BLUM, KLARA: DIE TOCHTER ZIONS

Zur Biographie: Klara Blum

Link zum Text

*     *     *

In: Ostjüdische Zeitung. Organ für die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Interessen der Bukowinaer Judenschaft, 6. Jahrgang, Ausgabe 271 vom 09.10.1924, S. 2f

*     *     *

Aus all den alten Schriften, aus dem Buche der Könige, der Richter, der Propheten, schaut uns immer wieder ein rührend anmutiges Gesicht entgegen. Und in der fremdartigen Tracht, in dem sonderbaren Rahmen längstvergangener Dinge erkennen wir eine altvertraute, täglich gewohnte Erscheinung: „Die Tochter Zions“.

Wie sie ruhig dasteht zwischen den schwarz-grünen Bäumen und den weissen Mauern des alten Judenlandes, hat sie schon irgend etwas schwer zu Bezeichnendes, das sie von den übrigen Frauen unterscheidet, ihr Wesen anders formt, ihr Schicksal anders färbt. Auf den ersten Blick scheint sie ganz Weib des Altertums, ganz Orientalin, weich träg, pflanzenhaft, eine seelenlose Blume der Lebenslust, wie sie all die anderen waren. Aber auf ihren schwarzen Wimpern, auf ihrem scharfen Profil und auf ihrer hohen Stirne liegt schon irgend ein Hauch von Menschentum, von Nachdenklichkeit, liegt die erste Spur einer beginnenden Vergeistigung: Leid.

Sie musste leiden, die arme, kleine Tochter des jüdischen Volkes, bitter und unaufhörlich leiden. Immer wieder gab es Bedrängnis, Kriegsnot, Blut, Tod, immer wieder Gefangenschaft, Verbannung. Immer wieder hiess es: „Weine, Tochter Zions, klage, zerreisse deine Kleider, weine um dein Volk, klage und weine“. Dieses ewige, bitter ernste Trauern wurde zu einem bleibenden Zug ihres Wesens, wurde zu einer frommen Pflicht, der sie nicht untreu werden durfte. Wie schalt der Prophet, wenn sie sich manchmal ein wenig vergass, sich an schönen Gewändern freute oder Vergnügen daran fand, mit dem dunklen Feuer ihrer Augen zu spielen und mit der leichten Musik ihrer Füsse. Immer wieder und wieder kam das grosse Volkslied, riss sie aus dem süssen Halbschlaf ihres Haremlebens, zwang schmerzhaft den kaum erwachten Geist zu grossen, unpersönlichen Volksgefühlen. Vielleicht dass ihr kindhafter Verstand schon damals darüber nachgegrübelt hat, was das wohl zu bedeuten hätte, dass gerade ihr, der Tochter des auserwählten Volkes, ein ernsteres, trüberes Dasein beschieden war als ihren Gefährtinnen. Und das war eine von den vielen Fragen, deren Antwort lange auf sich warten lässt, – jahrtausendelang.

*     *     *

Und Jahrtausende später sitzt die Tochter Zions, den Kopf in die Hände gestützt und sinnt und sinnt… 

Sie überdenkt ihre Lebenspläne, Aussichten, Schwierigkeiten …

Sie hat es schwerer als andere. In doppelter Hinsicht. Sie ist Weib und ist Jüdin. Ist zweifach geringgeschätzt, zurückgesetzt, ausgestossen von aller Gleichberechtigung. Ihre Brüder haben es schwer, weil sie Juden sind, aber sie sind Männer. Ihre Schwestern haben es schwer, weil sie Frauen sind, aber sie sind keine Juden. Sie aber, die arme kleine Tochter Zions muss zwei Lasten tragen, wo schon eine drückend genug ist.

