YORK-STEINER, HEINRICH: DAS MÄDCHEN VON KINERETH

 

Zur Biographie: Heinrich York-Steiner

Aus: Menorah 3 (1925), H. 4, S. 84.

Link zum Text

Ich nehme dich in meine Arme, oh Kinor, und singe ein Lied dem See des Saitenspieles, ein Lied, das die Seelen begeistern und die Herzen gewinnen soll.

Wem lobsinge ich vorerst? Dir, o Herr, der du uns gnädig geführt von den Trauerweiden Babels zu den Wässern des Jordan, der du in der Zerstreuung mit starker Hand ein unsichtbar Band um uns gewunden hast, dessen Enden über das „Meer von Kinereth“ führen und in Zion verankert sind.

*

Wer ein Jahrzehnt dem Lande ferne geblieben ist, vermag sein Erstaunen kaum in Worte zu fassen. Die holperigen Straßen von einst, die Wege, auf denen nur eisenachsige und stählerngestützte Wagen fahren durften, liegen glatt in der heißen Sonne und wo die Pferde mühselig im Sande oder über Steine stiegen, schwirren die Automobile von einem Ende des Landes zum anderen.

Die Erinnerung wandert zurück in jene Zeit, da die Fahrt von Haifa nach dem See Kinereth, die heute in wenigen Stunden zurückgelegt wird, zwei Tagreisen verzehrte. Wo man unter Umständlichkeiten einen arabischen Kutscher gewinnen mußte, der dann noch unterwegs einen Führer bestellte, damit er vom Wege nicht abirre. In jener Zeit war es, daß wir von der Höhe Galiläas hinabrollten in die Tiefe des Jordantales, das 208 m tief unterhalb dem Meeresspiegel liegt. Die fruchtbare Ebene leuchtet in der Abendsonne, deren letzte Strahlen den Hügel beglänzen, auf dem die Lehrfarm von Kinereth steht, die uns in der letzten Nacht der palästinensischen Reise Obdach bietet.

Wir wanderten mit hungrigen Augen in der Dämmerung umher, hinunter zum See, der langsam verblaßte und nur noch die Lichter auffing, die durch das seltsam geformte Abendgewölke strahlten. Wir zogen die Straße gegen Tiberias, die unsichtbar bleibende Stadt, die man im Dämmer nur ahnen mag. Das Halbdunkel schlang die Gestade ein, bedeckte den See und legte sich wie ein Schleier über den Weg.

Ein Aufseher erzählte vom Leben und Treiben auf Kinereth. Es ist ein Leben der Arbeit, schwerer Arbeit, deren Härte keiner beklagt, weil sie jeder sucht. Genuß bietet die erfolgreich gepflegte Flur und Anregung der Araber.

Es gab heroische Kämpfe hier herum, Kämpfe auf Tod und Leben, Mann gegen Mann und gemeinsame Abwehr manchen Überfalles arabischer Horden, die rasch über den Jordan kommen. Kinereth ist von einerhohen Mauer umgeben, die nachts festungsgleich abgeschlossen wird. Wachsame Hunde und tapfere Menschen schützen das Gut gegen Diebe und Räuber. Eines Abends kamen deren gegen 50, wohl bewaffnet, fest entschlossen, das Gehöft zu überfallen und zu plündern.

Sie besitzen auf der Farm nur wenig Schießgewehre, die jüdischen Reiter setzten sich auf ihre Pferde und schossen im raschen Ritt so oft und so rasch von den verschiedensten Stellen in das Dunkel, daß die Beduinen an eine große Zahl von Bewaffneten glauben mußten. Am nächsten Morgen fand man nur noch ihre blutigen Spuren.

Unter solchen Gesprächen, bei sinkendem Tageslicht, sucht man gerne die schützenden Mauern. Wir steigen die Höhe hinan, zurück zur Farm. Nahebei, auf halber Höhe finden wir Bausteine und Grundaushebungen; hier entsteht die neue Icakolonie Kinereth.

Einige der künftigen Kolonisten sind schon angelangt, um ihr Land zu bebauen, das sich auf der Lehne terrassenförmig erhebt, geschützt von den Hügeln, die wir herabgekommen sind. Dieser Streifen Landes steht schon in Kultur, die Leute, die ihn bearbeiten, wohnen aber noch in Bretterhütten.

