WIENER, S.: DAS NEW-YORKER GHETTO UND DAS RUSSISCHE HILFSWERK

➥ Zur Biographie: Wiener S.

In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 32. Jahrgang, Ausgabe 36 vom 02.09.1892, S. 353 / Ausgabe 37 vom 09.09.1892, S. 360 / Ausgabe 38 vom 16.09.1892, S. 369ff

Link zum Text
Tran-skription

Nirgends in der Welt hat man so leichte Gelegenheiten, interessante Völkerstudien zu machen, als in NewYork, der HauptPforte der neuen Welt. Hier sehen wir die verschiedenen Völkerschaften sich auf bestimmten Terrains zusammendrängen und so leben, wie sie es daheim gewohnt sind. Dieses Manhattan ist eine Welt im kleinen, eine ethnographische Landkarte, auf welcher die nummerierten Straßen die Parallelkreise und die Avenues mit ihren Parallelen gleichsam die Meridiane bilden. Liefe der elegante und breite Broadway nicht von Süd nach Nord, sondern von Ost nach West, so hätten wir auch den Aequator für diese Karte. Vor allem sind es die Irländer, die Deutschen, die Italiener und die Juden, die dem Zuge nach nationaler Absonderung folgen und deren Wohnsitze, mit Ausnahme vielleicht der ersteren, sich mit ziemlicher Genauigkeit begrenzen lassen. Denn während die Abkömmlinge des sonnigen Italiens die westliche Seite der Bowery bis zum Broadway von der Prince Street bis zur Canal Street sich zum Aufenthalte erkoren, bildet die östliche Seite der Bowery, von der Houston oder Ersten Straße an gerechnet, bis aufwärts etwa zur fünfzehnten, die ausschließliche Domaine von „KleinDeutschland“ und die unterhalb liegende Partie, bis zum Wasser reichend, den unbestrittenen Besitztheil von Judas Söhnen. Die Verschiedenheit der nationalen Gewohnheiten und Charaktereigenthümlichkeiten spiegelt sich so recht auf den ethnographisch abgeschlossenen Räumen wieder. Modern und sauber hebt sich „KleinDeutschland“ ab, während das italienische und das jüdische Viertel allzudeutlich die Spuren südlicher oder russischer Verkommenheit und Lüderlichkeit an der Stirn tragen. Diese beiden Nationalitäten Italiener und Juden, die füglich den Uebergang vom Orient zum Occident bilden, haben auch viel Verwandtschaftliches in Charakter, in Aussehen und Bewegligkeit, so dass man sie häufig mit einander verwechselt. Mit der Zähigkeit der Rasse halten sie fest zusammen, was die einen nicht verhindert, sich gegenseitig aus BrodNeid oder anderen Gründen zu befehden, die andern, sich gegenseitig per Stiletto ins bessere Jenseits zu befördern. Die Zusammengehörigkeit der Rasse schließt also die Raubthiernatur nicht aus, die gelegentlich beim homo sapiens auf gar unliebsame Weise zum Durchbruch kommt.

Ein Riesen-Ghetto in des Wortes eigentlichster Bedeutung bildet das jüdische Quartier, wie wir es nicht mehr in den russischen Städten, wohl aber in Amsterdam, in der Huittuinen und Jodenbreestraat, wiederfinden. Also nicht bloß der Czarismus und die Willkür asiatischer Despoten haben zur Anlage von Ghettos geführt, sondern auch noch andere Gründe, die wir später besprechen werden. NewAmsterdam, wie New York von seinen holländischen Begründern benannt wurde, scheint hier dem Beispiele von AltAmsterdam folgen zu wollen. Aehnlich liegen die Verhältnisse in England und vielen Städten der Union. NewYork aber verdient in dieser Beziehung die Palme, denn sein Ghetto übertrifft an Ausdehnung und Ursprünglichkeit alle ähnlichen Afterbildungen und kann mit Recht das NeuJerusalem genannt werden. Schauen wir uns ein wenig darin um. Ein recht orientalisches oder russisches Bild entrollt sich vor unseren Augen, und es fehlt nur der Kosak oder der türkische Polizeidiener, damit die Täuschung vollständig werde. Hier fanden sie sich zusammen, alle diejenigen, denen das unholde Czarenthum den Wanderstab in die Hand gedrückt.

