BARACH, ROSA: GEGEN DEN STROM
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In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 34. Jahrgang, Ausgabe 34 vom 24.08.1894, S. 346f / Ausgabe 35 vom 31.08.1894, S. 357 / Ausgabe 36 vom 07.09.1894, S. 366f / Ausgabe 37 vom 14.08.1894, S. 376 / Ausgabe 39 vom 28.09.1894, S. 396f
Transkription Rosa Barach Gegen den Strom
[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]
Ausgabe 34 vom 24.08.1894, S. 346f
Transkription Rosa Barach Gegen den Strom
I.
„Nun Meister, wie gehts?“ fragte Herr Seider mit seiner weinheiseren Stimme den Mann mit dem zufriedenen Gesichte, der, die Hemdärmel aufgestreckt, gemüthlich seine Pfeife rauchend, mit seiner Frau und seinem Kinde unter der großen Linde saß, die gerade vor dem Fenster seiner ebenerdigen Wohnung stand, und die die Zierde des großen Hofes war.
„Danke für die Nachfrage, Herr Nachbar, mir gehts gut“, antwortete der Bernsteindrechsler Frühauf, den alle Leute im Hause wegen seines Fleißes und seiner Anständigkeit hochschätzten. „Viel Arbeit und gute Zahlung, was will der Mensch mehr? „Immer besser – nimmer schlechter“, hatte mein Vater selig gesagt.“
„Gott sei Dank, kanns uns ja immer nur besser gehen“, nahm Frau Frühauf das Wort, „denn wenn man ein so tüchtiger, fleißiger Arbeiter ist wie Du, kriegt man auch bald sein Schäfchen ins Trockene“.
„Man muß aber auch Alles so zusammenhalten können, wie Du“, antwortete der Mann, und sich an Herrn Seider wendend fuhr er fort: „Ich sage Ihnen, sie ist eine rare Frau. Ja, ja, wenn ich denke, wie wir vor zehn Jahren dagestanden sind, mit leerer Hand, wie sie Lehrbub und Geselle in einem gewesen, wie sie dabei die Wirthschaft so führte, daß, wenn wir auch schmale Bissen ma- chen mußten, man doch noch immer Etwas weglegen konnte, so ..“
„Ja, strecken nach den Decken“, hat mein Vater selig gesagt“ gab sie zurück. „Uebrigens mußt Du nicht so viel Wesens davon machen, ich habe nur meine Pflicht gethan.“
„Ja wenn Jeder seine Pflicht thäte“, meinte Frühauf, „möchte es um so Manchen anders ste- hen“.
Er streifte mit einem vielsagenden Blicke die deroute Gestalt Seiders, der einst ein reicher Gla- sermeister gewesen und der durch Faulheit und Trunksucht so herabgekommen war, daß er sich nur als Bettgeher einmiethen konnte, nachdem er seiner Familie die Sorge für sich selbst überlas- sen, d. h. sie im Stiche gelassen hatte. Er ging von einem Wirthshaus ins andere und gesellte sich jenen unlauteren Elementen, die ohne jeden sittlich, moralischen Halt, ohne jeden ethischen Werth, ohne jedes Verständnis für die socialen Interessen eine andere Ordnung der Dinge einfüh- ren wollten, nachdem sie durch eigene Schuld Schiffbruch gelitten, wofür sie die alte Ordnung verantwortlich machen zu müssen meinten.
Seider, welcher behauptete, er wäre zu Grunde gegangen, weil ein Jude in der nächsten Gasse sich als Concurrent niedergelassen hatte, war einer der ärgsten Schreier und Wühler. Er bedachte nicht, daß, während er im Wirthshause saß und das wenige, das er verdiente, vertrank, der Jude nüchtern und bescheiden lebte, keine Stunde im Geschäft fehlte und Kreuzer auf Kreuzer legte, um bald ein wohlhabender Mann zu sein.
„Ihr seid eben, was man „dumm-zufrieden“ nennt“, sagte er jetzt und zog die Schultern hoch. „Ihr arbeitet im Schweiße Eueres Angesichtes für schäbigen Lohn und während der Jude Braun, dem Ihr die Arbeit liefert, im Fiaker fährt und fürstlich lebt, nehmt ihr mit Butterbrod und schlech- tem Biere vorlieb.“
Er sah verächtlich auf die Reste des frugalen Nachtmahls, das die Eheleute soeben eingenommen hatten.
„Laßt Herrn Braun ungeschoren“, antwortete Frühauf. „Er lebt und läßt leben und ist ein braver Mann“.
„Ja!“ rief Seider hämisch, „er läßt leben. Heißt Euer Leben auch leben? Wie ich sage, Ihr seid dumm-zufrieden, aber selbst das wird Euch der Jude nehmen, er wird Euch zu Grunde richten, so wie mich der Jude zu Grunde gerichtet hat.“
Frühauf schüttelte energisch den Kopf, während seine Frau den Sprecher wüthend ansah und so aufgeregt ihre Arbeit zusammenraffte, daß ihr die Hände zitterten.
