der Kunst, in den sozialen Verhältnissen, den geselligen Formen.

Nur in einem sind sie ununterbrochen und ohne Ausnahme extrem revolutionär, in dem gerade der Mann im allgemeinen verstockt konservativ ist: In der Mode der Kleider, Hüte, Schuhe, Haartracht usw. Da duldet man keine Dauer und Erstarrung, alle Bahnbrecher werden bewundert und machen sofort Schule, die Kritik ist unaufhörlich wachsam, der wirklich individuellste Geschmack maßgebend. Seit dem berühmten und sehr amüsanten Buch von Fuchs über die Mode hat man dafür eine einfache und naheliegende Erklärung.

Auch die Modeerfindungen sollen zwar von männlichen Pariser Schneidern herrühren; dennoch möchte ich glauben, daß es der Frau möglich sein müßte, von hier aus die Behauptung zu widerlegen, daß sie ihrer Natur nach absolut unschöpferisch sei. Sie ist eben in diesem einen Punkt, wo das elementar aus ihrem Zentrum hervorbrechende Bedürfnis stärker war als alles sonst, ihrer Eigenart treu geblieben.

Der große Schaden für die Frau der letzten Vergangenheit und die große Gefahr für ihre Zukunft liegt in dem Bestreben nach möglichster Angleichung an die Art des Mannes, das unter dem sozialen Druck der erwerbenden Frau aufgezwungen wird.

(Fortsetzung folgt.)

Ausgabe 26 vom 27.06.1919 im Beiblatt Jüdische Frauenzeitung (Fortsetzung.)

Früher dachte man, es werden sich zwei Typen herausbilden: Die Arbeitende, die im Konkurrenzkampf dem Mann möglichst Nacheifernde und die, die, ihm zu gefallen, möglichst weiblich bleiben würde. Aber es will einerseits keine sich von vornherein entschlossen zum Zölibat verurteilen und andererseits bei den immer schlechteren Heiratsaussichten keine die Erwerbsmöglichkeit ganz außer Acht lassen. Ueberdies dachte die Frau einem mißverstandenen gesteigerten seelischen und geistigen Bedürfnis des Mannes durch gründlichere und vielseitige Bildung, durch politisches, künstlerisches wissenschaftliches Interesse ganz von seiner Art entgegenzukommen. Hundertmal mehr noch als es dem Assimilanten bei Entfaltung seiner Persönlichkeit schaden mag, daß er seine Volkseigenart verfälscht und unterdrückt, muß es alle natürliche Fähigkeit knicken, wenn die Frauen ihrer Art so Gewalt antun. Die Hebammen, sagt man in Fachkreisen, sind oft die tüchtigsten Frauenärzte, aber die Frauenärztinnen durchaus nicht die tüchtigsten Hebammen. Die erfahrene und unbefangen lebendige Frau kann oft Männer unterweisen, aber die studierteste und gelehrteste hat immer etwas Unselbständiges, Untergeordnetes dem Mann gegenüber. Ich bin aber deswegen keineswegs ein Gegner des Frauenstudiums; im Gegenteil! Aber es ist gedankenlos widersinnig, ein Wesen von ganz verschiedener Struktur genau in der gleichen Methode den gleichen Stoff mit dem gleichen Ziel zu lehren. Unsere Schule ist bekanntlich überhaupt äußerst reformbedürftig, aber die Mädchenschule scheint mir völlig auf dem falschen Wege. Die Frauenrechtlerinnen haben auf diesen Punkt, so viel ich weiß, zu mindest sehr wenig Gewicht gelgt. Sie waren nun einmal vom Willen zur Gleichheit in allen Dingen um jeden Preis hypnotisiert und Konten sich die Erlangung menschlicher Ebenbürtigkeit für die Frau auf keine andere Weise vorstellen.

