VIERTEL, BERTHOLD: OSTJUDEN

 

Zur Biographie: Berthold Viertel

In: Selbstwehr, 11. Jahrgang, Ausgabe 1 vom 05.01.1917, S. 11f & Ausgabe 2 vom 12.01.1917, S. 2ff

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Aus: Selbstwehr, Nr. 47, X. Jahrgang, 22. Dezember 1916, S. 2–4.

Ostjuden

Von Berthold Viertel

Dem letzten (50.) Heft der von Siegfried Jacobsohn herausgegebenen „Schaubühne“, die in der letzten Zeit immer weiter gewachsen, immer reicher an gehaltvollen Beiträgen geworden ist und die, längst ihrem ursprünglich gesteckten Rahmen entwachsen, heute in lebendiger Frische wie kaum eine andere Wochenschrift ähnlicher Art alle Probleme der Zeit behandelt, entnehmen wir den Beginn der folgenden Arbeit, die man schon jetzt, da wir die Fortsetzung nicht kennen, als einen der wertvollsten Beiträge zur ostjüdischen Frage bezeichnen kann. Einzelne Gedanken des Aufsatzes werden vielleicht einmal von grundlegender Bedeutung werden. Wie richtig ist z. B. die Bemerkung, daß der Ostjude „zu fühlen bekommt, was uns zugedacht ist, und auch unsere Sünden büßt. Er ist der Repräsentant … Er ist der Schutzlose; an ihm darf sich jene Wut austoben, welche sich uns gegenüber verhalten muß.“ Oder: „Der Westjude hat den jüdischen Erfolg; der Ostjude hat das jüdische Martyrium.“ Umso wertvoller ist die Abhandlung, als Berthold Viertel, ein junger Dichter und Schriftsteller, in literarischen Kreisen schon bekannt, aus eigener Anschauung und Erfahrung, aus der des Kriegsteilnehmers sprechen kann. – Red.

*  *  *

„Das größte Böse ist, wenn du vergissest,

daß du ein Königsohn bist.“

Chassidisches Wort.

 

Alle, die den Ostjuden nicht kennen, erörtern ihn jetzt. Wer ihn aus der Ferne kennen lernen will, lasse sich durch Martin Bubers Zeitschrift „Der Jude“ einführen – in beides gleichzeitig, in die allgemeine jüdische Frage und in das Wesen des Ostjudentums. Das sind Dinge, die sich nicht willkürlich sondern lassen. Bei Buber – und in mancher Publikation des Berliner Jüdischen Verlags – ist ein tätiges Erkennen am Werke, das bedeutend ist, weil es mitlebt, aus diesem Miterleben heraus gründlich weiß und leidenschaftlich denkt, nicht aber beobachtet und schwätzt; und weil es, von der Gewalt der Ereignisse nicht über den Haufen geworfen, sondern sie meisternd einzig und allein von der Leidenschaft zur Sache bestimmt wird; wobei die Leidenschaft längst restlos in die Sache eingegangen ist und sich in schlichten, beharrlichen Dienst umgesetzt hat. Man kennt Bubers frühere Studien vom jüdischen Wesen und Geist, die das „Pathos der Forderung“ betätigen, indem sie das Absolute und Bleibende suchen und zugleich zur unmittelbaren Erneuerung begeistern. Eine große Liebe, ein gereinigter Glauben werden in Buber und den Seinigen schöpferisch; aber sie vermeiden jenen heillosen Idealismus, der ins Leere greift und sich an Träumen entschädigt, wo Tatsachen auslassen. Richtig ist, daß Buber die Erscheinungen zur Idee hinaufdeutet; er ist in diesem Sinne der Platoniker des Judentums. Aber er wurzelt in einer lebendigen Tradition, er ist selbst diese Tradition als eine lebendige Persönlichkeit; er wäre nicht, wie er ist, wenn die Dinge nicht wären, für die er zeugt. Diese Dinge werden fruchtbar, indem er schafft. Wie etwa Otto Weininger oder Karl Kraus die Züchtiger, die Vernichter des jüdischen Unwesens – und damit eigentlich dem alttestamentarischen Prophetentyphus verwandte Geister – sind, so ist Buber ein Regenerator des jüdischen Wesens. Was aber solchem Geiste im Augenblick seine entscheidende Bedeutung gibt, ist die Tatsache, daß sich seinem Schöpferwillen aus dem gegenwärtigen jüdischen Leben, insbesondere dem Ostjudentum, wesensverwandte erneuernde Kräfte mit der gleichen Leidenschaft entgegendrängen. Wo sie einander treffen, steht heut die Zeitschrift „Der Jude“.

Es wäre verlockend, in dieser Werkstatt der Liebe und des Glaubens länger zu verweilen, wenn nicht aus der Welt des Hasses ein störendes Geräusch herüberdränge, ein Geschwätz und Geschacher um das Ostjudentum. Ist der Ostjude ein Problem, so entwickelt sich jedenfalls die höchst unzureichende Behandlung des Problems zu einer wahren Kalamität. Den Vielen gegenüber, die nichts wissen und nicht denken können, hilft es heute nichts, ostjüdische Dichter zu propagieren und eine neue Blüte zu preisen. Es handelt sich vielmehr um eine alte Wunde, die von rohen Händen neu aufgerissen wird. Ich für meine Person habe nicht mehr zu bieten als die Erlebnisse eines knappen Jahres und das naive Raisonnement, das sie in mir weckten, wobei sich mir das altbekannte Westjüdische von einem neuen Gesichtspunkt her zeigte, das allzu neue Ostjüdische aber sich gegen den Westen abhob. Daß ich, mich schwerfällig durchdenkend, dabei in die sichern Gedankengänge des Buberschen Kreises ganz unwillkürlich geriet, hat mir den fragmentarischen Blick vielfach abgerundet. Ich habe in diesem Jahr, nicht ohne polemische Verallgemeinerung, unterscheiden gelernt: der Westjude hat den jüdischen Erfolg; der Ostjude hat das jüdische Martyrium. Der Westjude genießt die Rechte und Gesetze Europas; über den Ostjuden ist das Ausnahmegesetz verhängt.

