EHRENSTEIN, ALBERT: VOM DEUTSCHEN ADEL JÜDISCHER NATION.

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In: Der Tag, 20. 11. 1923, S. 4-5 

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Tran-skription

Jahrhundertelang hat man es den Juden übel genommen, daß sie sich auf die Abfassung des Alten Testaments beschränkten und, als ein neuer Messias kam, altgläubig genug, ihn nicht erkannten. Neuerdings haben sich die Dinge gewandelt und man wirft ihnen im Semi-Kürschner nichts öfter vor, als daß sie sehr gewandt seien, das Neue zuerst eindringend zu erfassen. Sie begnügten sich nicht mit dem gelben Fleck, waren vordringlich genug, mit einem Platz an der Sonne lieber vorlieb zu nehmen. Seit nun gar Heine und Börne von Verlegern der Klassikerausgaben mit jenem Heiligenschein versehen wurden, der wie Goldschnitt aussieht, hat die Emanzipation der Juden zu Zuständen geführt, die dem Professor Adolf Barteles und seinesgleichen den Vorsatz einflößten, die meisten Insassen der Literaturkataloge unbesehen im Semigotha einzuäschern. Wenn es einem Unbefangenen auch schwer fällt, dieses Gebot der christlichen Nächstenliebe zu befolgen, scheint doch eine kritische Betrachtung der Position, die das Judentum innerhalb der modernen deutschen Literatur einnimmt, längst an der Zeit zu sein.  

Das Ghetto war eine deutsche Vorstadt mehr, in seiner Sprache: dem Jiddischen, sich mehr Reste des Mittelhochdeutschen konserviert, als in irgendeinem anderen deutschen Dialekt. Man muß es Europa hoch anrechnen, daß es endlich auf das Ghetto verzichtete: dort war die Judenschaft der Entgüterung und Pogromen jeder Art am leichtesten erreichbar. Von diesen Schranken befreit, kannte ihre Anpassungsfähigkeit keine Grenzen; da jedes Volk das andere haßt – mit jenen Anstandspausen, die von Augenblicks-Ententen, das heißt: gemeinsamen Geschäften herbeigeführt werden – ließ sich das deutsche Volk von den Assimilanten auf die Dauer nicht täuschen und setzte der nie allzu üppigen Freiheit seiner freigelassenen Knechte jenen nationalistischen Antisemitismus entgegen, der in seiner Gegenwirkung zu einer geistigen Europaflucht und Selbstbehauptung führte; es gibt nämlich auch Juden, die ostentativ zum Judentum übertreten: diese nennt man Zionisten. All dies[e] chauvinistische Erscheinungen, die umso drolliger sind, als es wohl eine deutsche Sprache, aber blutwenig Germanen gibt, und ein gewiegter Anthropologe unter den deutschsprechenden Juden eben so viel Rassen finden könnte, wie unter den deutschen: slawisch-germanisch-keltischen Wirtsvölkern. Der jüdische Habitus entspricht meist dem der mittelländischen Rasse, jener italisch-berberischen Mischrasse, die sich unter dem Vorwand, Römer und Karthager zu sein, bekanntlich so kannibalisch-kannibalisch zerfleischte. Man spricht so häufig von einer Konstanz der jüdischen Rasse, hervorgerufen von Diaspora, Ghetto, Inzucht und der religiösen Ausschließlichkeit des auserwählten Volkes. Mir scheint die somatische Einheitlichkeit weniger evident, wie die der Geistesrichtung. Jahrtausende einförmiger Erziehung, die Räubergeschichten des Alten Testaments spitzfindig beleuchtet vom Talmud, geistige Speisevorschriften, streng wie die Speisekarte des Proletariats im Krieg, schufen die Uniform, die noch nicht ganz gesprengt ist, eine historische Kontinuität, die sich noch mit keiner Erlösung und Ruhe beschwichtigt hat.  