Die jetzige politische Betätigung gerät aktiv und passiv zum Teil auf denselben Irrweg. Die Männerparteien, in die sie sich einfügen, enthalten nur zum geringen Teil und wenn, an letzter Stelle, Frauenfragen, Frauenangelegenheiten und Bedürfnisse. Gewiß bewegen auch die Frauen nationale, religiöse und soziale Probleme, aber, so weit sie nicht nachbeten, in ganz anderer Wertskala, (etwa leidenschaftlicher, aber nur in konkreten Details) was sich bei ehrlicher und beeinflußter Aeußerung sehr einschneidend fühlbar machen müßte. Soll es also wahr sein, daß die Frau ihren gleichberechtigten Platz in der Mitbestimmung der öffentlichen Dinge einnehmen darf, dann sollte sie es nicht als Nachahmerin des Mannes, sondern mit dem eigensten Ausdruck ihrer wirklichen Natur dürfen. Vielleicht könnten Frauen ein eigenes Frauenparlament wählen mit besonderen Zuständigkeiten, dessen Beschlüsse die Farbe ihrer Weltauffassung jedenfalls viel eher widerspiegeln würden. Es hieße ihre politische Reife leugnen, erwartete man hievon nicht viel Förderliches und es würde sich eben an diesem Prüfstein zeigen, ob man es mit der Gleichberechtigung ehrlich meint oder ob es nur eine demokratische Modedekoration der Parteiprogramme zu Wahlzwecken ist.

Neun Frauen in einer Versammlung von 400 Männern sind jedenfalls keine Vertretung und nachdem sie, – bezeichnenderweise! – ja auch gar nicht als Vertretung der Frauen gedacht sind, liegt gar kein Grund vor, daß die Frauen mit Bewunderung und Dank zu den weiblichen Abgeordneten aufschauen, sondern eher, daß sie diese politisch wohl Begabtesten unter ihnen, die die Angelegenheiten der Männer zu ihrem Lebensinhalt wählten, die Sache ihres Geschlechts nur nebenher mitnehmen und eigentlich verraten, als Abtrünnige ansehen. Die tiefgreifenden sozialen Umgestaltungen, die wir so oder so auf der ganzen Welt zu erwarten haben, werden unsere Kasten- und Arbeitsordnung, unsere Lebenshaltung erschüttern und mit allen übrigen Grundlagen der Gesellschaft auch die Stellung der Familie und Ehe mehr oder minder gründlich verändern.

Die Menschheit muß in ihrem Einheitsstreben, namentlich bei ihrer augenblicklichen Verfassung, in der Familienliebe ihren schlimmsten moralischen Feind sehen, da die Familie die Geburt- und Pflegestätte des gefährlichsten Egoismus ist, des Polyegoismus, der sich bestenfalls zur Vaterlandsliebe, zum sacro egoismo auswächst und damit die Heiligung und Verewigung des Krieges bedeutet. Bedenken wir doch die zügellose Selbstsucht dieser hart und kalt gegen die Menschheit abgegrenzten insichgeschlossenen ausgezeichnetsten Organisation, deren wenige Angehörige ausschließlich für einander streben, arbeiten, sparen, ausgeben. Alles was außen ist, ist gleichgiltig, fremd, hat bei guten Herzen immerhin Anspruch auf etwas Straßenmitleid.