Zum Beispiel: wie die Russen gegen die Ostjuden Krieg geführt haben, wurde in dieser Welt des Hasses gegen niemand gekriegt. Es handelt sich dabei nicht um einzelne Ausschreitungen, die nichts beweisen als die gelegentliche Maßlosigkeit der Menschennatur. Sondern um einen prinzipiellen Unterschied; wobei die im Grunde gütige russische Volksnatur gelegentlich eher mildernd wirkte. Es gibt keine Analogie. Wir belasten England mit der ganzen Riesensumme der europäischen Blutschuld; aber der einzelne Engländer, Soldat oder Gefangener oder Zivilist, hat vollen Anspruch auf das Recht, und wir werden uns sogar der gemauerten Wege bedienen, wenn wir nicht schändlich sein sollen. Man bezichtigt Italien des bodenlosesten Verrates, aber der Italiener bleibt der ehrliche Feind. Die Russen mögen Barbaren sein, noch kennen und üben sie das Gesetz über den Völkern, diesen ehern versicherten Rest von friedlicher Gesittung auf Erden. Ich bin überzeugt: auch Kosaken würden einen Juden in Smoking vernünftig behandeln. Der Kaftan aber entfesselt ihre bare Sinnlosigkeit. Der Kaftan enthält keinen Menschen, sondern ein Spielzeug der Laune. 

Und doch ist der Kaftan treuer als der Smoking. Der galizische Jude trägt den Kaftan, wie ihn seine Urväter vom mittelalterlichen Deutschland übernommen haben; und dieses absurde Verharren bei einer so veralteten Mode bedeutet gleichzeitig eine übermäßige treue gegen die historische Vergangenheit und eine fanatische Treue gegen das jüdische Wesen.

Wer den Kaftan trägt, haftet heute wie je mit Leib und Leben für das Judentum. Er legt das unwiderlegliche, weithin sichtbare Bekenntnis ab, noch bevor es von ihm gefordert wird. Es besteht bei manchen Westjuden die Tendenz, den Ostjuden für sein Erdulden allein verantwortlich zu machen; ihm geschehe, was er verdient. Seine üble Art, sein Mangel an Zivilisation ziehe ihm die Mißhandlung zu. Während ich dagegen behaupte, daß der Ostjude auch unser Bündel mitträgt. Er bekommt auch zu fühlen, was uns zugedacht ist, und er büßt auch unsre Sünden. Er ist der Repräsentant, er will es sein; er zeigt, daß er es sein will. Er ist der Schutzlose; an ihm darf sich jene Wut austoben, welche sich uns gegenüber verhalten muß. Er ist der Befremdende; aber wir sind nicht weniger die Fremden. Nun, dieser Repräsentant, in schwerster Stunde für uns alle stehend, hat sich treuer bewährt, als wir von manchem der Unsrigen vorausberechnen könnten, daß er es täte. Daß der Ostjude Deutschland und der Monarchie unverbrüchliche Treue hielt, mochte immerhin als natürliche Notwehr gegen den russischen Erbfeind gelten. Doch habe ich russische Gefangene gesprochen; sie trugen zwar statt des Kaftans die Uniform, aber sie waren nur zu deutlich Ostjuden und bekannten es sofort auf gut jüdisch. Und siehe da: keines ihrer Worte verletzte die gebührende Achtung vor ihrem Vaterland, ihrem Stiefmutterland Rußland. Sie sprachen nicht unwürdiger als der moskowitische Gefangene. Sie benutzten die Gelegenheit nicht, um sich beim neuen Machthaber einzuschmeicheln, indem sie das abwesende, das jetzt ohnmächtige Rußland beschimpften. Sie schienen glücklich zu sein, weil sie der Nagaika entronnen und in den Frieden geborgen waren; aber jene gehässigen, übertriebenen, haßentfüllten Bemerkungen, die man von ihnen erwartet, und die man ihnen gern verziehen hätte, blieben aus. Diese Ueberraschung haben sie mir persönlich mehrfach geboten. 

Daß man überhaupt im Ostjuden, während ringsum der Weltenwahnsinn tobte, einen recht vernünftigen Menschenschlag kennen lernte, war vielleicht nichts Besonderes. Einstweilen wünschte ja niemand, übermäßig vernünftig zu sein. Vernunft war etwa gar als das Erbübel dieser Rasse anzusehen. Aber daß dieser armselige, verwahrloste polnische Jude in einer Epoche der gigantischen, der weltpolitischen Perfidie sich als Charakter entpuppte und oft geradezu mit Heroismus Treue hielt, ja sogar als Zivilist trotz seiner berüchtigten leiblichen Aengstlichkeit seine Haut zu Markte trug, hilfloser noch ausgeliefert, als der Soldat, der sich hinter seiner Waffe geschützt glaubt: kann nicht als nebensächlich übergangen werden. Den Sachverhalt selbst bezeugen viele unjüdische, österreichische Gefangene, die von polnischen Juden gelabt, versteckt, vermummt und durch tätige Hilfe bei der Flucht gerettet wurden. Anfangs nahm man solche Tatsachen ja auch wichtig genug. Unsere großen Heerführer verschmähten es nicht, sich in Proklamationen der jiddischen Sprache zu bedienen, und sie machten der jüdischen Treue heilige Versicherungen. Allmählich aber gewöhnte man sich an die jüdische Treue. Und man gewöhnte sich einigermaßen an das jüdische Martyrium.