(Fortsetzung folgt.)

Ausgabe 37 vom 09.09.1892, S. 360

(Fortsetzung.)

Von allen Seiten kamen sie – vom Dnjeper, vom Don, vom Schwarzen Meere, von der Düna, von der Weichsel, von Njemen und aus anderen Ländern: aus Rumänien, Galizien, Ungarn oder einer der östlichen deutschen Provinzen. Welch’ buntes Völker und Sprachgemisch bietet schon ein und dieselbe Rasse, die jedoch durch das Band gleicher Lebensgewohnheit, religiöser Anschauung und des Sprachmittels des deutschen jüdischen Idioms eng mit einander vereinigt ist. Hier leben und weben sie und gehen so lange ihrer gewohnten oder ungewohnten Beschäftigung nach, bis glücklichere Zustände oder Neigungen den einen und den anderen aus dieser Sphäre heraus und nach den fashionablern Stadttheilen der Westseite hinwirbeln, wo er ägstlich bemüht ist seine frühere Herkunft in Gumpelinoweise zu verhüllen, was ihm aber selten gelingen will. „Ja, ja, ich weiß schon“, erwiedert man einem solchen, der vorgibt, aus der Nähe von Berlin zu stammen, dem man aber seine russische Herkunft genau ansieht und anhört „Sie sind zwei Meilen mit dem Telegraphen hinter Berlin her.“

Man schätzt die Zahl der an der östlichen Seite angesessenen Juden auf 100.000 während noch mindestens ebensoviel in anderen Stadttheilen, namentlich in der oberen Stadt wohnen. Diese Ziffer ist, trotz aller gegentheiligen Censusaufnahmen eher zu niedrig als zu hoch gegriffen, was schon aus der ungeheuren Zahl von Synagogen und Betlocalen hervorgeht, die während der hohen Festtage von Betern überfüllt sind und deren es an 600 geben soll.

Sie vereinigen sich mit Vorliebe zu Gemeinden nach LandsMannschaften und Städten ihrer Herkunft und so finden wir eine Galizianer, eine Warschauer, eine ungarische, eine Bialystocker, eine Suwalker, eine Wilnaer, eine Grodnoer u.s w. Synagoge. Jede Gemeinde hat ihre besonderen Cultusbeamten, ihren Rabbi und meist auch ihr Gemeindebad (Mikweh). Das Haupt der Orthodoxie, zu welcher sich alle daselbst bekennen, ist Rabbi Joseph aus Wilna, eine große Leuchte des Talmuds, aber in weltlichen Dingen ganz unwissend. Seine Hauptfunction besteht darin, das Schlachten und den Verkauf des KoscherFleisches zu bewachen. Der andere Rabbiner Dr. Klein, ein geborener Ungar und auch schon weltlich unterrichteter Mann, hat bedeutenden Einfluss in ungarischen Kreisen.

Jede Gruppe hat ihre besonderen Gepflogenheiten und ihren eigenthümlichen JargonDialekt. Die Litthauer können den KehlLaut h nicht hervorbringen, die Wilnaer den Zischlaut sch nicht, der bei ihnen wie ein scharfes s lautet; die Polen haben eine singende Gewohnheit beim Sprechen, und die Sprache der Podolier und Wolhynier ist stark mit russischen Wörtern und Wendungen durchspickt.