Längst begann, seit einer ganzen Reihe von Generationen die Zersetzung der einstmals unantastbaren Privilegien des Familien- und Ehedogmas in der privaten und selbst öffentlichen Moral, in der Gesetzgebung. Das ging neben der Aufklärung und dem Sozialismus her. Längst sieht man in der Ehe nicht mehr das Panorama, das mit Elsa und Lohengrin beginnt und mit Phylemon und Baucis endet. Nicht mehr ist es der befriedigendste Abschluß auch der größten Kunstwerke ohne Grenze entlassen wollen, wenn sich die jungen Liebesleute kriegen. Die unverstandene Frau Ibsens und der unverstandene Mann Strindbergs griffen in tief erlebte Wahrheit und an lange schon schmerzende heimliche Wunden. Wenn große epische Schilderer die Zustände unserer Zeit an den wichtigsten Punkten fassen wollten, erzählten sie (wie Zola, Flaubert, Fontane) von der ehelichen Untreue. Das berühmte Dreieck (mit dem Hausfreund) will bis heute als Zeitgemälde von unserer Bühne gar nicht verschwinden, und die starken Persönlichkeiten auf allen Gebieten, zumal die großen Künstler, – ich erinnere an Byron und Goethe, Grillparzer, Beethoven, Lenau konnten sich für ihre Person in die Konvention der Monogamie auf keine Weise einfügen. So mancher ging lieber zugrunde. Aber nehmen wir selbst an, daß diese Einwände gleichsam aus dem Innern der Ehe heraus nicht genügten, die Aenderung dieser Institution zu fordern, daß dies nur idealistisches Toben von Ausnahmsmenschen gegen die Enge der Endlichkeit ist, ein Rütteln an den Grenzen, die nun einmal dem Menschen gesetzt sind, sehen wir ein, es gehe nirgends ohne Kompromiß ab und da der Kampf zwischen den Geschlechtern unvermeidlich sei, wäre für den Durchschnittsmenschen der Zweikampf mit sozialen und ethischen Bandagen als Mensur sozusagen die mindest gefährliche Form –, wir dürfen nicht vergessen, daß nicht das Glück und Unglück, Richtige und Falsche dieser Liebe hinter Gittern allein zu entscheiden hat, sondern daß auch noch die da sind, die von ihr ausgesperrt werden, auf deren Kosten dies Postament und Privilegium von Ehrerbietung und fürsorglichem Schutz für glücklich Liebende nur überhaupt möglich ist. Nicht also der berüchtigt hohe Perzentsatz der unglücklichen Ehen braucht vor allem in Betracht zu kommen, die immer zahlreicheren Scheidungen, die Ehescheu usw., – denken wir an die vertrocknenden umhergestoßenen alten Mädchen, die für all ihre Entsagung und Einsamkeit ihrer Natur unangemessen öde Arbeit, gesellschaftliche Zurücksetzung, Lächerlichkeit, Zukunftssorgen zugeteilt erhalten, an das Odium der geschiedenen Frau, an die ledige Mutter, die unehelichen Kinder, an die Prostitution vor allem und die Geschlechtskranken, selbst ja als Einzelne unschuldig und an ihre noch unschuldigeren unglücklichen Nachkommen!

Die Revolutionierung dieser Zustände sollte der Frau als ihre Aufgabe ins Auge stechen; wenn zu irgend einer im öffentlichen Leben, ist sie zu dieser berufen und befähigt, ja, im Grunde kann diese nur sie wirklich den höchsten Möglichkeiten entsprechend durchführen. Und gerade daran haben, glaube ich, die Frauen noch nie gerührt, vielleicht noch nie gedacht. Im Gegenteil! Wenn ein Mädchen oder eine Frau der guten Gesellschaft einen Fehltritt begeht, und sich solche Skandalgeschichten häufen, – wer überlegt, ob nicht vielleicht die Konvention schuldiger sein könnte als die, die sie durchbrechen? Man feiert Orgien von Verachtung und Entrüstung. Wie erhaben fühlt sich jede Ehefrau über ein gefallenes Mädchen oder gar über eine arme Straßendirne und ist irgendwie tief überzeugt, daß ihr innerer Wert den Abstand verursachte, um nicht geradezu zu sagen ihr persönliches Verdienst. „Sie sind zu faul zu arbeiten!“ sagt man. Und keiner fällt ein, ob nicht vielleicht eine, die einem ungeliebten Mann gegen Wochengeld oder den Eltern zuliebe oder weil es irgendwie nicht anders ging, lebenslängliche Maitresse und Wirtschafterin abgibt, ein moralisch zu mindest nicht höherstehendes Opfer unserer Gesellschaftsordnung ist.

(Fortsetzung folgt.)