Anfangs, wenn man die Greise, Mütter und Kinder, mit den Wracks ihrer vielgeliebten Habe grotesk beladen, dem schützenden Ghetto enttaumeln sah, um in die Frostnacht und eine nicht minder kalte Menschenwelt hinauszuirren, spürte man wohl, was diese Enteigneten von allen andern bedauernswerten Flüchtlingen unterschied. Niemand floh in ähnlicher Panik des Herzens. Aus der Schale des Ghettos gerissen und damit sofort in einen auffälligen Anachronismus verwandelt, schleppte der Jude eine schwerere Last noch als seinen Hausrat: seine überall anstößigen Besonderheiten, die er nicht verstecken und nicht verleugnen kann. Wie soll er, so gehemmt – und wo – den Kampf um das höchst anfechtbare Dasein einer Ausnahme wieder beginnen? Aber man sah: der Jude trägt es. Er jammert zwar, der ihn neuerdings einholende Prophetenfluch verstört ihn grausig – aber er findet sich zurecht. Er packt, schultert sein Bündel, läuft davon, kehrt zurück, schachert sofort wieder, indem er auf den Trümmern seiner Stadt einen Markt errichtet – und packt wieder, läuft davon, kehrt zurück, und wird an seinem Gott nicht irre. Ich habe alte Juden weinend von ihrem armseligen Hause Abschied nehmen gesehen, von jeder Wand ihres Hauses – und weiß, wie sie sich an die Trains hängten, wie sie aus der nächsten Umgebung ihres Ortes nicht wegzukriegen waren, mit allen Lieben sich im Lande haltend, immer das Haus umkreisend, immer auf dem Sprung zur Rückkehr. Viele versäumten mit ewigem Zögern und zitterndem Hoffen die letzte Gelegenheit zur Flucht. Viele saßen dicht an den Fronten im Hasard des feindlichen Artilleriefeuers oder von Fliegerbomben bedroht, und horchten überall hin, streckten überall hin die Fühler aus, nur um ja jeder Schwanken der Situation rechtzeitig aufzuspüren und der russischen Pranke entwischen zu können. Denn das war natürlich die Gefahr der Gefahren: der Russe könnte über sie kommen. Da sah man den Juden in seiner Not.

Und doch hat er irgendwie diese Gelegenheit: die Herzen zu rühren, versäumt. Sein Aeußeres verdirbt ihm das einzige Geschäft, das ihm scheinbar not täte: das natürliche Wohlwollen der Andern, bei Freund und Feind. Seine altbekannten Fehler und Laster werden sofort vom fixen und fertigen Vorurteil aufgefaßt und registriert; niemand fragt hier nach Ursachen, obgleich man endlich Gelegenheit hatte, sie an Ort und Stelle zu ergründen und ihnen sogar abzuhelfen. Der alte Jude, der vor dem Feldspital hin und wieder ging und die dort auf dem Boden ausgestreckt liegenden Verwundeten – gleichgültig ob Deutsche, Oesterreicher oder Russen – labte, indem er mit einem großen Löffel jedem Lechzenden Kompott in den Mund schob: er blieb eine unbemerkte, stumme Gestalt, unheimlich wie ein handelnder Schatten, unbeirrt und unbedankt. Ich sah binnen zehn Minuten drei so absonderliche Samariter. Niemand bemerkte sie. Dagegen erscheint jeder gierige Händler vertausendfacht. Ihn erblicken alle sofort.

Nicht daß ich so voreilige Beurteilung den Nichtjuden verübeln wollte. Ich habe zu oft gesehen, wie unwillkürlich sie sich bei den besten Menschen einstellt, eben weil jedes Auge von vorn herein auf sie eingestellt ist – weil das Zerrbild an alle Wände gezeichnet und in alle Nerven gegraben wurde, weil man es förmlich schon als eine Erbschaft der Vorzeit im Blute mitbekommt. Der äußere Anschein stimmt ja Zug um Zug damit überein. Wie schwierig ist es, einem Wiener, der zum ersten Mal nach Galizien kommt, beweisen zu wollen, dieses schmutzige, arme Galizien sei eigentlich ein herrliches, reiches Land, dessen Schätze nur darauf warten, gehoben zu werden! Ein wie undankbares Bemühen ist es, einen Großstädter, der wie hypnotisiert auf die erdbraunen nackten Füße der ruthenischen Bäuerin starrt, aufmerksam zu machen, daß diese Weiber überall an den Bächen tagaus, tagein ihre Wäsche waschen und daß sie an jedem Sonntag ihre Hütte neu tünchen. Nicht weniger vergeblich ist es, Einem, der den wirtschaftlichen „Unfug“ des galizisch-jüdischen Kleinhandels und Gelegenheitsgeschäftes perhorresziert, vorzuhalten, wie gering dabei im allgemeinen der Gewinn ist, und ihn auf konstitutiv ehrliche Züge zu verweisen, die oft verdeutlichen könnten: daß hier besondere Umstände eine besondere Geschäftsmoral gezeugt haben, nicht aber eine absolute Unmoral wuchert. Die Solidität der Ware, überhaupt die Qualität des Handels existiert hier vielfach noch nicht, genau ebenso, wie in Galizien auf dem Lande das Taschentuch oder das Klosett noch nicht existieren.

Man lebt hier vor der Erfindung gewisser Dinge und Begriffe. Die Unordentlichkeit des Landes, dessen Waren nicht von systematischer Sachkunde, sondern vom Spürsinn und vom Zufall zusammengetragen wurden, verschwindet neben der Errungenschaft, überhaupt einkaufen zu können. Wie der Händler ist, hat hier nichts zu bedeuten neben der Notwendigkeit, daß der Händler ist. Anderswo wäre vielleicht der glücklichste Zustand, ihn überhaupt entbehren zu können. Hier müßte er mit der Laterne gesucht werden, wenn er sich versteckte. Das Schlagwort von der jüdischen Ausbeutung verliert seine Schärfe in einem Gesamtzustand, der des jüdischen Ausbeuters, vielmehr des sozusagen wilden Handels nicht entraten konnte, wenn er auch nur für die geringsten Bedürfnisse der Zivilisation aufkommen wollte. Was dieser Wildheit in der polnischen Verwaltung, der Landwirtschaft und dem Niveau des ruthenischen Bauern entspricht, soll hier nicht erörtert werden. Wo noch keine Regelung der Dinge getroffen worden war, mußte man tatsächlich spekulieren, um durchzukommen. Ich glaube, daß alle galizischen Erscheinungen untrennbar zu einander gehören, jede einzelne nur aus allen insgesamt zu erklären ist; und erst alle miteinander sich die Wage halten.

