BROD, MAX: WARUM SIND WIR NICHT MARXISTEN?

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In: Selbstwehr, 14. Jahrgang, Ausgabe 16 vom 16.04.1920, S. 2f

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[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

Abschnitte aus den eben bei R. Löwit, erschienenen Buche: Sozialismus im Zionismus.

Warum sind wir nicht Marxisten, sind es nie gewesen? Weil uns der Marxismus trotz vieler genialer Grundkonzeptionen nicht schlüssig, nicht überzeugend und außerdem der speziellen Lage des jüdischen Volkes nicht entsprechend erscheint.

Es ist ein Kennzeichen des Marxismus, daß er die nähere Einrichtung des „Zukunftsstaates“ nicht ausmalt. Er legt Wert darauf, (sagt Engels): „die Mittel der gesellschaftlichen Umwälzung nicht aus dem Kopfe zu finden, sondern vermittelst des Kopfes zu finden, sondern vermittelst des Kopfes in den vorliegenden materiellen Tatsachen der Produktion zu entdecken“. Es ist die Angst vor der Utopie, die pedantische Sorge um die Einhaltung der materialistischen Geschichtsauffassung, die doch von ihren eigenen Erzeugern nicht desavouiert werden darf!

Wenn Utopist sein nichts anderes bedeutet, als sich über das, was einem als höchst wünschenswertes Ideal vorschwebt, möglichst genau und nicht nur in allgemeinen Umrissen Rechenschaft zu geben, auf dieses Ziel hinzuarbeiten, die Geister ringsum zu erwecken, damit sie dasselbe Ziel erkennen, – gut, dann seien wir Utopisten … Genau genommen liegt im Wort „Utopie“ ein Unmögliches, Phantastisches, das die Bescheidenheit oder Vorsicht des ersten Systematikers ehrt, von der „wissenschaftlichen“ Sozialdemokratie aber geschickterweise dazu benützt wird, um jedem, der Einrichtungen einer gerechteren Welt im Detail und nicht bloß in ganz verwaschenen „Tendenzen“ formuliert, den Narrenhut aufzusetzen. Denn „wissenschaftlich“ nennt sich ja eben die Sozialdemokratie, weil sie alles von der Evolution und nichts vom Willen des Einzelnen erwartet, weil sie sachlich, nicht persönlich orientiert ist. Diese „Wissenschaftlichkeit“ des Marxismus ist sein deutsches, sein nichtjüdisches, ja antijüdisches Ingrediens. Es ist kein Zufall, daß Kautsky an ihr festhält und Bernstein nicht. Kein Zufall, daß gerade von jüdischer Seite, wie Landauer, Popper, aber auch Bergson (der die Theorie der französischen Syndikalisten anregte), die heftigsten Stöße gegen dieses System der Willensunfreiheit geführt wurden. Zur Konzeption eines jüdischen Sozialismus gehört es jedenfalls die Scheu vor möglichst klaren Formulierungen des Zieles aufzugeben und sich nicht auf die „Entwicklung“ zu verlassen. – Inwiefern dieses Selbstvertrauen mit tiefer Demut vor dem Geschehen, ja sogar mit der Erkenntnis vereinbar ist, daß die großen Taten (auch die politischen) nur durch ein „Wunder“ jenseits menschlicher Energie zustande kommen, – dieses Problem habe ich in den Mittelpunkt meines Bekenntnisbuches („Heidentum, Christentum, Judentum“) gestellt.

Die klare Umschreibung des Zieles hätte noch eine andere gute Nebenwirkung. Ich glaube nämlich daß die scharfe Betonung des Klassenkampfes in der modernen Sozialdemokratie einen ihrer Gründe im Fehlen eines ausgeführten positiven Programms und im Verhorreszieren eines solchen hat. Vom Positiven darf und soll man nicht sprechen; um so lieber wirft man sich auf das heute Vorhandene, mit Händen Greifbare, – auch dem stumpsten Verstand und gerade ihm Erreichbare, auf Gegensatz und Haß gegen alles, was dem (wenn auch noch so verschwommenen) Ziel entgegenzustreben scheint. Die Programmlosigkeit und Verlegenheit in der heutigen Sozialdemokratie kann man sich nicht leicht kraß genug vorstellen. Ist es nicht stupend, wenn Troelstra auf dem Luzerner Kongreß der Internationale (August 1919) beantragt, man möge eine „Studienkommission zur Ausarbeitung der Grundlinien für ein politisches System“ einsetzen! Eine Studienkommission! Ein Jahr nach Abschluß des Weltkrieges! Mitten im Fluß der Revolutionen, mitten im Sieg des Sozialismus, auf dem Gipfel politischer Erfolge, im Augenblick der endlichen Taten und Verkörperungen – eine Studienkommission! Zur Ausarbeitung der Grundlinien u. s. f….! Man glaubt sich in die schlimmsten Diskutier-Epochen des Zionismus versetzt.

