NORDAU, MAX: THEODOR HERZL

 

Zur Biographie: Max Nordau

In: Ost und West: Illustrierte Monatsschrift für das gesamte Judentum, Jg. 4 (August 1904), Heft 8-9 (August-September 1904), S. 563-568.

 

[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

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Theodor Herzl

Mehr als acht Tage sind es jetzt her, dass mich die entsetzliche Nachricht zerschmetternd getroffen hat, und ich habe mich von diesem Keulenschlag noch immer nicht erholt, und ich bin noch immer ganz davon betäubt, und ich muss noch immer eine qualvolle Anstrengung machen, um mir die Tatsache zu vergegenwärtigen,dass Theodor Herzl tot ist.

Wie? Er, der Hochwüchsige, Starke, Unerschöpfliche, immer in Schwingung und Spannung, übersch.umend von Geisteskraft und Einfällen, er, der um zehn Jahre Jüngere, ist vor mir dahingegangen! Und ich muss ihn beweinen! Und ich muss ihm den Nachruf halten! Aber das ist ja ungerecht bis zur Unerträglichkeit! Aber das ist ja so ungeheuerlich, dass man aufschreien möchte!

Von allen Seiten tritt man an mich heran, ich möchte doch über ihn schreiben, weil man weiss, dass ich ihn mit tiefer Freundschaft geliebt habe, die in demselben Masse triebhaft wie bewusst war. Bisher habe ich mit Heftigkeit abgelehnt. Ich verabscheue es, mich zum Schauspiel herzugeben. Ich mag nicht schluchzen im Angesicht von aller Welt. Wenn ich einwillige, hier die erste Ausnahme zu machen, so ist es, weil ich mich hier an allernächste Freunde wende. Wir verstehen uns auf Andeutungen hin. Hier erwartet man nicht, dass ich aus Anlass von Herzls Tod Literatur mache. Ich wäre dazu nicht imstande. Ich kann nur Klagen laut werden lassen, ohne darauf zu achten, dass sie kunstvoll aneinandergereiht sind. Und sogar in dem Augenblick, da ich meine Feder nur den Eingebungen meines Schmerzes folgen lasse, fühle ich etwas wie eine Art Beschämung, dass ich gewissermassen berufsmässig mein eigenes innerstes Gefühlsleben darstelle und den Tod Herzls zum Gegenstand eines Artikels wähle …

* * *

Die tiefen Massen des jüdischen Volkes haben das dunkle Gefühl, dass dieser Tod eines Mannes eine nationale Katastrophe bedeutet. Aber die schlichten Seelen sind noch weit entfernt davon, sich eine genaue Rechenschaft über den Umfang des Unglückes zu geben, das sie trifft, das uns alle trifft. 

Solange Herzl da war, lebendig, immer tätig, allen Anforderungen der Lage gerecht werdend, allen Notwendigkeiten eine Antwort entgegensetzend, allen Widersachern seine Brust darbietend, fand man das alles ganz natürlich, als müsste es immer so sein, so, als könnte es gar nicht anders sein. Aber jetzt, da er verschwunden ist, wird die ungeheure Weite der Lücke, die er zurücklässt, wird die Erkenntnis der Unmöglichkeit, sie auszufüllen, allmählich dem jüdischen Volk eine genaue Vorstellung davon geben, was Herzl war, und es ihm möglich machen, die Grösse seines Verlustes zu ermessen.

Eines Tages bei einem Frühstück, an dem unser Freund Alexander Marmorek teilnahm, sagte ich zu Herzl: „Wenn ich gläubig wäre und wenn ich die Gewohnheit hätte, mich in mystischer Sprache auszudrücken, würde ich sagen, dass Ihr Erscheinen im kritischsten Augenblick der jüdischen Volksgeschichte ein Werk der Vorsehung sei. In diesem beklemmend qualvollen Augenblick bedurfte es eines einzigartigen Menschen, und siehe, da tauchen Sie auf, um den Verzweifelten die Hoffnung wiederzugeben und den Entmutigten die Zukunft zu verbürgen.“