Tatsächlich widerstrebt der Habitus der jüdischen Masse in Galizien, trotz den schönen Frauen, zumeist heftig dem westlichen aesthetischen Sinn; obwohl ich hier nicht nur die rassigeren Menschen, die schärferen Körperzeichen der alten Gehirnaristokratie, sondern auch bei der Jugend den einheitlicheren, kräftigeren, tüchtigeren Männertyp überhaupt finde. Es ist eine deutlich städtisch proletarische Masse, welcher der Naturadel des Bauern ebenso fehlt wie die äußere Tournüre des Städters.

(Fortsetzung folgt.)

Aus: Selbstwehr, Nr. 1, XI. Jahrgang, 5. Januar 1917, S. 11–12.

Ostjuden

Von Berthold Viertel

(Fortsetzung)

Dekadenzmerkmale, die in bessern Verhältnissen rasch schwinden, wirken mit, um den Juden vollends unliebenswürdig zu machen. Der Schutt des geborstenen Jerusalem hängt gleichsam immer noch an seinem Kaftan und beugt seinen Nacken nieder; er riecht schlecht. Dabei ist er listig, praktisch, zäh; er spielt die Komödie der Demütigung, die man von ihm verlangt (wie er annimmt); spielt sie geläufig und kraß und geht zur Tagesordnung über. Er steckt solch eine Lebenskraft und solch ein Realismus in dem alten Typ, daß sich wirklich jedes Mitleid von selbst verbietet. Will man ihn sentimental fassen, bringt er uns zum Lachen; er hat so viel Komik; man weiß nie genau, ob freiwillige oder unfreiwillige. In seinem Kramladen und in seinem Bethaus ist er derselbe Fanatiker, der von Geburt und Geschäft nicht läßt, es segnete ihn denn. Ungemein schwierig, hinter die maskenhafte Oberfläche dieses Menschenschlags zu dringen; in das Innere, das ein Ghettogeblieben ist, das sich jedem Fremden grundsätzlich verschließt, wie nur der Orientale sein Zärtlichstes zu bergen weiß. Und der Allerfremdeste ist ihm der Westjude, der zivilisierte Jude – der eigentliche Hausjude im Gegensatz zu ihm, dem wilden Juden. Vor dem eleganteren, zahmeren Bruder hat der Ostjude nicht den geringsten Respekt; und mißtraut ihm als einem nach außen hin Nachgiebigen, nicht immer mit Unrecht. Ihn zuletzt, den Plauderer, ließe er in sein wahres Ich schauen. Und deshalb, weil der Westjude den Ostjuden nicht kennt, ihn nur scheut und fürchtet, spricht er so viel Unsinn über seinen rauheren Bruder; während die Leute meinen, es würden da Familiengeheimnisse verraten.

Die Familie hat Geheimnisse, zweifellos. Es giebt in Wahrheit eines, solch ein uraltes Familiengeheimnis, das der Jude von Wahlheimat zu Wahlheimat mitschleppt, das ihn nirgends ruhen und gedeihen läßt. Es ist: das jüdische Schicksal, wie es geschrieben steht, wie es die Propheten geweissagt haben: der weiterwirkende Fluch der Ausnahme, der Weg des losgelösten Gastvolkes durch die Reiche und Zeiten der Wirtsvölker hin. Der Jude hat den Frieden nie gekannt, den Zustand der verwurzelten Sicherheit, der vegetativen Solidität. Ihm war nie jener allzu selbstverständliche, unabsehbare, stockende Frieden beschert, der, seiner selbst bereits überdrüssig, nach den Stahlbädern des Krieges wollüstig seufzt; jener unfruchtbar gewordene, überflüssige Frieden, der schließlich all seine Kartenhäuser umwirft, nur um auf andre Gedanken und zur erfrischenden Bewegung zu kommen. Dieser ewige Nomade hat immer nur die besondere Form einer Schwarmlinie gekannt, die, ins feindliche Leben vorgetrieben, von allen Seiten umstellt, sich durchgraben, sich durchbeißen und Schritt um Schritt Boden erarbeiten muß, um darauf zu stehen – oder unterzugehen. Seit vielen Jahrhunderten laufen die eigentümlichen jüdischen Verlustlisten weiter, arbeiten ruhelos die Verbandplätze und Spitäler. Dieses Bild ist vielleicht zu kriegerisch, wo es sich um einen beispiellosen wirtschaftlichen und geistigen Wettstreit handelt – eine Art des Streites, den die Staaten legalisiert haben, und der unter dem Namen „Frieden“ als unendlicher Bürgerkrieg überall geführt wird. Der Jude ist, von hier aus gesehen, gleichsam die erste verfrühte Skizze eines Volkes, das nur noch als wirtschaftliche Gruppe existiert. (So penetrant auch die psycho-physische Eigenart des Typs sein mag, der durch alle Mischungen und Vermengungen unweigerlich hervorbricht: er konstituiert trotzdem noch keine Nation im gebräuchlichen Sinne des Wortes.) Und während der Jude seine Aufgabe in der Idee bis ins Unendliche weiterführen muß, konnte er nicht auf die leidenschaftliche Gewißheit verzichten, noch auf dieser Erde zurechtzukommen. Er hat freilich längst Waffen ablegen gelernt, in deren Gebrauch er sich historisch besiegt weiß; die für ihn und sein besonderes Kampfziel auch gar nicht ausreichen; mit denen er nichts für ihn wesentliches beweisen könnte. Daher auch sein tief innerliches Unverständnis für eine Gesinnung, die den Krieg zu wollen, zu lieben, ja zu vergöttern vorgibt – während er den Krieg nur als ein Strafgericht des strengsten Gottes, als eine Sintflut empfinden kann, welche den Sünder mit den Sünden verschlingt, um für einen neuen Anfang Raum zu schaffen. Er weiß zu genau, daß nach dem Friedensschluß jener Krieg weitergeht, der Leben heißt und ein Kampf Aller gegen Alle ist, ihm aber längst zu einem Kampf Aller gegen Einen wurde.

