SALTEN, FELIX: DAS THEATER UND DIE JUDEN (2)

➥ Zur Biographie: Felix Salten

In: Die Welt, 9, 3.3.1899, S. 14-15

Tran-skription

König David tanzte vor der Bundeslade einher. Er schlug die Harfe und sang die Psalmen dazu, die er zur Ehre Gottes gedichtet hatte. Er muss sehr schön getanzt haben, König David, sein Harfenspiel muss von besonderem Wohllaut gewesen sein, und seine Stimme mag wunderbar geklungen haben. Man spürt das alles aus jenen Psalmen heraus, welche heute noch übriggeblieben sind, wenn es sich nicht schon aus dem einzigen Umstand ergäbe, dass er all diese Productionen zur Ehre Gottes aufführte, was er sicherlich unterlassen hätte, falls er nicht so schön getanzt, gespielt und gesungen hätte, als er zu dichten verstanden. Er war der erste heitere König in Israel und der erste Jude, der durch künstlerische Begabung colossale Carriere machte. An ihm zuerst lernten die Juden jene unfassbare Macht kennen, welche von einer künstlerischen Persönlichkeit ausgeht. Wenn er als Jüngling die Harfe griff, entschwanden die düsteren Ahnungen aus dem Gemüthe des greisen Saul, wenn er sang oder seine jugendlichen Glieder im Tanze bewegte, ward der Trübsinn des alten Königs durch heitere Gewalten gebrochen. Sein Andenken bildete eine Tradition und organisch hätte sich daraus eine jüdische Schaubühne entwickeln können, wie sich die Schaubühne überall ent-//wickelte, wo Künstler als Gottesdiener auftraten und der Gottesdienst an die Künstler als Anreger und Schirmer appellierte. Allein es kamen nicht viele heitere Männer nach David, und als die lange, anderthalb Jahrtausende und darüber währende Unterbrechung des jüdischen Culturlebens eintrat, schlummerten dieses Gaben und wohl auch der Sinn für sie in der Wiege ein. Es war spät an der Zeit und im Abendlande, als sie wieder erwachten. 

            Unermeßlich waren die Eindrücke, welche auf die Juden einstürmten, als sie das Ghetto verlassen und theilnehmen durften an allen Arbeiten der Cultur. Wie von einem riesigen Wirbel mussten ihre Triebe sich erfasst fühlen, ihre Instincte und Talente. Ich glaube, es ist unmöglich, dass sie damals das richtige Bewusstsein ihrer Besonderheit, die wahre Abschätzung ihrer eigenen Werte haben konnten. Sie mussten ja, als die Parvenus einer geistigen und leiblichen Freiheit, alle anderen verehren, die immer ihre Herren gewesen, die jetzt ihre Lehrmeister waren, und sie waren damals leicht irre zu machen an den eigenen Fähigkeiten. Man sprach ihnen den inneren Beruf zur Kunst ab, noch sie sich recht erprobt hatten, und man fuhr fort, ihnen diesen Beruf abzusprechen, als sie schon Proben zu liefern begonnen. Aber da merkten sie bereits die Gehässigkeit und waren auch schon urtheilsfähiger. Freilich, ihre Besinnung erlangten sie erst nach und nach. Aber worauf sie sich etwa beziehen konnten, wie weit lag das alles zurück, wie weit war das, als als ein jüdischer König vor der Bundeslade tanzte, als Israel der Lehrmeister der Völker gewesen. Ihr Adel war gar zu alt, um sie jetzt noch vor dem Parvenu bewahren zu können. Er galt nichts, da er nach Jahrtausenden rechnete, wo die Welt nur mit Jahrhunderten zu hantieren gewohnt war. 

            Die orientalische Lust am Scheine trieb die Juden zum Theater. Hier, in dieser Welt der Vorstellungen, in diesem Carneval sinnreicher Verkleidungen, durften sie den Juden ablegen. Auf den Brettern durften sie vollends aus dem Ghetto herausschreiten und einziehen in alle Reiche, deren Grenzen ihnen bisher versperrt gewesen. Das Theater war eine sinnvolle Befreiung aus langer Abgeschlossenheit. Seine Heiterkeit weckte alle heiteren Gefühle in diesem greisen, umdüsterten Volke, seine Leidenschaft nahm alle die Vehemenzen auf, die in dieser glutäugigen, heißblütigen Rasse gefangen tobten. Sie nahmen die Harfen, so da hingen an den Weiden zu Babylon, und konnten wieder singen, wieder tanzen. Dawison heißt der erste jüdische Schauspieler, beziehungsreich mit Namen, welcher auf der deutschen Bühne großen Ruhm erworben. 