„Ueber Herrn Braun lasse ich nichts kommen“, rief auch sie jetzt. „Er ist ein braver, ehrlicher und herzensguter Mann. Er hat uns schon oft ausgeholfen und ohne ihn wären wir heute am Bettelstab.“
„Es ist wahr“, sagte Frühauf. „Als vor fünf Jahren unsere Kinder im Scharlach lagen, die Arbeit stockte und Krankheit und Begräbnisse unser Letztes verschlangen, streckte uns Herr Braun aus freien Stücken 500 Gulden vor, so daß wir Material kaufen und Vorrath arbeiten konnten. Das Material ist dann im Preise rapid gestiegen und ich habe ein schönes Stück Geld verdient, das jetzt als wohlgeborgener Nothpfennig in der Sparcassa liegt.“
„Ha, ha, ha!“ lachte Seider. „Und Ihr begreift nicht, warum der Jude das gethan? Um Euch in seiner Hand zu haben, um Euch später zu billiger Arbeit zu zwingen, auf seinen Schein pochend, um sagen zu können: Ich will mein Pfund Fleisch und müßte ich es auch aus Euren Rippen schneiden.“
Frau Frühauf starrte den Sprecher einen Augenblick wortlos an. „Ich sage Euch, das ist erlo- gen“, rief sie entrüstet, „das ist schlecht von Euch, so zu reden und einen Mann zu verleumden den Ihr nicht kennt, der Euch nichts zu Leide gethan hat. Und glaubt Ihr, die christlichen Fabrikan- ten und Exporteure stellen ihren Vortheil unter den Scheffel? Jeder trachtet so viel als ihm möglich zu verdienen und sein Geschäft hat mit seinem Glaubensbekenntniß weiter nichts zu schaffen.“
Sie nahm ihre Arbeit und den Schemel, auf dem sie gesessen hatte und ging, unmuthig über den Störenfried, ins Haus.
„Freilich, wenn man bedenket wie blutig wir uns plagen müssen“, sagte Frühauf sinnend.
Seider streifte den Meister mit einem Blick, als ob er sagen wollte: „Sitzt schon“. Frühauf aber, den seine Aeußerung schon reuen mochte, fügte rasch hinzu: „Uebrigens muß Jeder arbeiten der rechtschaffen leben will und somit, gute Nacht.“
Mit diesen Worten ließ er den Mann stehen, der ihm hämisch nachsah und etwas wie „Judenknecht“ in den Bart murmelte.
„Was nur die Leute wollen?“ sagte Frühauf sinnend, als er in die Stube trat.
„Das wissen sie selber nicht“, entgegnete die Frau, indem sie den Schemel, den sie noch in der Hand hielt, energisch auf den Boden stellte. „Ich aber weiß es. Sie wollen genießen ohne zu arbeiten, es sind gefährliche Menschen, vor deren Einflüsterungen sich Jeder hüten soll. Es ist der Brodneid, sonst nichts. Braun hat uns Arbeit gegeben und gut gezahlt, er hat uns oft, und aus höchster Noth geholfen, wir müssen das dankbar anerkennen, gleich viel ob der Mann Jude ist oder Christ.“
„Gewiß“, entgegnete Frühauf mit einer Bewegung, als ob er einen häßlichen Gedanken abschütteln wollte, der einen Augenblick seine Stirne getrübt hatte. Er küßte sein Kind zur Nacht, sah sich zufrieden um in dem schönen Heim, das ihm Arbeit und Fleiß gegründet hatten und als er sich zur Ruhe begab, träumte er von goldenen Bergen , auf denen – der Jude Braun saß, der ihn faßte und in die Tiefe schleuderte, und als er sich an ihn klammern wollte, trug er plötzlich die Züge – Seiders.
Ausgabe 35 vom 31.08.1894, S. 357
(Fortsetzung folgt.)
(Fortsetzung.)
II.
Im Gasthause „Zum goldenen Fuchsen“ saßen zwei Männer an einem Tische und die Zahl dergeleerten Gläser, welche vor ihnen stand, bewies, daß sie dem Tropfen tüchtig zugesprochen hatten.
„Blöd seit Ihr“, rief Seider, indem er mit der Faust auf den Tisch schlug, daß die Gläser heftig aneinander klirrten, „blöd sage ich, daß Ihr dem Juden Eure Arbeit liefert. Und für so ein Spottgeld! Ha, ha! Während Euer Schweiß auf die Drehbank tropft, lebt er herrlich und in Freuden. Warum arbeitet der Jude nicht?“
„Kellner! Noch ein Glas, sonst ersticke ich an dem vermal . . . . Juden.“
„Nun, Einer muß doch das Capital haben, um die Arbeit der Anderen verwerthen zu können“, wagte Frühauf schüchtern zu erwidern. „Ich habe weder das Geld, noch den Geschäftsgeist, um damit speculiren zu können.“
„Habt nur einmal das Geld, der Geist kommt schon von selbst dazu. Ja, Ja! Warum habt Ihr das Geld nicht? Könnte er nicht an der Drehbank stehen und arbeiten, bis ihm . . . Kellner! Noch ein ein Glas und für den Meister da auch eines!“
„Nein, nein!“ wehrte Frühauf ab.
„Lächerlich!“ rief der Andere. „Trinkt! Der Jude lebt ja auch und saugt und raubt Euch aus. Ihr werdet bald weder Etwas zu beißen noch zu trinken haben und was Ihr da durch die Kehle jagt, raubt er Euch nicht mehr. Profit! Ihr sollt leben und nieder mit den Juden!“
Beide leerten die Gläser.