Von hier aus könnte auch der heutige Deutsche den Juden erfassen, von der Mitwissenschaft dieser Härte: „Alle gegen Einen!“ Der Jude mußte jederzeit, in jeder Stunde, erwarten, mit den Wurzeln, die kaum gefangen hatten, wieder aus der Erde gerissen zu werden. Und wie oft ist das geschehen! Daher seine Hast und Gier! Daher seine Nervosität des Spielers, sein Habitus des Glücksritters, des Erfolganbeters, des Emporkömmlings. Er hat gebaut und immer wieder den Bau in Schutt zertrümmert gesehen – und sofort aufs Neue zu bauen begonnen, wie die bewundernswürdige Ameise, die niemals verzichtet. Zum Handel nicht nur begabt, sondern auch genötigt; dem Acker nicht nur entfremdet, sondern auch mit Gewalt entzogen; in die Städte zusammengejagt, deren kahle Mauern aus einem Gefängnis ein Ghetto machten: so hat ihn der moderne Kapitalismus gefunden und ihm den Hebel in die suchende Hand gedrückt, mit dem die schwere Welt federleicht zu bewegen war. Der Jude hat den Kapitalismus nicht erfunden; es heißt ihn absurd überschätzen, wenn man ihn dafür verantwortlich macht. Wie der Jude in den Metropolen die Börse bevölkert, genügt ihm allerdings in den galizischen Städtchen der Marktplatz, um Gruppen zu bilden und mit fanatischem Disput jene arbeitslose Arbeit zu verrichten, zu der man ihn verurteilt hat, und welche der arbeitsschwere Arbeiter versäumen muß. Aber ich glaube: man schließt vom Größeren auf das Geringere. Man meint die Aktie und schlägt den Tauschhandel. Man verachtet das Fieber und das Wagnis, welches beide Arten gleichermaßen wecken; und man wünscht den Profit! Der gegen schauderhafte Uebermächte rätselhaft errungene jüdische Erfolg hat immer wieder den Antisemitismus neu belebt. So sei der polnische Judenhaß aufgelodert, als das polnische Kleinbürgertum sich zu Industrie und Handel spät genug entschloß und dem Juden den Markt streitig machen wollte. Da verwandelte sich alles in Teufelswerk, was der Jude zwischen dem ruthenischen Weiler und etwa dem Niveau Stanislau hervorgebracht hat. Es galt, dieses Teufelswerk im polnischen Himmel besser fortzusetzen.

Das ist der real orientierte Antisemitismus, der zu irgendwelchen aktuellen Ursachen – zumeist jüdischen Erfolgen – einfach hinzutritt, als ein Fertiges, das stets bereit liegt und auf seine Gelegenheit wartet. Zum Unterschied vom reinen oder psychologischen Antisemitismus, jenem Projektionsphänomen (nach Weininger), das am lieben Nächsten – am Fremden und Befremdenden – verfolgt, was man am eigenen Selbst als hassenswert empfindet. So wird der Jude für allen Mißbrauch, für allen falschen und verkehrten Kurs der modernen Welt – an deren Ablauf er höchstens mitschuldig ist – hauptverantwortlich. Dieser Antisemitismus stellt eine Art Purgiermittel für überschüssigen Haß vor, oder ein Reizmittel gleichsam, das die gewünschten Erregungen hervorruft – ein psychologisches Präparat von allgemeiner Beliebheit, dessen erfrischenden Gebrauch sogar der Jude selbst nicht entbehren will. Es ist in den modernen Konsum übergegangen, wird in entsprechender Dosis gradezu als soziale Medizin verwendet, und nur gelegentliche Exzesse verraten, daß dieses Fieber einst in furchtbarer Selbständigkeit in der Form von mittelalterlichen Epidemien auftrat. Rußland, in seiner barbarischen Urkraft, zeigt sich noch immer nicht immun gegen derartige Volksinfektionen. Obwohl sich der russische Antisemitismus im Kriege vergleichsweise nur noch als Drohung und Gebärde bot, die jüdische Seele durch greuelhafte Erinnerungen bis zur blinden Panik entmannend. Vergleichsweise: – wenn man nämlich die tatsächlichen Mißhandlungen und Ausschreitungen mit den orgiastischen Katastrophen vergleicht, durch die der Jude bei allen Völkern hindurch mußte. Es war die Reaktion auf den Eindringling; das Fieber, das der Fremdkörper verursachte; die Tobsucht gegen die Ausnahme: Erscheinungen, die heute in den Mischkulturen Europas keinen entscheidenden Wert mehr hatten, im durchgesetzten Europäismus aber jeden Boden verlieren mußten. Mit fanatischer Zähigkeit hielt nur noch der Russe, der das Stadium der nationalen Selbstreinigung eben erreicht hat, an der Tradition der Rechtsknebelung, an der Form der Schutz- und Ausnahmegesetze fest.

(Schluß folgt)

Aus: Selbstwehr, Nr. 2, XI. Jahrgang, 12. Januar 1917, S. 2–4. 