Was vor den europäischen Revolutionen sich im Ghetto als Wunderrabbiner, Talmudjünger und Irrlehrer aneinander aufgerieben hätte, offenbart sich nun seit einem Jahrhundert immer wieder als radikale Kunst. Aber was ist, was bleibt radikale Kunst? In ihrer Art souveräne Geister, wie Börne und Heine, entgingen nicht dem gelben Fleck des Klassikers; die nach 1890 mit Freud hochkamen: Schnitzler, Hofmannsthal, Beer-Hofmann – die jüdische Kritik Wiens und Berlins warf ihnen so lange perverse Erotik vor, bis ihnen der unausbleibliche Schutzkarton der Gesamtausgaben wie eine Mandarinenmütze der allgemeinen Hochachtung aufs kahlere Haupt gestülpt wird. Geister höheren Ranges: Peter Altenberg und Else Lasker-Schüler, noch immer dem Publikum und seiner marktgängigen Roman- und Dramenware siriusfern – auch diese makellosen Kinder des großen Geistes werden anläßlich eines dreißigjährigen Todestages gegen Monatsraten erhältliche Klassiker sein. Das befremdend Neue, das ihr Schicksal war, wird nie veralten – wie immer, wenn der Radikalismus der Form einem Genie des Inhalts, des Herzens dient. 

Man hat viel von einer Verjudung der neuesten deutschen Literatur gesprochen. Es wäre schwer, Namen zu nennen. Die nationalistische Reaktion hat in Deutschland so sehr überhand genommen, daß mich ein Schriftsteller, dem ich öffentlich jüdisches Blut zuerkennen würde, recht wohl verklagen kann: Betriebsstörung, geschäftliche Schädigung usw. Ich kann also nur von mir – victrix causa dis placuit, victa Catoni – direkt behaupten, daß ich durch den nie neukatholisch korrigierten Zufall der Geburt Jude bin. Die Deckfärbung, die manche Exisraeliten in der opportunen Religion der Umwelt suchen, ist an sich weder löblich noch tadelnswert: man müßte die Motive des Übertritts zum herrschenden Islam kennen, ehe man einem Sabbatai Zewi Apostatentum vorwirft – wenn auch gewöhnlich jedes Renegatentum eher von Mode, Streberei, Feigheit diktiert wird als von tiefer Überzeugung. Auch jene Konterimitation, die vielleicht manchem Zionismus zugrunde liegt: der plötzliche Anschluß religiöse indifferenter, bestenfalls patheistisch-eklektischer Literaten an das Judentum, läßt die Frage nach der Ursache laut werden und den Zweifel, ob da nicht am Ende ein Schlaukopf im Gefühl seiner eigenen Schwäche, die an sich zu keiner prominenten Stellung führen könnte, eine ganze Partei in seinen Dienst gestellt hat? Jedenfalls haben meines Erachtens Zionisten unrecht, sich an der „Überfremdung“ der deutschen Literatur zu beteiligen; sie wären konsequenter, wenn sie ihre Schriften jiddisch oder hebräisch abfaßten.  

Der qualitativ und quantitativ hohe Anteil, den das Judentum am deutschen Geistesleben hat, ist leicht erklärt. Ein Volk, dem durch viele Jahrhunderte das Wort, die Schrift heilig war, seit zweitausend Jahren in einer politischen Depression lebend, auf die Bibel und deren mystische und sophistische Kommentare als einzige Geistesquelle zurückgeworfen, vor jedem Studierenden Achtung hegend wie nur noch die Chinesen – ein solches Volk, durch Neigung, Erziehung und Zwang lange abgedrängt von allen militärischen, politischen Berufen und Staatsanstellungen, mußte in der Kunst die fast einzige Möglichkeit erblicken, sich gegen allen Rassenhaß, über Myriaden Hemmnisse und Erschwerungen hinweg, ehrenvoll Geltung zu schaffen. Die kritische Begabung, talmudher vererbt, trieb sie in die Redaktion; es ist kein Zufall, daß beste Kritiker und Essayisten Deutschlands und Österreichs jüdischer Herkunft sind, wenn auch die oft überhebliche Verehrung, die sie hauptsächlich und exklusiv ihren eigenen // Geistesprodukten weihen, dem Nachgeborenen unkritisch scheinen wird. 