Lange hatte sich Seider vergebens bemüht, den fleißigen Frühauf ins Wirthshaus zu locken, um, wie er es schon mit vielen Andern gethan, auf dessen Kosten zu leben und so nebenbei für die Vergrößerung der Partei zu sorgen.
Frau Frühauf, mit ihrem einfachen Naturverstande, der dies Treiben in der Seele zuwieder war, redete genug dagegen. „Was gehen uns diese Parteien an“, sagte sie oft, „wir arbeiten und verdienen genug und scheren uns nicht um Jud und Christ und wo die Menschen aufgewiegelt werden, Excesse machen und Unfrieden stiften, da bleibe Du weg, denn das kann nicht vom Guten sein. Der verständige Mensch in unseren Verhältnissen kümmert sich um sein Geschäft, um Weib und Kind und läßt den lieben Herrgott einen guten Mann sein.“
So suchte die den Einfluß des bösen Menschen abzuwehren, allein in dem Momente, wo durch die steten Vergleiche seiner Verhältnisse mit denen des Herrn Braun der Dämon Unzufriedenheit in dem Herzen Frühauf’s platzgegriffen, hatte der Hetzer auch gewonnenes Spiel. Mit unwiederstehlicher Gewalt zog es Jenen immer in die Nähe Seiders, dessen giftgeschwollenen Worten er mit beinahe wollüstigem Ingrimm lauschte und dessen Versicherung er gierig in sich aufnahm, daß ihn der Jude aussauge, daß die Juden gar kein Recht hätten, in diesem Lande zu leben, daß man sie hinausjagen müsse, um die Christen von dieser Plage zu erlösen, ehe die Zeit komme, in welcher die armen Christen von den Juden gänzlich erdrückt sein werden.
Frühauf konnte lange nicht begreifen, wieso die Handvoll Juden, welche verhältnißmäßig der großen christlichen Bevölkerung gegenübersteht, diese erdrücken könnte, allein er hörte dies so oft, daß er sich weiter nicht den Kopf darüber zerbrach, sondern halbtrunken und verständnißlos diese „Schlager“ nachplapperte und mit der Faust auf den Tisch schlug, wie Seider, wenn er sich in einen unbändigen Zorn hineingeredet hatte.
Dann zahlte er gewöhnlich für sich und seinen sauberen Kumpan, schlang den Arm in den des Mannes, dem er vor Wochen nicht die ehrliche Hand gereicht hätte und dann taumelten sie nach Hause und riefen: „Nieder mit den Juden!“ Frühauf, der seiner Sinne nicht mächtig, durch seine Trunkenheit einem Thiere glich und Seider, der, da er nichts Anderes mehr hatte, vom Antisemi- tismus lebte, nachdem er durch Faulheit und Schlemmerei es so weit gebracht, daß ihm die Zehen aus den Schuhen schauten, sie beschimpften den Juden, der ihnen begegnete, der anständig aussah, seinem Erwerbe ruhig nachging, sich den Bissen vom Munde sparte, um für Weib und Kind zu sorgen, und sie riefen: „Nieder mit dem Juden!“
Frau Frühauf war lange nicht mehr die glückliche, zufriedene Frau, die sie gewesen. Ihr Mann war ja nie zu Hause, um nach der Arbeit zu sehen. Er saß den ganzen Tag und bis spät in die Nacht beim goldenen Fuchsen, oder zog mit seinen Kumpanen in ähnlichen Localen umher und wenn ihm seine Frau Vorstellungen machte, so schlug der mit der Faust auf den Tisch, hieß sie mit rohen Worten schweigen und schrie: was ein fürstlicher Herr thue, dürfe er auch thun. So ein hoher Herr wisse, was er rede, er und die andern Herren, unter denen sogar Doctoren und andere gelehrte Männer wären, wissen auch, was sie zu thun haben, sie werden auch für den kleinen Mann handeln und ihm helfen und er brauche sich daher weiter nicht den Kopf zu zerbrechen. Uebrigens könne der Seider, der gewiß noch einmal ein großer Mann wird, nicht so schlecht sein, denn, sonst würde ein so hoher Herr ihm nicht die Hand reichen und ihn seinen „Freund“ nennen.
Und indeß er mit seinen Gesinnungsgenossen, meist verrohten Gesellen, dem „hohen Herrn“ nachzog und sich geschmeichelt fühlte, eine Luft mit ihm zu athmen, amusirten sich zuhause seine Gesellen, vernachlässigten die Arbeit, die von Tag zu Tag weniger und schlechter wurde, so daß Herr Braun, nach vergeblichen Ermahnungen, ausmustern und zurückstellen mußte, was ihm für den Export zu schlecht war. Dadurch schmolz natürlich der Verdienst Frühauf’s nicht unerheblich zusammen, und wüthend fuhr er jetzt aus eigener Ueberzeugung (?) in den Versammlungen über die Juden her. Seider habe Recht gehabt, schrie er, der Jude sauge ihn aus und erdrücke ihn und er fordere die Gesinnungsgenossen auf, nicht mehr für den Juden zu arbeiten.