„Bitte, kommen Sie herein zu uns, Sie sollen sehen, wie wir in Palästina leben“, meint eine stattliche ältere Frau. Und wahrlich, ihre Bitterkeit ist nicht ohne Berechtigung. In einer Bude, die gegen Regen nicht schützt und dem Winde wenig Widerstand bietet, steht guter Hausrat, unter anderem ein schönes, hohes Bett mit vollen Federpölstern und reinem Leinenzeug. Querüber liegt ein kleines Mädchen, die Füße auf einem Stuhl, im tiefen Schlafe schwer atmend. „Das Fieber hat sie“, spricht die Mutter, „alle paar Tage muß sie sich eine Stunde legen.“

In diesem Augenblick tritt ein kräftiges, nicht allzu großes Mädchen ein, in der Schürze frischgemähtes Gras, die Sichel unter dem Arm, das Gesicht gerötet, die Augen kühn leuchtend. Wohl sieht man es, daßFieberröte sie oft genug getrübt hat, aber das kleine Weibstück atmet Kraft und Sicherheit.

„Warum führst du die Fremden hier herein“, schmälte sie. „Zeig` ihnen doch lieber unsere Felder, die wir aus dem trockenen Boden aufbauen, unseren Weizen, unsere schönen Äcker, unser Land.“

„Haben wir daheim keine Äcker gehabt?“ warf die Mutter ein. „Schöne Felder, mein Herr, und ein schönes Haus. Kommt sie einmal von Odessa nach Haus und schreit fort, fort von daheim, fort nach Palästina.“

Das Mädel stampfte wild den Boden. „In Rußland ist man nit daheim, hier ist daheim.“ Und sie stieß den Fuß gegen die Erde, als ob sie neuerlich Besitz ergreifen wollte von ihr.

„Mein schenes Haus“, jammerte die Mutter. „Schén, schén“, spottete die Tochter, das halb im Jargon betonte Wort noch karikierend, „und kein Tag sein Leben sicher. Drinnen in Odessa erschlagt man die Brüder und man ist in der Nähe und hört das alle Tag.“

„Nu“, ereiferte sich die Mutter, „hier erschlagt dich der Araber“. „Hier“, gab das Mädel mit einem Lachen zur Antwort, „hier“, und das Lachen klang in ein wildes Triumphgeschrei aus, die Rechte mit der Sichel beschrieb einen Halbkreis, „hier schlagt man sich mit dem Araber. Und wer besser reiten kann und besser schießen, der bleibt der Herr. Hier ist unser Land“, schloß sie die Rede und wandte sich ab, mit dem Angesicht zum See und Fluß.

Uns war wie vor einer Schaubühne, auf der Künstler eine Szene stellen, denn solchen Judenmädchen begegnet man doch sonst nur in Büchern. Der Mutter zuckte es um den Mund. „Unser Land“, „voller Fieber“. Geringschätzig schob die Kleine ihre Schultern hoch. „Fieber, das ist eine Palästinakrankheit, das macht gar nichts, man schluckt Chinin und gut.“

Nun war sie etwas wild geworden, daß die Mutter das Land, ihr Land, vor den Fremden bloßstellte. Aber rasch wurde sie gut, ein Lächeln verschönte das braune Angesicht und es klang wie eine Hymne: „Gott, wie schén ist es doch bei uns.“ Ihre Blicke liebkosten das Land und mit ihr berauschten wir uns an dem Bilde, das sich uns darbot: Immer wieder blitzten die Windungen des Jordan aus der tiefgrünen Fläche des weithin unter uns gebreiteten Tales. Der geheimnisvoll blinkende See sank zwischen seinem hügeligen Bette in tiefes Schweigen, während das Licht über den schweren Bergmassen Galiläas wie ein Heiligenschein verdämmerte. Lange standen wir im Anschauen und in Träumen, bis die Stimme des Mädchens uns weckte:

„Und ein Haus kriegen wir auch bald“, lobsang ihre Stimme. „Ein schénes Haus.“ Sie wies auf die Steine neben dem ausgehobenen Grunde. Die Mutter gab sich in Frieden, ein leiser Stolz stieg in ihr auf und sie blickte bewundernd und lächelnd auf das tapfere Kind.

Sie führte uns zu einer Nachbarin, einer alten Jüdin aus dem Kaukasus, deren lediger Sohn Kolonist werden soll. Als die Erde urbar gemacht war und die Hütte stand, ließ er die Eltern kommen, ohne die er nicht leben mochte. Und nun galt`s einen Seitenhieb auf die ungebärdige Tochter. „Bei den Sephardim sinnen die Kinder ganz anders wie bei uns.“ Der Sohn arbeitet hart den ganzen Tag, „in dem hohen Bett da schlafen die Eltern und er liegt in einem Teppich auf der harten Erd`.“ „Und wissen Sie, wie die Mutter ins Bett geht? Der Sohn legt sich aufs Gesicht, die Mutter tritt auf seinen Rücken und er hebt sich langsam in die Höh`, bis sie ins Bett steigen kann.“ Die sephardische Greisin, deren Sprache uns nicht erreichen konnte, lächelte uns freundlich zu und wir verstanden sie. Sie zeigte uns das Innere der Hütte, deren Hauptmöbelstück das hohe Bett, während gute Teppiche den holperigen Boden bedecken, der sich von dem Acker draußen nicht unterscheidet. Stühle kennen diese Leute nicht, sie kauern auf ihren Teppichen.