Am buntesten und bewegtesten ist das Leben in der Hester Ludlow, Baxter, Allen, Essex-Suffolk, Norfolk und in den angrenzenden und kreuzenden Straßen. Hier, namentlich in der erstgenannten Straßen, wimmelt und krabbelt es wie in einem AmeisenHaufen. Die Passage ist fast unmöglich am Donnerstag nachmittag und Freitag vormittag, wo die Hausfrauen ihre Einkäufe für den Sabbath besorgen. Allerlei Gerümpel, Verkaufsstände, Karren und UrväterHausrath versperren den Durchgang. Der Policeman hat Mühe Ordnung zu halten und wirft in seinem Amtseifer hier und da einer Höckerin den versperrten Korb mit seinem Inhalt um, worauf sich ein entrüster Schrei erhebt „Gerade wie bei uns in Rußland. Das ist die Freiheit!“ Diese naive Freiheitsauffassung charakterisiert eben die rohe und ungebildete Masse. Auf und ab wogt eine dichtgedrängte Menge, deren Aussehen meist nicht sehr appetitlich ist. Die lange Tracht und die Ohrlocken sind zwar verschwunden und alles trägt den runden, schwarzen Filzhut, dieses Uniformstück des heutigen Heerdenmenschen, aber man sieht es den meisten Männern an, dass ihnen die kurze Tracht noch ungewohnt ist. Gang und Haltung sind schlotterig und von Nettigkeit und Reinlichkeit ist meist keine Spur. Haar und Bart sind wirr und unordentlich. Die Gesichter sind vergrämt und verdüstert und tragen noch den Stempel russischer Knechtschaft und Knute.

Freier gibt sich das junge Volk, das sich hier rasch modernisiert – vielleicht zu rasch, da es häufig mit der Liebe zum Alten auch die Liebe zu den Eltern und zur Religion hingibt und zum Erschrecken verwildert und verroht.

Hebräische und jüdischdeutsche Aufschriften laden überall zum Kauf ein, die mitunter recht drollig klingen, wie „Hier verkauft man koschere Milch von einer jüdischen Kuh“, oder „Hier werden die Haare vom Kopf für wenig Geld abgeschnitten“ u. s. w. Auch an russischen Schildern fehlt es nicht, namentlich an Apotheken, denn die „russische“ Apotheke gilt hier als Empfehlung, wie anderwärts die „deutsche“. Stark vertreten sind die KoscherFleisch und WurstwaarenLäden, deren Erzeugnisse recht lecker aussehen. Der Jude ist ein wenig Gourmand, und liebt recht fein bereitete Speisen. Diesem Bedürfnisse tragen unzählige Restaurants billig Rechnung, in welchen man nach dem Essen auch Kaffee und Milch verabreicht, was nach jüdischreligiösen Begriffen strengst verpönt ist. Man gibt sich aber im Lande der Freiheit auch in dieser Beziehung frei und dann „Les extrémes se touchent“ findet hier seine volle Anwendung. Der Kleinhandl und der Trödl bilden natürlich die hervorstechende Phisiognomie dieses Gassengewirres. Natürlich begegnen wir auch hier dem in Rußland üblichen Gebäck, dem „Begel“ mit dem großen Loch in der Mitte und der „Matze“, die so groß ist, dass man sich, wie der Volkswitz sagt, damit zudecken kann. „Wo kommt das Loch hin, wenn man den Begel aufgegessen hat?“ – „In die Tasche“ – lautet die Antwort. Der jüdische Newsboy, der zungenfertig die verschiedenen jüdischen Zeitungen ausschreit und der Händler mit jüdischen Gebet und Unterhaltungsbüchern, Schaufäden, Gebetriemen, Gebetmänteln, Papirrossen (Cigaretten) u. s. w. verleihen der Gegend ihr charakteristisches Gepräge.

Das Ghetto erweitert sich, und die Atmosphäre wird etwas lichter, wenn wir den EastBroadway, die Grand Street und Canal-Street betreten. Ersterer ist für diese Gegend, was die Wallstraße oder die 5. Avenue für den Westen ist, nämlich Verkaufs und Wohnstätte der Krösusse des Ghetto. Die Grand-Street ist in ihrem Anfang recht breit und mit eleganten Magazinen eingefasst, während die Canal-Street den Hauptstapelplatz des jüdischen Buch und Zeitungsverlages, der hier ungewöhnlich entwickelt ist, bildet. Es erscheinen allein in NewYork sieben bis acht jüdische Zeitungen im Jargon und eine in hebräischer Sprache. Sie dienen dem Neuigkeitsbedürfnis und zum Theil auch der Arbeiterbewegung, die hier recht rührig ist. Die Roman und Sensationsliteratur wird hier zum Schaden der unteren Massen auf schreckliche Weise ausgebeutet, die ganz erpicht auf diese Abart geistiger Erzeugnisse ist und dafür den letzten Cent opfert. Der hässliche Jargon bürgert sich auf amerikanischem Boden unausrottbar ein, und die leidige Aufklärerei treibt ihre gefährlichen Sumpf-Blüten.