Die größten Schreier schloßen sich ihm an. Was aber dann kam, berechneten sie nicht. Durch diesen „Strike“ gegen die jüdischen Exporteure stand den christlichen Arbeitgebern plötzlich eine große Summe Arbeitskraft zur Verfügung, was sie veranlaßte, die Löhne bedeutend herabzusetzen und so kam es, daß Frühauf, so wie die Andern kaum mehr das nackte Brod verdienen konnten.
Indeß ihr Mann nach wie vor im Gasthause saß und fast niemals mehr nüchtern war, arbeitete die arme Frau jetzt wieder wie einst als Lehrbub und Geselle, denn sie hatte alle verabschieden müssen und sie hatte Mühe, das nothwendigste für den armseligen Haushalt zu erschwingen. Der Nothpfennig war aufgezehrt, die besten Sachen waren ins Leihaus getragen und während sie sich mühte und grämte und mit ihrem Kinde darbte, saß ihr Mann beim goldenen Fuchsen und statt an die Arbeit zu denken, hatte er für nichts mehr Sinn, als für den einen Gedanken: die Juden bekämpfen bis aufs Messer.
Ausgabe 36 vom 07.09.1894, S. 366f
(Fortsetzung folgt.)
(Fortsetzung.)
III.
In der einst so traulichen, von Fleiß und Wohlstand zeugenden Wohnung Meister Frühauf’s sah es traurig, ja erschütternd aus.
Die meisten Möbelstücke, die Frau Frühauf, stolz auf ihre Ersparungskünste, nach und nach angeschafft, waren verkauft. Ein armseliges Bett, ein Tisch und einige wackelige Stühle waren die traurigen Reste aus besseren Zeiten. Doch ein noch traurigeres Bild war es, welches die Augen überfließen und das Herz erstarren machten.
Auf zwei Stühlen gebettet, mit einem zerschlitzten Linnen bis an den Hals gedeckt, die bleichen, wachsähnlichen, abgemagerten Hande auf der Brust gefaltet, lag – eine Leiche.
Eine tückische Krankheit hatte das einzige Kind Frühauf’s hingerafft, – hingerafft, weil die Mittel nicht reichten, um es zu pflegen, und der Krankheit den Boden zu entziehen, auf dem sie am besten und meisten gedeiht, „Leid und Entbehrung“. An der Leiche saß mit starrem, weißen Gesichte, das fast so fahl anzusehen war, wie das des entseelten Lieblings, die arme Mutter, und hörte fast theilnahmslos die Trostesworte, die ihr ein Mann in geistlichem Gewande spendete.
Der greise Seelsorger mit dem ehrwürdigen, von Liebe und Güte verklärten und durchgeistigten Antlitze, hatte sie einst getauft, er hatte sie confirmirt und in seine Hand hatte sie später das Ja- wort gelegt, als sie dem fleißigen, braven Manne zum Altare gefolgt war. Er hatte ihr Kind in die christliche Gemeinde aufgenommen, sie war ihm ein liebevolles Pfarrkind gewesen, dessen ehrsames, arbeitsames Leben wie ein offenes Buch vor ihm lag. Und darum war er gekommen, um sie in ihrem größten Schmerze zu trösten und er war nicht wenig erstaunt, sie in solcher Armut zu finden.
Endlich löste sich die Starre ihres Schmerzes, ihr Herz that sich auf vor seinen liebevollen Worten, ihre Augen floßen über und nun schüttete sie all ihren Gram, all den Jammer der letzten Jahre in seinen Busen aus.
Ruhig, nur manchmal mit dem Kofe nickend, wie um eine Wahrheit zu bestätigen, die in ihren Anklagen lag, hatte er ihr zugehört. Und sie erzählte, wie glücklich sie gewesen, wie sie gearbeitet und gespart hatten und fast wohlhabende Leute genannt werden konnten, wie ordentlich und brav ihr Mann gewesen, bis er den Hetzern und Verführern, die langsam das Gift in sein Ohr träufelten, in die Arme gefallen war, wie er das Wenige, das er dann noch verdiente, im Wirthshause vertrank, wie sie nicht mehr hatte, um ihr Kind zu pflegen und wie sie jetzt nicht einmal mehr die die armseligen Bretter bezahlen könne, in welchen das arme Kind von aller Noth und Entbehrung ausruhen sollte.
Laut aufschluchzend warf sich die arme Frau über den entschlafenen Liebling.
„O, könnte ich mit Dir gehen, mein geliebtes Kind! rief sie in höchster Verzweiflung „und allem Leid ein Ende machen“.
„Da liegt sie wieder und heult. Machst sie mit all dem Geplärre nicht lebendig“.
Wie ein gellender Mißton fielen diese Worte mitten in die sanften Tröstungen des greisen Priesters. Ueberrascht blickte sich dieser um und gewahrte Frühauf, der eben durch die Thüre getreten war. Beim Anblicke des allverehrten Seelsorgers zuckte er zusammen und ließ sich, wie vernichtet von dem strafenden Blicke desselben, schwer auf einen Sessel fallen.
„Ich – – – ich meinte nur – – – es hilft ja nichts, todt ist todt“, stotterte er verlegen.
„Ehret den Schmerz der Mutter, die an der Leiche des Kindes, das ihr einziger Trost gewesen, auch um den Vater weint“, sagte strenge der Priester, und nachdem er den Mann, dem man es ansah, daß er im Wein seinen Schmerz ertränken gewollt, durchdringend angesehen, fuhr er mit seiner tiefen, zum Herzen dringenden, von einem Ton unendlicher Herzensgüte und tiefen Mitleids durchzitterten Stimme fort.