Daß jüdischen Rezensenten jüdischen Künstlern in parteiischer Weise weitergeholfen hätten, könnte man nicht behaupten. Die Nörgelsucht des unproduktiven jüdischen Kritikasters, sein gegen Glücklichere oder Fruchtbarere gerichtete Selbstzerfleischungsbetrieb feiert nie sadistischere Orgien, als wenn er auf scheinbar Gleichrassige stößt, die und deren Schwächen er besser zu erkennen und kennen meint. Vpn Cliquewesen kann also in dieser Hinsicht keine Rede sein.  

Unter dem großen Außendruck ward jedenfalls in den deutsch-jüdischen Dichtern des neunzehnten Jahrhunderts ein Absehen von der rauhen Wirklichkeit, eine romantische Weltflucht, eine Verklärung des Irdischen heraufbeschworen, wie sie der Diens am Wort bei Phantasten ohne Weltbesitz zeugen mußte.  

Allerdings könnte man ebenso gut behaupten – von Grimmelshausen, Gotthelf, Keller, Reuter, Raimund und Nestroy abgesehen – habe kein deutscher Klassiker Werke geschaffen, realistisch genug, daß man aus ihnen ihr Milieu, ihre Zeit, ihre Gesellschaft wahrheitsgetreu rekonstruieren könnte. Seit Klopstock krankt die deutsche Dichtung am ästherischen Nebel, den die Gekrönten auf Jambenwolken durchfahren; frei von dieser falschen Idealisierung sind nur die vier Großmeister des realistischen Dialekts und ihre lebenden Enkel.  

Nicht nur im Gedicht, im Drama, in erzählender und kritischer Prosa haben deutsche Juden Unverwelkliches geleistet, auch als Übersetzer und gewaltige Mittler haben sie ihren Mann gestellt, ihre Dankespflicht getan: So nenne ich die Namen Landauer, Werfel, Brod, Buber.  

Viele wähnen, der Zionismus, die politisch-sportliche „Erstarkung“ und Abberration des Judentums würde sich wie die jüdische Dichtung überhaupt im palästinensischen Ghetto mit Wohlleben und Landbesitz verflüchtigen.  

Aber die Welt ist nun nach dem Krieg, der uns in alle Abgründe der Menschheit schauen ließ, so beschaffen, daß ich alle Ruhmesblätter, die arischen oder semitischen Zeitgenossen auf den Kopf fallen, für hinfällig halte gegenüber den schwachen Klängen einer anderen Zukunftsmusik, die ich zu hören glaube. Dieser Erde kann nicht die Dichtung weiterhelfen, nicht das dem großen Volke leider immer noch unverständliche Wort. Roentgen, Ehrlich, Einstein wiegt ein Dutzend Sonettklassiker auf. Wer der Syphillis, der Tuberkulose, dem sozialen Unrecht ein Ende bereiten wird, durch ein Serum, Antitoxine, Maschinen das tausendfach beschnittene Leben gesünder, angenehmer, glücklicher gestaltet, hat mehr Anrecht auf den Dank der Menschheit als ein Schock prämierter Dramenbauer oder Romanbonzen aus Judäa oder Germanistan. Dichtung ist letztlich Krankenkost, ein Opium, ein Haschisch, dessen eine leidende, schmerzbetäubte Bevölkerung bedarf. 

In aller jüdischen Dichtung finde ich ein Plus an Moral und Ethik, oft sorgfältig verborgen hinter einer übertrieben-zynisch witzelnden Maske. Der Stamm der alten Propheten lebt noch. Die Bibel ist nur ein Fragment. Altes und Neues Testament sehnen sich nach einer Ergänzung, nach einem tröstlichen Ende. Ich weiß, daß der große Führer, der kommende Messias nur ein Jude oder Slawe sein kann: Ein Asiate, ein Mensch aus dem ewig Ewiges zeugenden Osten.