Von der Notwendigkeit eines Kampfes gegen die antisoziale Gesinnung bin ich freilich überzeugt (ebenso wie z. B. von der Notwendigkeit des Kampfes gegen die Assimilation). Ohne Kampf geht es nicht. Man kann mit der Umwälzung unserer menschenunwürdigen Ordnungen nicht warten, bis der letzte Bourgeois (analog: der letzte Assimilant) guten Willens geworden ist. Unrichtig aber ist zweierlei: Im Kampf das einzige Mittel zu sehen – und diesen Kampf als einen Kampf der Klassen, nicht der Gesinnungen zu proklamieren. Beides geschieht im Dogma vom alleinseligma- chenden Klassenkampf. Da wird behauptet, daß der Mensch nichts sei als ein (unbewußtes) Sprachrohr seiner Interessen, daß es gar keinen Sinn habe, ihn überzeugen zu wollen, da doch ohnedies nicht die Seele, sondern die Klasse in ihm sich für dieses oder jenes entscheide, – hinter diesem trostlos barbarischen Determinismus verbirgt sich aber der tiefere Grund, daß man gar nicht überzeugen kann, da man gar kein ausgeführtes Programm zukünftiger Formen hat, das doch am einleuchtendsten überzeugen könnte. Und da die Diskussion wegfällt, bleibt dann freilich nur Kampf und nichts als Kampf. – Klassenkampf ist zum guten Teil die Grobheit dessen, der nicht überzeugen kann, weil er gar nicht überzeugen will.

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An sich würde selbst der radikalste Kommunismus einer vollen Entfaltung nationaler Kulturen nicht hinderlich sein. In der Praxis aber sieht es so aus, daß z. B. der russische Sowjetkommissar Lunatscharski („Die Kulturaufgaben der Arbeiterklasse“) über diese folgende, in sich durchaus widerspruchsvolle Sätze findet: „Die Menschheit geht unaufhaltsam den Weg zur Internationalisierung der Kultur vorwärts. Die nationale Grundlage wird natürlich noch lange Zeit (!) da sein, aber der Internationalismus setzt ja auch nicht die Vernichtung von nationalen Motiven in der allgemein menschlichen Symphonie voraus, sondern lediglich ihre reiche und freie Uebereinstimmung.“ Mit den Schlußsätzen stimme ich völlig überein. Wenn aber der Internationalismus die Vernichtung nationaler Motive nicht will – warum werden sie dann doch nur „noch lange Zeit da sein“ und nicht immer und ewig? Warum heißt es dann gleich wieder im nächsten Satz: „Die Rahmen der Nationen werden gesprengt.“ Das soll ja gar nicht geschehen, ist nicht erwünscht, – es soll nur der imperialistische Machtnationalismus durch reinen Kulturnationalismus, der verzichten, ungeistigen Aeußerlichkeiten entsagen gelernt hat, ersetzt werden. In dieser Einschränkung ist Nationalismus nicht etwa ein „notwendiges Uebel“, als das er in sozialistischen Kresen oft genug erklärt wird, sondern unentbehrlicher Baustein der Menschheit, Bindemittel, Verständigungsmittel des Geistes.– Der Staat neigt zur Schablonisierung, er stellt am liebsten grobsinnliche Merkmale auf, beurteilt etwa die Nationen einfach als Sprachgemeinschaften und gibt nicht gern Ausnahmen zu. Daß Nation nicht mehr und nicht weniger als „Sprache“ bedeute, also auf einen möglichst inhaltsarmen Begriff herabgedrückt werde, den ärmsten, den die Sachlage überhaupt noch zuläßt, ist ja nur eine Folge des sozialistischen Theorems vom „notwendigen Uebel des Nationalismus.“ – Nichts begreiflicher, nichts entschuldbarer nach all den Exzessen des Kriegsnationalismus, – und doch nichts kulturloser, nichts hoffnungsloser als dieses Verfallen ins entgegengesetzte Extrem! Die Fiktion einer einheitlichen Proletariergesinnung trägt dazu bei, den Vollsozialismus noch auf lange hinaus in der unglückseligen Winkelgasse des Antinationalismus festzuhalten, wiewohl ihm solches Verweilen durchaus nicht immanent ist. Denn im Grunde kann, wer antinational ist, nicht international sein. Er ist wahrscheinlich unternational, denn zum „Inter“, zur Klammer gehören doch auch die Stücke, die miteinander verklammert werden sollen.

Das Wesen des jüdischen Sozialismus wie auch des jüdischen Nationalismus ist und soll bleiben: die große allmenschliche Sehnsucht des Judentums.

Ich glaube: dieser Quelle entspringt ein Strom, dessen Lauf dem großen Meere der wahren Internationale entgegenführt, – jenem Ozean, in den alle Völker, jedes nach seiner Art, ihr Bestes hineintragen, damit die gemeinsame Küste der Menschlichkeit sich bade in den reinsten kraftvollen Willenzügen einer gerechten Weltordnung.