„So weit ist es also mit Ihnen, mein lieber Frühauf, gekommen? Schlagen Sie sich an die Brust und sprechen sie reuig: „mea culpa, mea culpa“.
„Ich bin nicht schuld“, entgegnete Frühauf mürrisch, ohne daß er es jedoch wagte, den Blick zu dem Antlitze des Priesters zu erheben.
„Der Jude ist schuld, der mir die Arbeit schlecht bezahlte. Auf ihn fällt die Verantwortung für all das Elend“.
Seine Blicke irrten durch die kahle, armselige Stube und als sie auf der Leiche des Kindes haften blieben, ballte er die Faust, als ob er jenen niederschlagen müßte, der in seiner Einbildung auch das verschuldet.
„Der praßt von meinem Gelde“, brummte er mit einer in Schluchzen übergehenden Stimme, der man es anhörte, daß die Rührung eher ein Product des genossenen Weines, als seines Schmerzes war, „der praßt und mein Kind – mein Kind“. – – –
„Der hat gespart und gearbeitet und Kreuzer auf Kreuzer gelegt, bis er zum wohlhabenden Mann geworden. Warum habt Ihr nicht das Gleiche gethan?“ fragte der Priester strenge.
„Weil er die Arbeit ausmusterte und schlecht bezahlte und jetzt arbeite ich nicht für den Juden und wenn ich crep – – –“
„Haltet ein mit so gottloser Rede“, rief der Geistliche in einem Tone“, der Frühauf völlig nüchtern machte. „Ihr babt die Arbeit vernachlässigt und seit den Verführern und Hetzern gefolgt. Und jetzt wollt Ihr Andere für Euren Ruin verantwortlich machen. Kein Wunder, denn das thun all
Jene, welche nicht durch Fleiß und Ausdauer, sondern über Nacht auf Kosten Anderer erringen und von dem was sie ergattert, nicht was sie erarbeitet, leben wollen. Ihr schwört auf die Worte jener Gewissenlosen, die nicht gegen den Juden, nicht für das Christenthum, sondern unter die- sen Deckmantel für sich kämpfen, ehr- und gewinnsüchtige Pläne verfolgend. Sie wissen es, daß man nur das Wort „Jude“ als Brandfackel in die Massen zu schleudern braucht, die ihnen wie eine Heerde Schafe folgt, und wenn die aufgewühlten Massen sich die Köpfe blutig geschlagen, dann lachen sie sich ins Fäustchen, denn dann haben sie ihre niedrigen Ziele erreicht“.
„Der Jude betrügt uns, wo er nur kann und man muß ihn unschädlich machen“, eiferte Frühauf. „Was verdrängt er uns von unserem Boden und bringt uns um Summen, die sonst uns zufallen müßten? Hier ist seine Heimat nicht, er gehe dahin, woher er gekommen“.
„Verblendeter Thor“, rief entrüstet der Priester. „Sucht nicht Jeder seinen Vortheil wo er ihn findet, sei es Jude oder Christ? Und wenn Dich ein Jude betrog, that er es, weil ein Jude ist, weil seine Religion ihm das gebietet? Seine Religion baut sich auf den heiligen Schatz der zehn Gebote auf, wie die unsere, der Betrug ist ihm verboten wie uns, und wen er Dich dennoch betrogen, oder übervortheilt, so that er es nicht, weil er Jude, sondern weil er ein schlechter, gewissenloser Mensch ist. Wem fiel es ein, zu sagen, daß ein Hugo Schenk so viele Morde begangen, weil er ein Christ war? Er beging sie, weil er ein böser Mensch war. Keine Religion gebietet ihren Bekennern Sünden und man kann sie niemals für die Verbrechen der Menschen verantwortlich machen. Ihr sagt, der Jude nehme Euch das Brod, betrüge Euch um Summen, die sonst Euch gehören wür- den, weil er sie zu erwerben trachtet?“
(Fortsetzung folgt.)
Ausgabe 37 vom 14.08.1894, S. 376
(Fortsetzung.)
Die Anwesenheit des Juden im Lande entzieht Euch den Gewinn, hier ist seine Heimat nicht, sagt Ihr und er habe hier auch keine Rechte?
Wo ein Mensch geboren ist, wo er Geld- und Blutsteuer bezahlt, da ist seine Heimat, sein Vaterland gleichviel welcher Confession er angehört.
Gleiche Pflichten schaffen gleiche Rechte.