So beginnen die Kolonisten ihre Arbeit in Palästina. „Wenn es regnet“, erzählte die russische Mutter, „wir stehen im Wasser!“ „Man vertrinkt nicht“, repliziert die Tochter. „Haben wir das gebraucht“, jammert die arme Frau fast unter Tränen.

Nun trösteten wir. Ich erzählte, daß die Kolonisten in Judäa Ähnliches erduldet hätten und nun als wohlhabende Gutsbesitzer auf ihrem Boden leben, fröhlich und glücklich in blühenden Dörfern sitzen und nur noch mit Stolz von ihren harten Anfangszeiten erzählen, von denen ich einiges zehn Jahre früher selbst erlebt hatte.

Da leuchteten die fieberroten Augen des Mädchens in einem Gefühle höchsten Glückes. „SiehsteMutter, siehste Mutter, du wirst mir`s noch danken, danken wirst du mir, daß ich nicht hab` wollen in Rußlandbleiben.“

Das war im Jahre 1910.

Damals ahnten wir nicht, wie sehr diese Mutter in wenigen Jahren Ursache haben wird, ihrem herrlichen, tapferen, kleinen Mädchen zu danken. Vorläufig dankten wir diesem prachtvollen Kinde und wir lobten das Schicksal, das uns so gnädig geführt, und dankten der Vorsehung, die uns den letzten Abend in Palästina verklärt hatte.

Für den ersten Kongreß gab ich seinerzeit dem Künstler die Idee des Gegensatzes zwischen den Juden an der Klagemauer und den Juden am Pfluge. Wenn sich doch ein jüdischer Künstler fände, den Frauenvereinen ein Bild zu schaffen mit unserer jungen Freundin von Kinereth und als Gegenstück hierzu einige elegante jüdische Damen, schmuckbehangen, sorgfältig entkleidet, wie sie in einem Christkindlbazar Bilder verkaufen für die Ausrüstung einer Heidenmission.

Doch nein, das war nur in einer Anwandlung bitteren Scherzes hingeschrieben. Ich weiß ein besseres Bild. Eine arme Näherin, die bei Lampenschein ihr dürftiges Brot auf der Maschine zusammenklappert als Gegenstück zu einem Mädchen aus Judäa oder Galiläa, das auf dem Felde ackert oder die Sichel führt.

Und wenn mir auch kein Maler mein herbes, braunes Mädel verewigt, ich trage doch sein Bild mit mir und singe ihm ein Lied so trotzig, so herb und doch so schlicht, wie dieses Judenkind.

Und nun kommt Frau Abrahamsohn, die Nährmutter von Kinereth, sie lockt mit dicker Milch, frischen Eiern, mit Butter und Käse neben gebackenen Lachsforellen, die der See freigiebig spendet. Und während der kleine Ofen, der im Freien steht, seine prasselnden Töne zu uns schickt, singen die Arbeiter in ihrer Küche traurige Lieder, Lieder, die zum Weinen reizen. Ich aber will fröhlich sein, weil das Bild dieses tapferen Mädels uns heimbegleitet.

Wir sitzen bald am Tische der Sänger, wir sitzen bescheiden und lauschen und schweigen. Wir schämen uns vor diesen Helden, die sich selbst nicht kennen, die in ihrer Bescheidenheit unsere Herzen verwunden, denn morgen verlassen wir Palästina, sie aber bleiben, arbeiten und dulden. Auch das kleine Mädchen bleibt, arbeitet, arbeitet, windet sich stundenlang im Fieber, schluckt die bittere Rinde des Chinabaumes und lacht und lacht. Wenn sie aber lacht, warum sollen wir trauern? Ein lustig Lied, meine Brüder. Solange es Judensöhne gibt, deren Rücken der Mutter Schemel ist, solange kleine Mädchen Haus und Hof verlassen, um den Boden Palästinas urbar zu machen, so lange soll kein Jude an seinem Volke verzweifeln. Singt, meine Brüder, singt ein trotzig Lied!

„Ein Sturm zieht durch die Lande.“ Jawohl, es stürmt draußen. Ein wilder West ist aufgestanden, er zieht von den Bergen Galiläas brausend nieder, die Tore seufzen, die Pforten stöhnen, in den Giebeln brüllt es und die Hunde heulen jämmerlich ob des ungewohnten Hexensabbaths. Schläfst du, kleines Mädel, in deiner zitternden Bretterhütte auf freiem Felde, die im Sturme bebt, die der pfauchende Wind erfüllt? Hörst du mein Lied? Mein Lied ist ein Hauch und der Sturm ist ein Hauch. Hülle dich warm, huschle dich eng und fürchte nichts.