Ihre schwere Stirne sinkt …

Es war ein Tag in ihrem Leben, da hatte sie einen Atemzug lang völlig an ihr Judentum vergessen, an ihr stilles, stolzes, ewiges Leid, so gross und schön war der Gedanke, der auf einmal von ihr und Millionen Frauen Besitz ergriffen hatte: Wir wollen unseren vollen Anteil am Leben, an der Weltarbeit, am Weltgeist. Unnatürlich einseitige Geschöpfe waren wir bisher, gewaltsam zu schwachen, stumpfen, unselbständigen Wesen verkümmert, um einem einzigen Daseinszweck besser zu dienen. Wir wollen nicht mehr. Gebt uns unsere Menschenrechte, um die ihr uns jahrtausendelang betrogen habt. Gebt uns unser Menschentum wieder.

Rascher, feuriger, zuversichtlicher als alle anderen hatte sie diesen Gedanken erfasst, der so ganz ihrem innersten Wesen entsprach, ihrem brennenden Wissensdurst, ihrem fiebernden Tatendrang …

Eine Zukunftswelt lag plötzlich vor ihren Augen, reich, schön, frei …

Aber ihr grüblerischer, messerscharfer Intellekt zerteilte den Rausch der Begeisterung.

Und wenn das grosse Ziel erreicht wurde? – Auch unter gleichberechtigten Frauen war die Jüdin ewig ungleichberechtigt.

Und sie begriff den grossen Sinn des Judentums.

Auch andere Nationen hatten ihr Volkstum. Aber sie hatten ausserdem, und völlig getrennt davon, die Interessen ihrer Religion, ihrer Klasse, ihres Geschlechtes. Doch das ewig rätselvolle und sonderbare Schicksal des Juden wollte es, dass er, gezwungen, alles mit seinem Volkstum zu verquicken, nie daran vergesse. Feinde sandte es in seinen Weg, die es ihm ins Gedächtnis riefen, weil sie ihm damit zu höhnen glaubten, während sie ihm unbewusst dienten. Und darum ward sein unterdrücktes Volk vergessend, einer unterdrückten Klasse beistehend, so konnte es erleben, dass die, denen es zur Gleichberechtigung verholfen hatte, ihm dann mit dem einzigen Wort: „Jude!“ diese selbsterkämpfte Gleichberechtigung verweigerten. Und darum schüttelt auch die kleine Tochter Zions mutig alle Zweifel ab und sagt sich entschlossen: Ohne mein Volk gibt es für mich keine Emanzipation.

Mein geliebtes Volk, ich bleibe bei dir. Meine Ansprüche, meine Frauenrechte, ich lege sie in deine Hand. Ich weiss, du wirst sie ohnehin besser verstehen als die anderen Völker. Du hattest doch nie so recht Sinn und Zeit für dieses unglückselige Experiment, lebende, denkende Menschen in künstlicher Schwäche und Unwissenheit heranzuzüchten, als einseitige Liebesgeschöpfe und Luxusgeschöpfe. Du, auf deinem beispiellosen Leidensweg brauchtest Menschen und hast darum auch mein Menschentum immer ein wenig in Anspruch genommen. Schon damals, im Altertume, als alle anderen nur Weib waren, war ich schon ein wenig Jüdin, habe für dich gelitten, um dich geweint. Und dann später, viel später, in dem armseligen Ghettohäuschen, habe ich da nicht gearbeitet und verdient wie die modernste Frau, um meinem Mann das Talmudstudium zu ermöglichen? Und zuletzt, bei dem ersten Kongress deiner stolzen Selbstbefreiung, hast du mir da nicht als erstes unter den Völkern das Stimmrecht gewährt, wie einem Manne?

Du brauchst mich, mein Volk. Du brauchst mich zum Aufbau deines Landes. Meine sorgenden Gedanken, meine fiebernde Arbeitslust, meine freudige Opferbereitschaft, du kannst sie nicht entbehren. Menschen brauchst du und wirst nicht danach fragen, ob Männer oder Frauen. Wenn es nur ganze Menschen sind.

Mein geliebtes Volk, die Tochter Zions bleibt bei dir! Dein Gott ist mein Gott. Dein Land ist mein Land. Und deine Gleichberechtigung ist auch meine Gleichberechtigung.