Was hat Euch der Jude gethan? Er erwirbt? Erwerbet auch. Er ist nüchtern und sucht sich durch Bildung und Fleiß emporzubringen, er spart sich den Bissen vom Munde für Weib und Kind und ruht und rastet nicht, bis er für sie gesorgt hat. Thut es ihm nach. Unser erhabener Monarch, der ein wahrer Vater seines Volkes ist, gab allen seinen Unterthanen gleiche Rechte, zu welcher Religion sie sich auch bekennen mögen. Vor dem Staate, wie vor dem Gesetze sind nach seinem erhabenen Willen Alle gleich Ist es nicht eine Art Hochverrath an diesem Willen des Herrschers, wie an dem Gesetze, dieses stürzen und Bürger ihrer Rechte berauben zu wollen, den Frieden der Bevölkerung zu stören, allen Errungenschaften der Civilisation und der Humanität ins Antlitz zu schlagen und Allem, was große Männer Befreiendes gedacht und vollbracht, Hohn zu sprechen? Und dann. Werden Euere Kinder als Christen geboren? Nein. Durch die Taufe wird das Kind zum Christen, durch die Erziehung wird es zum Juden, Gott und Natur schicken den Menschen auf die Welt und die Erde deckt sie einst Alle liebevoll zu, gleich viel was sie gewesen. Gott in seiner unfaßbaren Größe und Unendlichkeit, in seiner Liebe, die wir armen Menschen ja kaum zu fassen vermögen, läßt die Sonne scheinen für Alle, ohne nach ihrem Glaubensbekenntnisse zu fragen, die Blumen duften für Alle, die Erde bringt ihre Früchte für Alle hervor und nur ihr armseligen Geschöpfe, die ihr kaum ein verschwindender Punkt im Weltall, kaum ein Hauch seid im Vergleiche zur Unendlichkeit Gottes, Ihr erfrecht Euch einen Unterschied zu machen zwischen Menschen und Menschen, weil der Zufall der Geburt sie daher und nicht dorthin gestellt, wie es ja auch Euer Verdienst nicht ist, Christen zu sein, weil ebenfalls nur der Zufall der Geburt Euch dazu gemacht. Wie könnt Ihr also Jene dafür verantwortlich machen, daß sie Juden sind und sie darum hassen und verfolgen, weil sie ihren Gott, der ja auch der Euere ist, in anderer Form verehren wie Ihr? Ihr wollt klüger sein als Staat und Gesetz, ja als der Allmächtige selbst, und begehet – Verbrechen gegen Recht und Staat und Pflicht unter dem Deckmantel des Christenthums. Seid Ihr denn Christen? Ihr seid Katholiken, ja, weil Ihr getauft wurden; Christen? Nein, und tausendmal nein und wenn Ihr Euch auch tausendmal so nennet. Christus predigte Liebe, Ihr prediget Haß, Christus predigte Frieden, Ihr predigt Zwietracht, er wollte alle Menschen als Brüder vereinen durch das Band allumschließender Menschenliebe, Ihr entzweit die Menschen und hetzet sie gegeneinander wie wilde Thiere. Ihr plappert sinn- und verständnißlos die heftigen, allem menschlichen Empfinden Hohn sprechenden Worte Euerer Verführer nach, die nur ihr eigenes Interesse im Auge haben, während sie Euch goldene Berge versprechen, wenn der Jude nicht mehr ist, von dessen Drucke (?) sie Euch befreien wollen. Was haben Sie all die Jahre her schon für Euch gethan? Nichts.
Allein die Volksseele haben sie vergiftet, die Menschen gegen einander gehetzt, allen Errungenschaften der Humanität und der Civilisation, für die die Edelsten ihr Bestes geopfert und geblutet haben ins Antlitz geschlagen und auf Jahre hinaus zurückgestaut, die zur Liebe und Duldsamkeit mahnenden Worte aller Edeldenkenden verhöhnt, weil sei den Dämon Unzufriedenheit in Euere Herzen gesenkt, ein Boden, auf welchem Haß und Neid gedeihen, dies giftige Unkraut, welches alle guten Triebe überwuchert und vernichtet. Haß, nur Haß habt Ihr auf Euere Fahne geschrieben, und wahrlich, würde der Heiland heute erstehen und predigen wie er damals gepredigt, Ihr, die Ihr Euch Christen nennet, Ihr würdet ihn kreuzigen so wie Ihr Alles in den Koth zerret, was an Menschlichkeit in Euch appellirt. Ja, heute würdet Ihr den Heiland kreuzigen, Ihr, die Ihr seine Lehre, die ihr das wahre Christentum täglich durch Wort und That schändet, besudelt und in den Staub zerret.“
„Bei diesem Kreuze“, fuhr der edle Priester begeistert fort, indem er das Kreuz von seiner Brust nahm und die Hand wie zum Schwure erhob, „es ist nicht der Wille Gottes nicht der Wille der Religion, Haß und Zwietracht unter den Menschen zu säen, sondern Liebe, Liebe, Liebe und bei dieser entsetzlichen Verkörperung Eueres Elends, bei dieser armen Leiche beschwöre ich Euch, kehret um, schwöret ab den Irrwahn, daß ein Mensch anders sei, wie der Andere so lange er gut und rechtschaffen ist, schwöret ab den Haß gegen Andere, der Euch ins Verderben stürzt, seid ein Mensch, seid ein Christ.“
Es war ein erhebender Anblick, wie der greise Priester dastand, mit vor Erregung glühenden Wangen und mit vor Begeisterung leuchtenden Augen, eingedenk seiner heiligen Pflicht, der wahre Vertreter der allumschlingen Menschenliebe auf Erden, der wahre Priester, den, wohl wissend was seiner Amtes ist, nicht anders reden konnte, der wahre Mensch und Christ, dessen Herz vor Mitleid und heiliger Entrüstung überfloß angesichts des ungeheueren Unrechtes, das Haß und Verblendung stifteten, angesichts der Verbrechen, welche sie an der Menschlichkeit begegehen.