In seiner so aufrichtigen, so weit von jeder Pose entfernten Bescheidenheit errötete er, wurde er beinahe ärgerlich. „Nicht doch!“ entgegnete er, „nicht doch! Wie können Sie so sprechen, Sie, der Sie doch den Wert des Wortes kennen! Es gibt nichts Einzigartiges, nichts Aussergewöhnliches in meinem Fall. Lassen Sie mich verschwinden, und hundert Männer, tausend Männer werden sich sofort dem jüdischen Volke zur Wahl darbieten und das Werk genau an dem Punkte fortsetzen, wo ich es verlassen habe.“

Ich mochte das Gespräch nicht fortsetzen auf eine Voraussetzung hin, die ich für unsinnig erachten wollte. Aber ich schüttelte den Kopf, und Alexander Marmorek tat wie ich.

Was ich damals nicht einmal als möglich ins Auge fassen wollte, das gerade ist nun doch eingetroffen. Herzl ist verschwunden. Und man wird sehen, und man sieht, wie sehr ich recht hatte. Es bieten sich nicht tausend, nicht hundert Männer, nicht einer dar, um ihn zu ersetzen. Er war einzig.

* * *

Er war es, nicht so sehr durch jeden einzelnen seiner vielen Vorzüge, als vielmehr durch deren wundervolle Vereinigung in einer Person.

Er war ein Schriftsteller von sehr grosser Begabung, und wenn er sich hätte konzentrieren, wenn er sich hätte ganz seiner Kunst widmen können, er wäre gewiss im deutschen Schrifttum eine hervorragende Gestalt geworden. Er wäre in die erste Reihe gerückt. Aber ich weiss nicht, ob er der erste Schriftsteller seines Geschlechtsalters geworden wäre.

Er war ein hervorragender Redner: ruhig, sprachgewandt, einfach, immer voll Mass und Geschmack. Seine Form war von einer tadellosen Eleganz, auch in der Stegreifrede. Seine Geistesgegenwart verliess ihn nie. Vollkommen Herr seiner selbst, war er schon dadurch Herr über die aufgeregtesten Versammlungen und die leidenschaftlichsten Erörterungen. Aber er misstraute sich selbst und zog der Improvisation die schriftliche Vorbereitung seiner Reden vor, die er ablas, was natürlich deren unmittelbare Wirkung einigermassen abschwächte, und von seinen wohlbedachten, verständigen, überredenden Worten ging nur selten jener grosse Hauch aus, der auch den Zweifler aufwirbelt und berauscht.

Er hatte eine fruchtbare, schöpferische Einbildungskraft, die für alle Schwierigkeiten Lösungen zu ersinnen und Bilder von hoher Schönheit hervorzuzaubern wusste. Aber seine Dichterphantasie überflügelte doch nicht die von Georges Eliot, deren „Daniel Deronda“ von manchen seinem „Altneuland“ vorgezogen wird.

Er hatte einen durchdringend praktischen Sinn, und er hat ihn bewiesen in dem Organisationswerk der zionistischen Bewegung, der Kongresse, der Jüdischen Kolonialbank und des Nationalfonds. Aber auf diesem Tätigkeitsgebiete können sich die grossen jüdischen Finanziers, Gewerbeleiter, Kaufleute, Verwalter für ihm ebenbürtig halten.

