ALEJCHEN, SCHOLEM: MARIENBAD, Folge 1
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In: Wiener Morgenzeitung vom 13. August 1920, S. 7
Kein Roman, sondern eine überaus verwickelte Geschichte, die zwischen Warschau und Marienbad spielt, in 36 Briefen, 14 Billet-doux und 46 Telegrammen.
Belcie Kurlander aus Berlin an ihren Gatten Schlojme Kurländer auf den Nalewki (Warschau).
Dem teuren Gemahl, Herrn Schlojme, ehrfürchtigen Gruß.
Ich habe Dir zu berichten, daß ich vorläufig noch in Berlin bin und nach Marienbad nicht früher werde fahren können, als — Gott geb’s — nach Samstag. Ich muß mich vor Dir nicht erst entschuldigen, aber Du kannst mir glauben: ich bin ganz und gar nicht daran schuld, daß sich alles so getroffen hat, daß ich mich in Berlin eine ganze Woche aufhalten muß. Wenn Du alles von Anfang bis zum Ende wissen wirst, was ich erleben mußte, wirst Du selbst sagen, daß man nichts im voraus berechnen kann; der Mensch denkt und Gott lenkt.
Die Sache ist so:
Ich habe gemeint, in Berlin nicht mehr als einen Tag verbringen zu müssen, höchstens zwei. Denn wie lange dauert denn eine Visite beim Professor? Das wäre alles schön und gut gewesen, wenn ich den Professor zu mir berufen hätte. Nun habe ich mir aber überlegt: Wozu soll ich unnütz dreißig Mark hinauswerfen, die zu etwas anderem zugute kommen können? Ich habe ohnedies so oft von Dir anzuhören, daß sehr viel Geld aufgeht; die Zeiten — sagst Du — sind jetzt auch nicht am besten und ich habe noch viel in dieser Art von Dir anzuhören… Deshalb habe ich auch nicht in dem Hotel in der Friedrichstraße absteigen wollen, das meine Base Chawele mir aufgeschrieben hat. Wie kann ich mich mit Chawele Tschapnik vergleichen? Chawele kann ausgeben, wieviel sie will und ihr sagt keiner was; denn Chawele ist nicht die zweite Frau ihres Mannes wie ich, ihr Mann hat keine Kinder von der ersten Frau wie mein Mann und Berl Tschapnik zittert nicht um jeden Groschen wie Du und hat nicht Angst, in seinen alten Tagen betteln gehen zu müssen, wie Du sie hast. Ich meine damit — Gott bewahre — nichts Böses, ich sage ganz ernst, daß ich Dir nicht mehr ausgeben will als nötig, und gerade deshalb bin ich dort abgestiegen, wo alle, die auf Nalewki wohnen, absteigen, bei der Perlzweig. Das ist eine Witwe, eine gute Jüdin und tüchtige Hausfrau, sie kocht ausgezeichnet und läßt sich nicht viel zahlen und die Hauptsache ist: man hat es überall hin nahe. Für 10 Pfennig bist Du auf der Leipziger Straße, bei Wertheim. Und ist es möglich, in Berlin zu sein, ohne wenigstens für eine Minute zu Wertheim zu gehen? Wärest Du ein einziges Mal bei Wertheim, Du würdest selbst sagen, es sei unmöglich. Von Wertheim habe ich noch in Warschau gehört. Aber ich habe mir nie vorgestellt, daß es auf der Welt so ein Geschäft geben kann. Was soll ich Dir erzählen, mein teurer Gemahl? Es läßt sich nichtbeschreiben! Was das Herz begehrt und was der Mund ausspricht! Und die Menge Menschen — keine Nadel kann zu Boden fallen! Und alles spottbillig, der halbe Preis gegen den bei uns auf den Nalewki! Denk Dir nur. Ein Dutzend Taschentücher zwei Mark! 98 Pfennig, ein Paar Seidensocken, die Du bei uns nicht um einen Rubel zwanzig kriegst! Oder um 68 Pfennig eine Wanduhr— wie kann der Mann dabei nur leben? Ich habe mir vorgenommen, wenn ich, so Gott will, gesund nach Hause fahre, wieder über Berlin zu fahren, nicht über Wien — Wien ist, so sagt man, ein Dorf, eine Wüste im Vergleich zu Berlin — und dann will ich mich bei Wertheim einstellen und, da ich doch dann einen freien Kopf habe, mich gut umsehen und für den Haushalt einkaufen, was nötig ist: etwas Glasware und etwas Fayencen und derlei Zimmerschmuck; Seidenstoffe, Möbel und Parfüm. Wegen der Grenze brauchst Du keine Angst haben; da schaffe ich mir schon Rat. Chawele Tschapnik bringt jedes Jahr ganze Kisten durch. Jetzt habe ich noch gar nichts gekauft, außer ein wenig Wäsche, ein Paar Sommerschuhe, einen Hut, einen Flanellschlafrock, ein halbes Dutzend Unterröcke, einen grünen Seidenschirm, Handschuhe, Spitzen, Fichus und sonst einiges, was ich in Marienbad unbedingt brauche. Und da ich schon bei Wertheim war, habe ich mich schon nicht halten können und habe mir gleich ein halbes Dutzend Tischtücher, zwei Dutzend Servietten und eine Maschine zum Butterschlagen beipacken lassen. Jetzt tut es mir schon leid, so wahr ich lebe, daß ich Dir nicht gehorcht und nicht noch ein paar Hunderter mitgenommen habe. Es war sehr dumm von mir, mich vor Dir schön zu machen, daß ich nicht die Verschwenderin bin, wie Du meinst. Das Geld wäre besser bei Wertheim angelegt als beim Doktor (alle Krankheit über ihn!). In Berlin habe ich noch einen Doktor gebraucht! Zu wenig von der Sorte gibt es in Warschau?! Ich sage Dir: Die Berliner Doktoren hätten warten können, bis ich einen holen lasse! Wem aber ein Unglück bestimmt ist — nun, Du sollst es gleich hören:
Kaum war ich in Berlin in meinem Quartier bei der Perlzweig angekommen, ich hatte noch nicht Zeit gehabt, mich ordentlich zu waschen und umzukleiden, da haben mich alle schon gepackt, welchen Doktor ich mir holen lassen will. Ich sage: „Erstens, wer hat Euch erzählt, daß ich einen Doktor brauche? Sehe ich so schlecht aus, daß man mir das an der Nase ansieht? Und zweitens,“ sage ich, „habe ich von Warschau her die Adresse eines Professors.“ Da mischt sich einer hinein, ein Alter, mit einer Nase, auf der Ribisel wachsen: „Nehmen Sie es mir nicht übel, Madame,“ sagt er, „was ich Ihnen sagen will. Weil Sie,“ sagt er, „die Adresse eines Professors haben, müssen Sie vorher,“ sagt er, „zu einem Doktor. Denn es ist ein großer Unterschied,“ sagt er, „was Sie dem Professor sagen werden oder was,“ sagt er, „der Doktor ihm sagt er, „sagen wird in seiner Doktorsprache.“,
(Fortsetzung folgt)