Frühauf war unter der Macht der begeisterten Worte, welche wie eine unabweisbare Anklage auf sein Haupt niederfuhren und sein Innerstes erschütterten, ganz zerknirscht dagesessen. Jetzt beugte er sich demüthig nieder, um den Saum des priesterlichen Gewandes zu küssen und wie Vergebung und Hilfe flehend sah er dann zu dem gottgeweihten Manne empor.
„Der Allmächtige segne Sie und Ihre Worte“, sagte in dem Augenblicke eine tiefe Männerstimme. Es war die des Herrn Braun, welcher eintretend die letzten Worte vernommen hatte. Ehrfurchtsvoll verbeugte er sich vor dem Priester, der so hehr seine Mission auf Erden erfaßte, und wiederholte gerührt: „Gott segne Sie“, dann sich an Frühauf wendend fuhr er fort:
„Ich habe von Ihrem Unglück gehört und möchte Ihnen gerne helfen, Herr Frühauf. Hier eine kleine Summe für die nächsten Tage“ – er legte eine wohlgefüllte Börse auf den Tisch – „und wenn Sie mir wieder Ihre Arbeit liefern wollen, so will ich mir denken, ich habe sie niemals früher gesehen, und will Ihnen Arbeit geben.“
Bei diesen, die Vergangenheit und das Unrecht Frühauf’s auslöschenden und aussöhnenden Worten verbeugte er sich wieder vor dem Priester, drückte Frau Frühauf in stummem Mitgefühle die Hand und ging.
Frühauf stand tief beschämt und als die Frau aus ihrem Staunen sich aufraffend, dem Retter in der Noth danken wollte, war er verschwunden.
„Ihr seht, das Herz, das der Allmächtige in die Menschenbrust gelegt, fragt nicht, ob es einem Juden oder Christen gehöre, es fragt auch nicht, ob derjenige, der der Hilfe bedarf, Jude sei oder Christ, es hilft dem Menschen aus reiner Menschlichkeit“, sagte der Priester. „Möge diese edle That, deren Zeuge ich gewesen, den letzten Zweifel, die letzten Schatten aus Euerer verirrten Seele bannen, das walte Gott!“
Ausgabe 39 vom 28.09.1894, S. 396f
(Fortsetzung folgt.)
(Schluß.)
IV.
Frau Frühauf wähnte, mit dem Kinde, an dessen Leiche der würdige Prediger so begeisterte und versöhnende Worte gesprochen, auch den Irrwahn ihres Mannes begraben zu haben und hoffte, daß, wenn ihr auch das Schicksal schwere Wunden geschlagen, doch wider bessere Zeiten kommen werden. Allein der Glaube, daß der menschliche Geist so rasch Irrthümer abstreife, in die er sich verrannt, erwies sich als ein irriger. Auf jene Menschen, die nicht durch Bildung gelehrt wurden logisch zu denken, jene, die nur die Ergebnisse der socialen Schäden sehen, ohne diesel- ben aus den Antecedentien ableiten zu können, wirkt immer das Wort, welches zuletzt gesprochen wurde. Ihnen fehlt der moralische „Fundus instructus“ eine Ueberzeugung festzuhalten und daher war auch die Hoffnung Frau Frühauf’s, daß ihr Mann wieder arbeiten und ein neues Leben beginnen werde, eine irrige. Er begann zwar ein neues Leben, da ihm Herr Braun, seinem Worte getreu, wieder Arbeit gab; allein alle guten Vorsätze zerstoben vor den infamen Anschuldigungen Seiders, daß auch der ehrwürdige Pfarrer ein gezahlter Judenknecht sei, und daß Frühauf erwiesenermaßen von dem Juden Geld genommen hatte, um die Fahne zu verlassen. Er hätte sich seinen Haß abkaufen lassen und zerfließe nun wieder bei schwerer Arbeit in Demuth vor dem „goldenen Kalbe“.
Dagegen wehrte sich der Stolz des sonst tiefgesunkenen Mannes, er mußte nicht nur beweisen, daß dem nicht so sei, sondern, als ihm Seider versicherte, Braun habe ihm abermals geholfen, um abermals billige Arbeit in Händen zu haben, erwachten all die kaum niedergedrückten irren Ansichten und wilden Triebe wieder im Herzen Frühauf’s, die Worte des ehrwürdigen Mannes verblichen vor der Wucht der unfläthigen Reden und der giftigen Worte Seiders und Genossen und bald war er wieder ganz der ihrige, indem er schwor, sich nie wieder durch so ein frommes Gewinsel der heiligen Sache des – Hasses abwendig machen zu lassen.
Er hatte demzufolge die Arbeit wieder verloren und war so herabgekommen, daß er nicht einmal die Miethe für das kleine Zimmerchen bezahlen konnte, welches er jetzt neben seiner schönen, geräumigen Wohnung von früher inne hatte.
Gram und Kummer hatten die arme Frau aufs Siechbett geworfen, da lag sie nun den ganzen Tag auf das Mitleid guter Nachbarn angewiesen und wenn der Mann Abends trunken heim, so war sie nicht selten noch seinen Mißhandlungen ausgesetzt.
„Da, da hast den Wisch“, lallte er eines Abends mit schwerer Zunge, indem er ihr die Kündigung der Wohnung hinhielt.