Wehe, die dem Ewigblinden

Des Lichtes Himmelfackel leih’n!

Sie strahlt ihm nicht; sie kann nur zünden

Und äschert Städt’ und Länder ein. –

(Fortsetzung folgt.)

Ausgabe 38 vom 16.09.1892, S. 369ff

(Schluss)

Hier findet der Sozialismus oder Anarchismus eine nur zu ergiebige Nahrung. Ihm gilt dieser hässliche Jargon als ein durchaus berechtigtes und ebenbürtiges Idiom, und der bedient sich desselben als willkommenes Mittel zur Aufstachelung der unteren jüdischen Arbeitermassen, die ihm treue Gefolgschaft leisten. Jüdische Studenten und Gymnasiasten sind die fruchtbarsten Handlanger dieser Bewegung und der betreffenden Redactionen. Für solche Personen gibt es keinen Raum in diesem Lande, wenn sie kein Handwerk gelernt haben und zur niedrigen Hantierung nicht greifen mögen. Daher ist es kein Wunder, dass sie bei dem verneinenden Geiste, der sie vom Hause aus beherrscht, sich hier mit Macht in die Bewegung stürzen. Ihre Propaganda gilt zunächst den herübergekommenen gleichgesinnten Mädchen, mit denen sie ungezügelten Umgang nach der Lehre Tschernischewskis und anderen pflegen, und die ihrem sittlichen und materiellen Ruin hier weiter entgegengehen. Dieses GhettoLabyrinth ist für derartige Maulwurfsarbeit ganz besonders geeignet und zeitig gar seltsame Blüten.

Auch der Thespiskarren raffelt über das Ghettopflaster, denn zwei oder drei jüdische Theater sorgen für theatralische Unterhaltung und erfreuen sich eines ungeheuren Zuspruchs, aber die göttliche Thalia ist zur schauderhaften Megäre entstellt, und der Timtam führt den Orchesterstab.

Was ist dem Paria die Kunst, das Schönheitsgefühl? Er will sich im freien Lande auch nach seiner Weise amüsieren und die Tollheit unserer Zeit, das finde siècle, spiegelt sich auch hier wieder.

Dem religiösen Bedürfnis dienen, wie schon erwähnt, unzählige Betschulen und Synagogen, deren Hauptstolz das in der NorfolkStreet gelegene und im maurischen Stil aufgeführten „Beth-Hamidrasch Hagodel“ ist, wo, wie üblich, auch Talmud „gelernt“ wird. Der hebräische Jugendunterricht wird auch zum großen Theile noch in herkömmlicher Weise im dumpfen Cheder, SchulStube, von unwissenden Melamdim gehegt und gepflegt. Die TalmudThora auf dem EastBroadway zählt an 1200 Jünglinge, und eine „Jeschibo“ bereitet zum höheren Talmudstudium vor.

Der Sabbath wird da noch wie in der alten Heimat begangen. Jeder Geschäftslärm verstummt, und in Sabbathkleidern sieht man alles von und nach den Synagogen rennen. Die einen tragen den „Tallesbeutel“ mit dem Gebetbuche unterm Arm, die andern unterlassen auch dieses, der Sabbathstrenge gemäß, und haben aus demselben Grunde das Taschentuch um den Hals oder um die Lenden geschlungen, denn in der Tasche darf es nicht getragen werden. Das Sabbathessen wird Tags vorher zubereitet, denn am Sabbath darf kein Feuer angezündet werden. Jeder enthält sich des Fahrens, des Rauchens, oder längerer Touren, doch habe ich noch nichts von den üblichen telegraphenähnlichen Sabbathgrenzen bemerkt, wie sie so oft die Außenseite russischer Städte zieren. Festesfeier, Geburt, Hochzeitsschlüsse, Hochzeitsfeier, Scheidung, Beerdigung – kurz das ganze russischjüdische Leben von der Wiege bis zum Grabe hat sich hier auf amerikanischem Boden gleichsam krystallisiert und alles vollzieht sich nach den strengen Forderungen der Tradition.