Unter festem Dache sind wir, zwischen starken Mauern, du ruhest in gemachlosem Brettergefüge, über deinen müden Leib zieht der Wind. Krachend tost er die Dächer hinan, ein dumpfer Schlag – berstend weicht ein Fenster – dann klirrt es scharf auf, die Decke fliegt vom Leibe – – unser Fenster ist der Gewalt des Sturmes gewichen!

Einen Tisch her und ans Fenster gerückt, darauf unsere Koffer, dazwischen ein Brett, nun hält`s wieder dicht. Du aber, kleines Mädel in deiner Hütte, vermagst du zu ruhen?

Wir wachen dem Tage entgegen und harren des Lichtes.

*

Als man uns den Tee brachte und dazu, was die Farm an Gaben wohlgeratener Kühe hervorbringt, waren unsere Freunde von gestern längst bei ihrer Arbeit.

Dann kam der Abschied. Unser Gepäck wurde an den See gebracht, wo ein Boot unserer wartete, ein Fahrzeug, groß genug eine ganze Herde übers Wasser zu bringen. – – – Leiser Wellenschlag, sachtes Gleiten, sanftes Schaukeln, Zug um Zug hinaus in den See.

Sachte und doch viel zu rasch, denn es ist die letzte Stunde in diesem alten-neuen Lande der Heimat. Das Boot gleitet immer weiter nach Osten, bis daß wir den ganzen See überblicken. Einst kränzte eine Girlande lieblicher Orte dieses köstliche Gewässer, an dem jede Stätte durch seltsame Legenden weltenweit seinen Namen bekannt machte. Uns Juden entstand in Tiberias, das vor den Blicken sich von Hügel und Wasser löst, die Mischna, die Kodifizierung der mündlichen Rechtstradition, die Grundlage des Talmud, der die Mischna glossiert. Auch die sogenannte jerusalemitische Version des talmudischen Werkes ist in Tiberias niedergeschrieben worden.

An den Ufern des Sees ruhen Rabbi Akiba, Rabbi Jochanan ben Sakai, um die Größten der Großen zu nennen. Etwa 1000 Jahre später lebten noch hier Heroen der Lehre, des großen Maimonides Vater, zu dessen Gebeinen der Sohn seine sterblichen Reste hieher zur Ruhe bringen ließ. Sie kamen von weither, von Kairo, wo der berühmte jüdische Philosoph, der zugleich einer der ersten Ärzte seiner Zeit war, am Kalifenhofe seine Kunst übte.

Wie ein Traumbild schwebt das alles an uns vorüber, Vergangenheit, Gegenwart und die Zeit dazwischen. Der Geist aber sucht forschend das Geheimnis der Zukunft zu entschleiern. Werden wir neues Leben hieher verpflanzen? Werden wir?

Heiße Wasser quellen aus dem Boden und bieten den Bresthaften Heilung, der See spendet linde Bäder, köstliche Lüfte würzen die Tage, kühlende Winde streifen zur Nacht, der besiedelte Boden würde dem Fieber wehren, das sich noch meldet. Werden wir diese Siedlungen schaffen, hier, wo alles schläft, alles träumt?

Heilige Stille weitum. Nur hie und da schnellen flinke Fische aus dem See und fallen zurück in ihr perlmutterfarbenes Wasserschloß.

Lautes Rufen weckt aus Sehnen und Träumen. Das Boot stößt ans Ufer, wir eilen zur Bahnstation Samach, dem Zug zu, der nach Damaskus fährt. „Der Wind hat die Tore des Himmels geöffnet“, meinte der Bootsmann. Und während der Zug sich in Bewegung setzt, schießt der Regen aus den offenen Wolkenschleusen in Strömen hernieder. Lange stehen wir noch am Fenster und spähen durch die Wasserfäden hinüber nach dem Hügel von Kinereth.

Oh, du kleines Mädel, Symbol des erwachenden Volkes! Peitscht der Regen dein gerötet Gesicht? Ereiltest du die Hütte und ruhst in ihrem aufgeweichten Boden? Unser Wort erreicht dich nicht und doch rufen wir laut hinaus: „Jeworechecho!“

Und nun erklingt meines Liedes letzte Strophe. Wo immer du heute weilen magst, du liebste Schwester, schöne Erinnerung an die Zeit der frühen Pioniere, du hast nicht vergebens gearbeitet und gelitten, denn deinem Beispiel erwuchs wahrlich der Segen Gottes und von Dan bis Berscheba ist das Land voll von deinesgleichen.

4