Ostjuden

Von Berthold Viertel

(Schluß)

Es kann nicht geleugnet werden, daß der Jude solche Widerstände nicht unverändert passieren konnte. Sie töteten ihn nicht, aber sie zeichneten ihn. Er verließ die hohe Schule des Hasses nicht ohne Kenntnisse in der Gehässigkeit; die Verfolgungen brachten ihm den Verfolgungswahn als eine Art Berufskrankheit ein; er ging aus den Sklavereien nicht ohne sklavenhafte Züge hervor. Erstaunlich genug, daß der Jude, mit Bränden gejagt, nicht in alle Lager auseinanderlief; daß sein Grundstock fest blieb. Aber er hat nicht nur seine Existenz durchgesetzt, er hat auch seinen Wert gerettet und erhalten. Durch welche Schutzmaßregeln und Schutzformen, das erfährt man am besten bei den Ostjuden. Dem Ghetto entsprach die Familie, als jener innerste Kreis, der bergend das Zärtliche und Warme, das Lautere und Unmittelbare gezogen ist. Nach außen hin wirkte die Familie als das Seil, das die auf Umwegen Wandernden aneinanderhielt, die Leiter, über die man aufwärtsklomm, als überindividueller Wurf nach vorwärts. Der jüdische Geist aber wurde im abgeschlossenen Kessel der Religion weitergebaut und in der nie erlöschenden Ekstase stets erneuert, durch die Filter einer strengen dialektischen Disziplin stets gereinigt und stark und wesentlich erhalten. Der jiddische Jargon- als sprachlicher Träger alles bewahrten Fühlens und Denkens, hat nicht aufgehört, köstliche Lieder zu singen. Man erfährt von en neuern ostjüdischen Dichtern und Denkern, daß hier reine Torheit und der Humor aus Güte, Ekstase und Lyrik, der messianische Schwärmer, der Psalmist und der Prophet nicht ausgestorben sind, daß sie stets aufs Neue wiedergeboren werden. Mögen die ostjüdischen Autoren niemals erlernen, was ihnen fehlt, jene im Westen grassierende Geschicklichkeit, die Allerweltsmache: sie sprechen zu einem Volk, nicht zu einem Publikum, das mit einer Mischung aus Phrase und Esprit, aus Charakterlosigkeit und Grazie abzufüttern wäre. Mehr noch: das Volk ist nach garnicht da, zu dem sie sprechen. In ihnen spricht der Wille, eine zerstreute Masse innerlich zum Volke zu sammeln. Deshalb sind sie auf Tat gerichtet, auf Kern und Selbstheit, auch wo sie die Schule Europas nicht verleugnen. Deshalb durchdringt sie ein gradliniger, intensiver Stil, ein ordnender, prägender Geist. Es mag mancher üble Schnaps in Galizien ausgeschenkt werden, mancher gefälschte Wein – aber der junge Geist ist echt. Echt wie die alten Friedhöfe, im nationalen Sinne wahrhafte „Häuser des Lebens“, weil dort Stein um Stein und Bild um Bild das unvergleichliche, unverlorene Eigene sich auferbaut und der Meißel des jüdischen Handwerkers in alter Zucht die Treue zum Selbst in den Stein haut. Echt wie die Weihe, die auf den jüdischen Festtagen liegt und die gekrümmten Sklaven des Alltags zur freien Haltung und Würde emporhebt. Der ostjüdische Literat empfängt und gibt die künstlerische Form als eine Keuschheit des Herzens. Er arbeitet die Seele heraus, die unter dem Schutt der zeiten merkwürdig rein und hold geblieben ist, bewahrt und gerettet. Um dieses Material muß ihn der ehrliche westjüdische Literat beneiden. Wie aber das Volk selbst in seiner dunklen Tiefe das kostbare Material formt, hat der Chassidismus verraten – verdolmetscht Buber in seinem klassischen Werke: „Vom Geist des Judentums“ bei Kurt Wolff. Es ist in diesem Zusammenhang ganz unwichtig, daß der Chassidismus nach kurzer herrlicher Blüte verfiel; er bleibt als Tat und Zeichen unverlierbar. Diese Lehre von der „Freude in Gott“ und vom „Dienste in der Natur“ entstand im achtzehnten Jahrhundert zur Zeit der schwersten äußern Bedrängnis in den Dörfern der Ukraine. Wichtig ist, daß der ostjüdische Mensch nur dem bösen Bann der Nächte zu entrinnen und den nackten Boden der Erde zu berühren brauchte, damit dieser gewaltige Durchbruch des Blutes und des holdesten Lebensgefühles geschehe: damit die torturhafte Knechtschaft in beflügelte Freiheit sich wandle und das unbarmherzige Schicksal des Volkes seinen erhabenen Sinn erfasse! Dem Urchristentum verwandt wie ein jüngerer, froherer, aber durchaus selbständiger Bruder, zerbrach der Chassidismus die abstrakte Enge der zum Schutzpanzer nach außen hin erstarrten offiziellen Lehre und hob seine reife, wissende, in Mildheit mächtige, in Demut stolze, vom Glück der Liebe und des Sieges glühende Seele dem unermeßlichen Firmamente zu. Mit derselben Unbedingtheit, mit der die verlorene jüdische Masse im Osten und im Westen dem gemeinsamen Nutzen frönt, wurde hier die Seele gewählt. Ich bin genau dieser Seele im äußersten Westen begegnet, wo sie an der Spitze der Kulturen als weit vorgerückter Posten ihrer Inbrunst die namenlos neuen Wege suchte und sich in wahrhaft tragischer Vereinzelung an den kühnsten Wagnissen und Experimenten verblutete. Daran zerbrachen unsere besten Jünglinge. Und ich habe diese Seele in schlichten ostjüdischen Männern und Frauen wiedergefunden, wo sie ihr Lächeln, ihren Ernst, ihre unerlaubte tiefe Erfahrenheit, ihr sicheres, reifes Vermögen bescheiden wahrte und verwaltete. Es ist der jüdische Typ, der heute die laute, gierige Masse der Erfolgreichen verbirgt, dessen höhern jüdischen Erfolg Nietzsche für die Zukunft Europas nicht missen wollte. Er enthält jene Mission des Judentums, die erst den Antisemitismus unbeträchtlich machen wird. Der Chassidismus ist nicht gewesen, er wird erst! Er wächst weiter unter der schützenden Decke der ostjüdischen Treue. Das erneuernde Blut sucht sich Abfluß in den zionistischen Kolonisationstendenzen, an deren utopischer Weltbedeutung ich zwar mit innigster Hoffnung hänge, über die ich aber hier nicht sprechen will. Und die an Ort und Stelle wirkenden nationalisierenden Tendenzen – „Nation“ als Postulat, als Aufgabe – begreife ich als die Art, wie der reine jüdische Geist sich seinen Körper formt. Eine unterirdische Treppe führt durch Blut und Sozialität dieser Masse den edleren, den bedeutenden Mensch – langsamer als den erfolghaschenden, gierigen Praktiker, aber unweigerlich – zur allgemeinen Kultur empor.