Keineswegs anmuthend ist das häusliche und wirtschaftliche Leben in den hohen und ungesunden, Mietskasernen ähnlichen Wohnungen dieser quetschenden Enge beschaffen. Die Leute entbehren vollständig des wirtschaftlichen und verschönernden Sinnes, der ihnen in den slavischen Ländern nicht eingepflanzt worden. Sie hocken oft zu vielen Familien in einem und demselben Raume zusammen, und man kann sich leicht denken, wie traurig es da hinsichtlich der Reinlichkeit und der Hygiene aussieht. Nach des Tages Hitze sitzt alles draußen vor der Hausthür mit der überreichen Kinderschar nnd athmet die „lieblichen Düfte“ ein. Hier sollte die Gesellschaft vor allem Hand anlegen, zunächst auf Beschaffung billiger und bequemer Wohnungen bedacht sein und zu verhüten suchen, dass sich die Leute in solchen Massen an einer Stelle niederlassen, was sowohl für sie selbst, als für das gesammte amerikanische Judenthum die höchste Gefahr birgt.

Ein schwacher und unvollkommener Versuch ist jüngst in dieser Hinsicht gemacht worden, indem von Mitgliedern der Gesellschaft für ethical culture in der CherryStreet Nr. 339342 ein großes Tenementgebäude für diesen Zweck errichtet worden, das auch Kindergarten, Bad und Waschanstalt enthält. Die Wohnungen sollen indes nicht ganz zweckmäßig und auch nicht billig genug sein.

Große und herrliche Anstalten hat der jüdische Wohlthätigkeitssinn in NewYork geschaffen, um die russische Einwanderung in ein nützliches Element zu verwandeln. Das Kinderasyl „Hebrew Schelther Guardian Society“ auf Washington Highes gewährt ca. 600 Kindern Obdach und Unterhalt. Eine besondere Abtheilung für Mädchen, die in Handarbeit und Haushaltung unterrichtet werden, befindet sich Ecke Avenue A. und 87. Straße. Der Unterhalt beider Anstalten beläuft sich auf Pf. St. 65.000 im Jahre. „The Hebrew Technical Institute“ in der Crosby-Straße mit seinem Anbau an der StuyvesantStraße besteht seit 1884 und dient dazu, armen Einwanderern Unterricht in allerlei Handwerken, im Zeichnen und Modellieren, zu ertheilen. Die „Aquilar Free Library“ im EastBroadway mit Abtheilungen in den Räumen der „Mens Hebrew Association“ Ecke 38. Straße und Lexington Avenue und der „Hebrew Free School“, FifthStr., besitzt namentlich durch die Munifcenz des Herrn Jacob Schiff, eine der bestausgestalteten Bibliotheken.

Die „Hebrew Free School-Association“ unterhält KinderGarten und Industrieschule für etwa 3000 Kinder. Die „United Hebrew Charities“, deren Office sich 2. Avenue Nr. 128 befindet, haben sich zur löblichen Aufgabe gemacht, die russische Einwanderung zu regulieren und dahin zu leiten, wo den Armen Verdienst und Unterkunft winken. Nach ihrem letzten Rechenschaftsbericht betrug die jüdische Einwanderung im vorigen Jahre 62.574 Personen, wovon der Löwenantheil mit 54.194 auf Rußland entfällt. Die Ausgaben betrugen Pf. St. 175.000, außer Kleidungsstücken, Medicamenten etc. Baron Hirsch hat für diesen Zweck die Summe von Pf. St. 67,685.35 gespendet. Außerdem gieng dieser Gesellschaft im November vorigen Jahres von dem Berliner Central-Comitee des russischen Hilfsvereins eine außergewöhnliche in monatlichen Raten zahlbare Unterstützung von M. 800.000 zu, die in jenem Berichte noch nicht aufgeführt ist.