            Kaum mehr als ein halbes Jahrhundert ist seither vergangen, und die Juden haben der deutschen, der französischen und englischen Bühne viel bedeutende Künstler gegeben. Tragische und komische Sänger und Sängerinnen. Ob sie das Theater wesentlich beeinflußt haben? Ich glaube nicht: gewiss nicht als Juden. Denn das Theater ist eine durchaus nationale Anstalt, und die Grundzüge seines Wesens sind durch unumstößliche Gesetze bestimmt. Sicher haben sie ihm Elemente zugebracht, die der Schauspielkunst gelegentlich ein tieferes, wohl auch ein grelleres Colorit verliehen. Sie haben nach der sinnlichen, wie nach der mystischen Seite hin, sehr stark gewirkt. Die Sinnenlust der Juden, die wir ganz ruhig eingestehen können, hat Liebesscenen dunkler gefärbt, große classische Tragödien bekamen durch sie einen wuchtigen Zug ins Dämonische. Ihr Temperament suchte alle aufwühlenden und hinreißenden Mächte, um sich völlig auszuleben, und brannte desto heller, je leidenschaftlichere Empfindungen der Gestaltung harrten. Sie haben sich grüblerisch in geheimnisvolle Seelen versenkt, haben Gedankenspuren bis in unheimliche Tiefen verfolgt, und sind auf den Pfaden des Humors in einigen, wirklich neuen Gangarten einhergeschritten. Ihren tatsächlichen Einfluss auf die Bühne, das, was heute nach kurzen sechzig Jahren jüdischer Schauspielerei als die „Verjudung des Theaters“ ebenso schmeichelhaft als fälschlich ausgerufen wird, möchte ich unerörtert lassen. Ich glaube, dass dieser Einfluss vorläufig noch gering ist. Nur den Wurzeln der jüdischen Begabung sei hier nachgespürt, soweit sie nicht dort haften, wo überhaupt menschliche Begabung keimt. 

            Was die Juden so sehr zum Theaterspielen befähigt, ist das Resultat eines unermesslich langen Außenstehens und Beobachtens. Der Atavismus, welchen die modernen Juden besitzen, ist die lange Kritik des Zuschauers. Sie sind Zuseher gewesen, bevor sie Theilnehmer sein durften am allgemeinen Weltleben, und sie haben mit den scharfen Augen des Unterdrückten beobachtet, mit der beständig gereizten, immer paraten Aufmerksamkeit des Misshandelten Kritik geübt. Diese Kritik hat sich durch die Beweglichkeit der Juden bis zur Productivität gesteigert. Selbst da, wo bereits wirkliche, künstlerische Gestaltungskraft waltet, kann man diese atavistische Kritik noch wie eine leise mitsummende Unterstimme heraushören. Man kann es wahrnehmen, wie sie in das innerste Wesen der darzustellenden Menschen sich eingebohrt hat, wie sie diese Menschen enthüllt, analysiert, und man merkt ihr immer – je nach den Figuren – die Liebe, die Verachtung oder den Spott des einstigen Zusehers an. Der jüdische Hohn, gefürchtet und original, wie einst im Alterthume die Ironie der Aegypter, hat auf der Bühne wirklich neues geschaffen. Dieser furchtbare Witz, der mit einer Grausamkeit und einem Ungestüm verfährt, als wolle er Vergeltung üben. Dieser Spott, der alle Schwächen und Lächerlichkeiten aus den heimischen Verstecken aufspürt, hat immer überrascht und überwältigt. In ihm sprudelt diese langverhaltene Kritik hervor, welche die Juden an allen Zuständen, an allen Völkern und an sich selbst am schärfsten geübt haben. Er ist unangreifbar, denn er ist stets bereit, sich selber aufzugeben, ja er scheint aus tiefen Traurigkeiten emporzukommen und nur, wie im Rausche des Augenblickes, befähigt, seine tausendfältigen Verwandlungen zu durchjagen. Die jüdische Phantasie ist sein Gegengewicht. Sie ist die große Erregerin jüdischer Schauspielerei. Diese Phantasie, die lange in finsteren Stücken geträumt, die gesättigt ist von den herrlichen Wundern der Vorzeit, angefeuert von dem unerreichbaren Glanze der Mitwelt, melancholisch durch ihre Sehnsucht nach lichten Höhen, auf welchen Juden nicht geduldet wurden, bildet und formt nun im jüdischen Schauspieler ihre Dichtungen. Sie macht ihn zum Kaiser, zum Helden, zum Weltmanne, sie gewährt ihm die Erfüllung aller Wünsche, nach denen die Menschlichkeit der Juden trachtet. Das Theaterspielen der Juden ist mehr noch als jede ihrer Kunstausübungen von Nachahmung frei. Es ist ihnen organisch, und die national-jüdischen Theater, die von Galizien bis nach Amerika überall entstehen, zeigen an, wie sehr diese Kunst aus einer wahrhaften Volksthümlichkeit bei ihnen entsteht. Was ihnen eigenthümlich bleibt, wo immer sie auch spielen, was immer sie auch verkörpern, ob sie tragisch oder lustig, ernst oder höhnisch auftreten, immer ist es der tausendjährige Schmerz des Judenthums, den sie agieren, Er haftet an ihren traurigen und an ihren fröhlichen Mienen, und ist kenntlich von Hamlet an bis zum Simon Dalles in der Klabriaspartie.