Hier ist der Kontrapunkt der Frage. Hier ist die große Wendung. Wo der Jude, statt des goldenen Kalbes, sein Selbst suchen wird, wo er seinen Blick ins Innere dreht, da wird er den eigenen Reichtum fertig und hochgeschichtet vorfinden, ihn erwartend. Von hier aus läßt sich aber auch die einzigartige Situation des Judentums in der Welt der Zwecke und der Mittel betrachten und in ihrer ganzen Fragwürdigkeit ermessen. Dieses in der Natur wurzellose Volk war und ist mit Stein und Wirken unerbittlich auf die Einordnung in vorhandene sachliche Bestände angewiesen und hat sich tausendfach, unter den schwierigsten Verhältnissen, dieser Einordnung fähig gezeigt. Ich möchte sagen: Leider! Nur allzu fähig! Das jüdische Talent erschöpfte sich zwar keineswegs in Theorie und Praxis des modernen Wirtschaftslebens – das zu erfassen und zu durchdringen sich allerdings auch der kleinste galizische Zwischenhändler rätselhaft berufen zeigte. Der Jude hat das Handwerk vielfach übersprungen, aber er ist in Technik und Wissenschaft zuhause, als wäre er insgeheim darauf vorbereitet worden. Ja, man wirft ihm vor, daß die fortschreitende Technifizierung und Theoretisierung des ganzen europäischen Lebens seinem üblen Einflusse zuzuschreiben sei. Der Westjude –um den es sich hier handelt – sei der schlechthin ametaphysische Mensch; seine materialistische Verwertungsgier und Fähigkeit zerfresse und zerstöre alle edlen, alten Gefühlsbestände, wie auch der jüdische Händler die weihevollen Wälder abholze, um sie als tote Werte zu veräußern. Hier wirke, im Guten wie im Schlimmen, ein Talent und ein Entschluß zum verbohrt Sachlichen, zum nüchtern Rationellen – ein Geisteszug, der den Juden als den momentanen Vordergrundstyp des modernen Deutschen wesensverwandt zeige. Daß die Ueberanstrengung der materiellen Sucht, welche nicht allein eine jüdische, sondern die moderne Gefahr schlechthin bedeutet, eine Kulturkisis heraufbeschwört: dieser Vorwurf wird oft einseitig gegen den Juden gedreht. Aber der Jude hat sich nur in eine flutende Bewegung eingeordnet, und es gibt genug kräftige jüdische Gegenschwimmer auch im Westen. Unter den Juden selbst stehen überall die erbitterten Mahner auf, die, von der Idealität beglaubigt, das beengte Innere gegen das überwuchernde Aeußere bewaffnen. Einmal in die Wirklichkeit eingeordnet und in die Gesetzlichkeit aufgenommen, erblickt der Jude, der leistet, dicht neben sich den Juden, der schaffen wird!

Der Jude im Westen ist der sozialistische Schwärmer und Praktiker; er ist zugleich der Zivilrechtslehrer und der Staatsrechtslehrer. Die Heimat, in die er hineinwächst, ist der moderne Staat, der ihm deshalb zum Problem und zur Wissenschaft wird. Für den Staat blutet heute der Jude in allen Lagern. Hüben und drüben ist ihm der Weltkrieg ein Anlaß, seinen Dank für die Aufnahme in Recht und Gesetz abzustatten, und zugleich eine Gelegenheit, seinen Willen zur Gemeinschaftspflicht durch die Tat zu erhärten. Aber während der Westjude in diesem Kampfe den Genuß der europäischen Würden und Rechte mitverteidigt, besteht der Ostjude zumeist nur eine Art Aufnahmeprüfung, opfert er sich für den Anspruch auf Geltung. Da bedeutet es eine moralische Katastrophe, daß in Deutschland ein Ausnahmegesetz der Grenzsperre für Ostjuden erörtert wird. Es wird ja nur debattiert, es ist noch nichts Offizielles geschehen. Es würde ein solches Gesetz vielleicht nur geringe praktische Bedeutung haben, denn der Ostjude giert nicht nur nach dem Westen, er hängt auch mit fanatischer Liebe an seinem Milieu. Nur fürchte ich, daß gerade die Ausschließung, das Zuschlagen der Tore vor der Nase übelste Begier wieder erwecken könnte. Ich bedauere das Auftauchen des Gespenstes eines Ausnahmegesetzes in seinen möglichen psychologischen Folgen. Diese neue Verletzung, dieser moralische Rückfall könnte jene edle Entwicklung, jene ostjüdische Regeneration stören, die mir als das schönst Jüdische auf Erden erscheint. Der Ostjude, der denken gelernt hat, tritt heute anders vorbereitet als seinerzeit der Westjude an die europäische Kultur heran. Er hat inzwischen eben die Erfahrung des Westjudentums mitgemacht. Er fühlt sich nicht mehr als der Geächtete, der zum Refugium taumelt. Jude, und das ist: Ausnahme sein, ist ihm zum Stolz, zur Aufgabe, zur Mission geworden; die Eroberung nach innen beginnt diesem Typ jeden Raumgewinn nach außen an Wert zu übertreffen. Ueber alle Treue triumphiert die Treue zu sich selbst.