Man sieht, wie großartig dieses Hilfswerk bedacht ist, mit dem noch andere philanthropische Anstalten cooperieren, wie die „Hebrew Benevolent“ und „Relief Asylum Society“, diverse Ladies Societies, deren eine nebst Office und der auf NewJersey gelegenen Colonie Woodvine ganz allein durch die Hochherzigkeit des Baron Hirsch unterhalten wird, welcher zu diesem Zwecke die stattliche Summe von 10 Millionen Francs hergegeben hat. Diese Colonie, 4884 Acres umfassend, ist jetzt von 60 Colonisten besiedelt, enthält Schule, Bethaus und alle den Ansiedlern noththuende Einrichtungen und Communications-Verbindungen.

Trotz aller dieser großen Werke der Humanität besteht aber durch das Factum des Ghetto als drohendes Gespenst und warnendes Mene-Tekel-Upharsin der gesammten jüdischen Einwanderung, das auch im Inlande leider seine verkleinerten Pendants aufzuweisen hat. Wir müssen nothwendig nach der Ursache dieser bedeutenden Erscheinung fragen, die das ganze Hilfswerk in Frage zu stellen droht. Eine aufmerksame Untersuchung belehrt uns, dass diese sowohl in der Vorgeschichte, in der religiösen, sittlichen und socialen Erziehung der eingewanderten Juden, als auch in der Art der heutigen Gemeindebildung und der geübten Wohlthätigkeit zu suchen ist.

Aus religiösen und socialen Gründen drängen sich die Massen zum Ghetto zusammen, um ungestört und bequem in dieser Absonderung ihren eigenartigen Gebräuchen und Gewohnheiten nachleben zu können. Wohl sprechen die fortgeschrittenen amerikanischen Glaubensgenossen „Macht wir wir; lebt wie wir; werft die Fesseln und den Ballast des alten Glaubens ab und bildet Gemeinden nach amerikanischem Muster! Schon recht. Aber einmal hält es unsäglich schwer sich vom gewohnten Alten so schnell zu treten und Knall und Fall ins Neue zu stürzen, was in religiöser Beziehung gar nicht zu wünschen ist, da der Amerikaner so radical vorgegangen ist, dass vom Judenthum kaum noch etwas übrig geblieben ist, und andererseits vergessen jene, dass die heutigen Gemeindebildungen, sowohl der Reformer, als älterer Neuerer, in Deutschland sowohl, als in Frankreich und hauptsächlich in den Vereinigten Staaten auf zu glänzendem Fuße eingerichtet und nur für die Reichen bestimmt sind, die Armen fast völlig ausschließend. Wer beiträgt, ist Mitglied und hat Zutritt zum Tempel, der Arme steht wie ein Paria außerhalb desselben. Das ist buchstäblich wahr. Wenn wir die splendid eingerichteten Gemeinden hierzulande mit ihren prächtigen Tempelbauten, ihrem pompösen Cult und ihren fürstlich besoldeten Reverends sehen, was Wunder, dass sich die Armen in sich selbst, in hässliche Ghettos und schmutzige ArmenViertel zurückziehen und ihrem tief gefühlten religiösen Bedürfnis nach ihrer alten guten Weise zu genügen suchen. Die Gegensätze sind zu gewaltig in unseren Tagen und die Kluft erweitert sich immer mehr zwischen denjenigen, die der Leitung bedürfen und denjenigen, die nur vermöge ihres Geldsacks die Leiterschaft in Händen haben. Aber nur auf Basis einer wirklichen Gleichheit und Brüderlichkeit ist es möglich Einfluss auf die Massen zu gewinnen, diese zu sich hinanzuziehen und zum Guten hinzuleiten.

Auch die Art und Weise, wie heute Wohlthätigkeit geübt wird, ist nicht sonderlich darnach angethan, den Armen mit Liebe und Dankbarkeit zu erfüllen. Der Arme fühlt es instinktiv heraus, dass das Gute nicht seinetwillen geschieht, dass die Philanthropie mehr Paradewerk ist und in der Absicht geübt wird, ihn so schnell wie möglich vom Halse zu haben. In der That, der russische Jude wird von seinen übrigen Glaubensgenossen bitter gehasst – mit Recht oder Unrecht lasse ich dahingestellt sein – so sehr man sich auch scheuen mag, dies zu bekennen. Alle diese Anstalten sind lediglich Vorkehrungsmaßregeln, Deichvorrichtungen, um sich vor dieser russischen Ueberfluthung zu schützen. So war es zur Zeit der spanischen Judenaustreibung, wo die italienischen und die portugiesischen Juden die armen Flüchtlinge nicht landen lassen wollten, und so geschieht es auch heute. Dieser Egoismus ist aber auch der Mehlthau der Philantrophie, denn bei ihr kommt es hauptsächlich auf die Absicht an. Dass die Wohlthat auch wirklich Frucht trage, muss die Liebe stets dem Geben vorangehen.