„Ausziehen heißt’s morgen – – – Ausziehen – – hast g’hört? – – Wenn ich ausziehen muß, so – so – kann der Braun sich freuen.
Er ist schuld – – der Jud ist an Allem schuld – – nicht reden“ rief er und schlug wüthend auf den Tisch „nicht reden, der . . . Jud ist schuld, sag’ ich . . . er muß unschädlich gemacht werden, unschädlich . . . hörst du . . . nicht reden, sag’ ich.“
Die arme Frau hatte kein Wort gesprochen und wagte es auch nicht. Hilflos wie sie dalag, hätte er sie erdrosselt.
Von Wuth und Besinnungslosigkeit übermannt fiel er endlich auf einem Sessel nieder und bald zeigten seine lauten Athemzüge, daß er in festen Schlaf gesunken war.
Am andern Morgen raffte sich die arme Frau, so schwer es ihr wurde auf, und gieng zum Hausherrn, um ihn um Aufschub zu bitten.
„Ich habe genug Nachsicht und Geduld gehabt, antwortete dieser unwirsch. Ihr Mann ist ein Fallot und Sie wollen auch nicht arbeiten. Da werdet ihr wohl Niemals Zins bezahlen können Wozu also das Warten?“
„Ich dachte Sie werden uns schonen“ wagte die Frau schüchtern zu entgegnen, weil ja mein Mann von Ihrer Partei ist, und daß Sie einen Gesinnungsgenossen nicht fallen lassen. Sie haben ihn ja oft Ihren „Freund“ genannt, besonders als er für Ihre Wahl . . . .“ Die arme Frau verstummte vor dem Blicke, den er ihr zuwarf.
„Was hat mein Haus mit meiner Gesinnung zu thun?“ schrie entrüstet der Mann, der in den Versammlungen große Reden hielt, wie dem kleinen Mann zu helfen sei und wie man ihn vor der herzlosen Ausbeutung der Juden schützen müsse. „Wenn Sie nicht bis heute Abends bezahlen, muß ich Sie delogiren, denn die neue Partei muß einziehen und damit basta.“
Todtraurig wankte Frau Frühauf nach hause. Sie konnte sich nicht mehr aufrecht halten, denn die Erregung, in welche sie die Fehlbitte versetzt hatte, wirkte dermaßen auf ihre ohnehin aufgeriebenen Kräfte, daß sie halb ohnmächtig in einer Apathie, aus der sie nicht einmal die Thätlichkeit des Mannes aufzurütteln vermochten, auf ihr armseliges Lager hinsank.
Als sie wie aus schweren Traume erwachte, sah sie, wie die Hausmeistersleute ihre wenigen Habseligkeiten in den Hof hinaus trugen.
„Kommt in meine Wohnung, ich will Euch für die Nacht Obdach geben“ sagte ihr mitleidig die Frau und trug die Kranke mehr als sie sie führte, in ihre Stube, die auch nicht über zu viel Raum zu gebieten hatte.
Einen unsäglich traurigen Blick warf die arme Frau Frühauf auf die letzten Zeugen ihres maßlosen Unglücks, dann ließ sie Alles geschehen, mit jener tiefen Resignation, welche nur die höchste Verzweiflung zu erzeugen vermag.
Am anderen Morgen weckten sie ungewöhnlicher Lärm und Stimmengewirr aus ihrem ruhlosen Schlummer und als sie sich aufrichtete, sah sie den Hofraum von Menschen erfüllt, die heftig gesticulirten, und neugierige, mitleidsvolle Blicke nach dem Fenster warfen, hinter welchem sie lag.
Man hatte an der Linde einen Mann erhenkt gefunden und dieser Mann war – Frühauf.
Trunken war er spät Nachts heimgekehrt und als er seine Wohnung versperrt und die wenigen Möbel und Habseligkeiten im Hofe fand, da war eine entsetzliche Ernüchterung über ihn gekommen und wie eine Vision sah er gleich in jenem Traume sein eigen Bild vor sich, wie nicht der Jude Braun, sondern Seider, der Verhetzer und Verführer, aus ruhigem geordnetem Leben heraus ihn unrettbar in die Tiefe riß. In seiner Verzweiflung fand er, nur einen Ausweg – den Tod und bald neigten sich die Zweige des alten Baumes trauernd über den Entseelten, dessen frohe, glückliche, durch Arbeit und Zufriedenheit verschönten Tage er gesehn.
Frau Frühauf fristet nun ihr Dasein von dem, was mitleidige Menschen ihr zukommen lassen und siecht und sehnt sich dem erlösenden Tod entgegen. Sie war es selbst, welche mir die Tragödie ihres Lebens erzählte. „Schreiben’s das aus“ sagte sie mit vor Thränen erstickter Stimme, „vielleicht kanns Jemanden, vielleicht Vielen nützen“, und ich schrieb die Begebenheiten einfach nieder, als ein Beispiel hunderter zerstörter Existenzen, zerstört durch Haß, Zwietracht und Unduldsamkeit, welche die Herzen verrohen, den Geist verblöden, und die von Verführern, die man wohl Verbrecher nennen könnte, groß gezogen, auf Jene selbst rächend zurückfallen, die sich ihnen gedankenlos ergeben.