Weniger Dichter als Heinrich Heine, weniger Redner als Disraeli, weniger phantasiereich als die Christin Eliot, weniger Administrator und Organisator als etwa ein Baron Hirsch, war er nichtsdestoweniger grösser als jeder von diesen, weil er all das zugleich war. Und er war noch etwas anderes. Sein Geist war genährt und geschmückt von der modernsten, aufgeblühtesten Gesittung Westeuropas, und sein Herz schlug doch zugleich im Gleichtakt mit den jüdischen Herzen des traditionellsten Osteuropas. In den Dienst der dichterisch kühnsten Konzeption stellte er die vorsichtige, überlegte Methode des mit nüchternster Berechnung abwägenden Staatsmannes. Und um nicht ausser acht zu lassen: Er war auch durch jene Aeusserlichkeiten, durch jene Zufälligkeiten begünstigt, die in den menschlichen Dingen eine so grosse Bedeutung haben. Er war schön, er war gross und wohlgestaltet, er hatte die edle Denkerstirn, das schwarze gebietende Auge, das bezaubernde Lächeln, die warme, starke, weittragende Stimme. Er ward geboren, er wuchs auf im Wohlstand, sein natürlicher Stolz hat niemals die Demütigungen der Armut gekannt, und sein Blick hatte immer die Gewohnheit, gerade und voll den seines Gegenübers zu treffen, auch wenn er ein Kaiser, ein König oder der Papst war. Die materielle Unabhängigkeit hatte sein Rückgrat gestärkt, das niemals gelernt hat, sich knechtisch zu beugen.

Das jüdische Volk hat viel Begabungen hervorgebracht, aber sie waren selbstisch oder unvollständig. Wir hatten Heines, aber sie sangen die Liebe, den Rhein und die Wallfahrt zur Muttergottes von Kevelaar; Jehuda Halevys, aber ihre jüdische Sehnsucht gab sich ganz aus in einem harmonischen Lyrismus; Disraelis, aber was sie schufen, das war der britische Imperialismus; Manasse Ben Israel`s, aber ihr Ideal beschränkte sich auf die Erlangung der Zulassung von Juden in England, Simsons, „geborene Präsidenten“, aber sie liessen sich taufen, um den politischen Versammlungen Deutschlands vorsitzen zu können; Mendelssohns, Apostel westlicher Gesittung, aber sie lehrten die Verachtung der traditionellen jüdischen Werte. Zum erstenmal seit zweitausend Jahren hatte das jüdische Volk einen Mann hervorgebracht, der wundervoll europäisch und zugleich enthusiastischer Jude war; dessen Leidenschaft der grundstürzendste Fortschritt war und der damit einen prachtvollen Geschichtssinn verband; der zugleich Dichter und Staatsmann des jüdischen Gedankens war; der Präsident, Redner, Organisator, Träumer und Tatenmensch war; der vorsichtig war, wo er es sein durfte, und wagemutig, wo er es sein musste; der bereit war zu allen Opfern, und sogar zum Martyrium, soweit es ihn betraf, doch von einer unerschöpflichen Nachsicht und Geduld für alle anderen; der stolz war, vornehm, voll Würde und dennoch bescheiden und brüderlich gegenüber den Einfachsten und Niedrigsten. Dieser Mann war Theodor Herzl, und wir haben ihn verloren, da er 44 Jahre alt war.

* * *

Wir wissen, was ihn getötet hat, sprechen wir nicht davon. Ich will nicht bitter werden. In meine Trauer soll sich kein Zorn mischen.

Ich höre um mich ein Gerede: „Ein Mann der Oeffentlichkeit muss eine dicke Haut haben. Er muss gepanzert sein gegen Angriffe und gegen Verleumdungen.“

Unselige! Glaubt ihr denn, dass er, wenn er unempfindlich gewesen wäre, den Judenschmerz heftig genug gefühlt hätte, um sein Behagen aufzugeben, um sich von seiner vielverheissenden Schriftstellerlaufbahn abzukehren und sich in den lodernden Brand des zionistischen Kampfes zu stürzen? Seine zarte Empfindlichkeit eben war es, die ihn zum Begründer und zum Führer des Zionismus machte, aber sie liess ihn auch grausam alle Wunden fühlen, die rohe und heimtückische Feinde ihm schlugen, und sie war es, die schliesslich sein armes, gemartertes Herz zermalmte.

* * *

Und die Zukunft?

Ich bewahre alle meine Hoffnungen. Aber für den Augenblick möge man mich

nichts fragen in Hinsicht auf die Zukunft; meine Tränen hindern mich noch, sie klar zu sehen.

Paris, den 12. Juli 1904

*aus dem französischen Manuskript übersetzt und vom Autor durchgesehen.