Die Ordnung im eigenen Hause, das Werden aus eigener Kraft wird hier dem Anschluß an fremdes Gedeihen vorgezogen. Nicht länger zufrieden mit der Rolle des Vermittelnden und Verwertenden, gräbt man sich zum Fundament durch. Und da bedeutet auch der Zug zum Ackerbau eine wesentliche Erweiterung und Kräftigung der jüdischen Sachlichkeit, ein Wurzelsetzen. Ein heilsamerer Begriff von Arbeit wird gesät und dem Unkraut des spekulativen Müßigganges immer mehr Boden abgezogen. Wäre diese Regeneration schon allgemein durchgedrungen: ihre gesicherten moralischen Werte hätten von einem Ausnahmegesetz auf die Dauer nichts zu fürchten. Aber der zarte Keim solchen Werdens scheint bedrohbar.

Der Ostjude wird es jedenfalls nicht fassen können, daß der Deutsche, gerade er, den er als eine Instanz des Weltrechtes so tief verehrt, ihn wie ein schädliches Insekt behandeln sollte. Er wird es bestaunen, daß das deutsche Imperium, allen Kräften und Strebungen weit geöffnet, an Macht und Gesundheit ein Riese, sich gegen jüdische Proletarier versichern muß; Deutschland, dessen geschultes, befestigtes Proletariat kein Sturm mehr entwurzeln und keine Mikrobe mehr zerfetzen wird. Der Jude ist der gelehrige Schüler moderner Staatlichkeit; und der Deutsche ist ihm der Könner des modernen Staates. Er, dem das Staatsgefühl sich zur gewaltigen Religiosität steigerte, sollte auf vorstaatliche, barbarische Maßregeln zurückgreifen? Die „Grenzsperre“ ist vor allem ein ethisches Problem Deutschlands. Das wird auch der deutsche Soldat empfinden, der sich als ein Vorkämpfer der sachlichen Freiheit fühlt. Und der deutsche Soldat hat andere Erfahrungen hinter sich, die mancher deutsche Theoretiker, der nur im Hinterland kämpft, unglaubwürdig nennen würde. Der Soldat hat Augenblicke erlebt, da er bereit war, den Kaftan als das treueste Zivilkleidungsstück Galiziens anzusprechen. Der Soldat hat es mit Augen geschaut, daß das sogeheißene Volk der Ausbeuter aus eigentlich recht wenigen gefährlichen Ausbeutern und vielen, vielen harmlosen armen Teufeln besteht, die in aller Bescheidenheit zu leben wünschen. Ich habe müde deutsche Soldaten im jüdischen Hause eine jüdische Mutter „Mutterle“ ansprechen und sie dem Schutze Gottes empfehlen gehört – im Gefühl der Zusammengehörigkeit. Und der deutsche Soldat hat sich oft ganz unbefangen stundenlang mit dem jüdischen Pauper unterhalten, im Eifer eines sachlichen Gesprächs, ohne Komik und Schiefblick. Da sah ich armselige Juden das Vorsichtige, Abwartende, Spähende, Geduckte verlieren und ihre natürliche Würde dem Fremden, Mächtigen gegenüber wiedergewinnen. Soll dies alles Täuschung gewesen sein und beim Juden zur furchtbarsten Enttäuschung werden?Und dennoch – ich fürchte jedenfalls für die Mission der Ostjuden. So oder so, die Besten werden sich durchkämpfen, sie werden nicht untergehen. Sie haben den guten Weg begonnen, sie werden sich nicht in den Abgrund zurückreißen lassen. Sie werden nicht mehr hinüberschielen, sich eindrängen und aufdrängen. Sie werden den schwindelnden Erfolg des Schmarotzers nicht mehr dem bescheidenen Eigenwuchs vorziehen. Sie werden einen Schmerz fühlen, der sie sogar kräftigen muß; eine Enttäuschung erfahren, die sie belehren soll. Aber was sagt der Westjude? Er, der es doch auch dem unerbittlichen Widerstand, dem grausamen Kampf der orthodoxen Massen, ihrem Schmutz, ihrer Armut, ihrer Entbehrung, ihrer Schande, ihrer Tüchtigkeit, ihrer beispiellosen Fähigkeit mit verdankt, wenn er heute reicher leben und freier fühlen und sich überhaupt als berechtigtes Wesen weiter entwickeln darf? Was empfindet diese Avantgarde, wenn sie jetzt plötzlich zurückblickt? Ist das ihr Erfolg? Ihr Dank? Ihr Gegengeschenk? Haben sie sich so aufgeführt, sich so bewährt, daß man Juden aussperren muß, fremde Juden, die man garnicht sehr kennt, die man immerhin auch nach den eigenen, arrivierten Juden mit beurteilen müßte? Gilt denn nicht von Deutschland eines Walther Rathenau stolzer Satz, der mit Entschiedenheit gegen den zähen Rest von antisemitischer Ausnahmegesetzlichkeit in Deutschland selbst gesprochen wurde: „Dann möge Der auferstehen, der vor Gott und Gewissen behaupten kann, daß die deutschen Juden ihr Maß an Kulturarbeit nicht ehrlich und reichlich erfüllt haben, daß sie nicht mehr zu Deutschlands Hoheit, Glück und Ehre beigetragen haben, als alle berufsmäßigen Antisemiten zusammengenommen“? Die Ostjudenfrage ist nicht zuletzt eine Frage der Westjuden.