Es herrscht in allen den Comitess zu viel Bureaukratismus, abgesehen davon, dass hie und da Personen durch Nepotismus in einflussreiche Stellungen geschoben sind, in derselben nur einen guten, fetten Posten erblicken und das Liebeswerk darnach üben. Ich denke nicht daran, auf das ganze einen Stein zu werfen, denn ch habe sowohl in NewYork, als auch in Chicago in den Leitern vorbezeichneter Vereine thatkäftige Männer gefunden, vom besten Willen und der höchsten Begeisterung für das löbliche Werk beseelt, namentlich ist der in Chicago herrschende Geist und das Vorgehen der leitenden Personen der dortigen israelitischen Gesellschaft rühmend hervorzuheben. In der Jewish Training School, unter der vorzüglichen Leitung des Directors Herrn Bamberger, besitzt diese Gemeinde das Unicum einer Anstalt, die ihrer Bildung und ihrer Hochherzigkeit Ehre macht. Sie wird von etwa 6000 Kindern besucht, die hier, theils im Kindergarten angenehm und nützlich beschäftigt werden, theils Unterricht in Handfertigkeit nach den neuesten Grundsätzen erhalten; für erwachsene Knaben sind praktische Werkstätten eingerichtet. Der jährliche Kostenaufwand beläuft sich auf 8,18.000, die durch freiwillige Beiträge und Schenkungen gedeckt sind. Der russische Hilfsverein, zu welchem GemeindeMitglieder über 88000 monatlich besteuern, arbeitet recht wacker. In Philadelphia, Boston, Baltimore, St. Louis und in allen hervorragenden Centren wird zur Förderung des russischen LiebesWerkes eines ähnliche Thätigkeit entfaltet. Dass diese noch verhältnismäßig so spärliche Früchte trägt, daran haben vorerwähnte Mängel Schuld.

Viel wird auch gesündigt, durch Unkenntnis des Wesens und der Charakter-Eigenthümlichkeiten der russischjüdischen Einwanderer und namentlich dadurch, dass die Leitung meist in Händen von Personen ruht, die durch ihre anderweitigen Berufspflichten allzusehr in Anspruch genommen sind. Dieses Liebeswerk erfordert die ganze Hingabe und eine specielle Kenntnis. Wie viel ist da schon experimentiert und verausgabt worden! Im Jahre 1882 sind allein zwei Millionen Dollars für den Hin und Herschub geradezu ins Wasser geworfen worden, natürlich alles war damals unvorbereitet und kopflos gegenüber einer solchen Völkerfluth. Jetzt heißt es, dass die 5000 in Argentinien angesiedelte Juden hierher geschafft werden sollen, nachdem Militärgewalt gegen sie eingeschritten und auf sie geschossen worden war, angeblich weil sie undisciplinierbar sind und sich widersetzten. Hier sind sie ebenfalls fortwährend auf der Wanderung, da es nicht gelingen will, sie alle dauernd zu placieren und der AhasverFluch will nicht weichen, trotz diesem gewaltigen Aufgebot von Riesenmitteln. Wir fürchten, dass es dem edlen Baron Hirsch eben so wenig gelingen wird, seine providentielle Absicht in Bezug auf seine Religionsgenossen durchzuführen, wie einem Las Casas, der durch seine wohlmeinend befürwortete NegerEinwanderung unsägliches Elend heraufbeschwor. Gar leicht kann diese russischjüdische Einwanderung zum Unsegen für sie und andere ausschlagen, wenn es nicht bald gelingt, Mittel und Wege und geeignete Männer zur Durchführung dieses riesenhaften Einwanderungs und Colouisationswerkes ausfindig zu machen.