TAUBER, CAMILLA: DIE JÜDISCHE FRAU IN AMERIKA

Zur Biographie: Camilla Tauber

In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 38. Jahrgang, Ausgabe 5 vom 04.02.1898 S. 51f

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[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

Um vollständig die heutige Stellung der amerikanischen Jüdin zu verstehen, ist es nöthig, daß wir uns auch ein wenig mit ihren Müttern und Großmüttern befassen. Noch vor dreißig Jahren wäre der Titel „amerikanische Jüdin“ ein ganz falsch gebrauchter gewesen. Einige isolirte dastehende Fälle ausgenommen, stand die Masse der in Amerika lebenden Jüdinnen durch ihre Denkweise, Gewohnheiten, Erziehung ganz unter dem Einfluß der Sitten ihres Geburtslandes. Als die ersten jüdischen Emigranten aus verschiedenen Ländern Europas sich in Amerika ansiedelten, fanden sie sich nach ihren Nationen zusammen. Die deutschen Juden bildeten ihre Gemeinden und bauten sich Tempel. Ebenso that der ungarische, böhmische, polnische und russische Jude; sie alle übertraf aber noch an Exclusivität der portugiesische. Daraus ist ersichtlich, daß diese Mischung amerikanischer und europäischer Juden sich nicht gleich weder in socialer, noch in religiöser Beziehung in Amerika assimiliren konnte.

Der Handel und das practische Leben brachte die Männer in engere Beziehung; nicht so aber die Frauen, deren religiöse und sociale Entwickelung sich nicht so schnell von den früheren Ein- drücken emancipirte. Hier half die Synagoge in gesellschaftlicher Beziehung stark nach, denn die Stellung der Jüdin richtete sich nach dem Reichthume und der Position der Gemeinde, zu welcher ihr Gatte gehörte. Die Jüdin aus dem Westen paßte gewöhnlich ihren Haushalt und ihre Lebensweise viel schneller der amerikanischen an, als ihre Schwester im Osten. Der Fortschritt der letzteren war ein äußerst langsamer. Da sich der größte Theil der jüdischen Emigranten dem Osten zuwandte, große Körperschaften sich aber nur langsam bewegen, verändern, machten sich die Spuren ihrer Exclusivität im Osten weit mehr bemerkbar. Englisch ist vielen älteren Jüdinnen noch eine ganz fremde Sprache – die amerikanischen Moden finden sie den ihrigen etweder unter- oder übergeordnet.

Wenn wir die socialen Beweggründe betrachten, welche die meisten jüdisch-amerikanischen Pionniere leiteten, muß es uns nicht überraschen, daß sie vornherein nicht gleiches Ansehen wie ihre christlichen Nachbaren erwarben. Denn sie machten es sich zur Aufgabe viel Reichthum zu erwerben, um dadurch ihren in Amerika geborenen Kindern die Vorzüge der Erziehung und Vered- lung zu bieten, die sie zu gleichem Range mit der besseren Classe der amerikanischen Bürger erheben sollte. Zwar konnte der elterliche Einfluß, trotz seines Mangels an Cultur und Bildung, in der ersten amerikanischen Generation, die ererbten Tendenzen nicht ganz verwischen. Dennoch erfüllte die Schule der neuen Welt die Jüdin mit ganz neuer Denkweise. Wenn sie vor der Kanzel den Worten des Redners lauschte, bleib sie unberührt von den Erzählungen von Israels Wohl und Weh, waren ihr gleichgiltig des Predigers Beschreibungen und Traditionen, die ihrem Geiste der Freiheit und Gleichheit so antagonistisch, Erzählungen aus dunkler Vergangenheit, schienen nicht am Platze inmitten des hellen Lichtes, das ihr leuchtete. Ihre Seele war den Lehren abgeneigt, die aus ihr ein anders geartetes Ding, als die andern machen wollten.

Nun kam für Amerika die Zeit religiöser Reform, in welcher fast jeder Rabbiner sein eigener und seiner Gemeinde Gesetzgeber wurde. Der Glaube an viele religiöse Ceremonien wurde zerstört, die Speisegesetze waren bald ein überwundener Standpunkt; mit ihnen schwand noch die Beobachtung anderer religiöser Vorschriften im Hause, deren strenge Hüterin und Bewahrern die Jüdin seit undenklichen Zeiten war. Die Kanzel bezeichnete der Jüdin fast Alles als sinnlos, worauf ihre Mutter mit Werthschätzung blickte. Doch trotz all dieser neuen Lehren konnte sich die schon in Amerika geborene Jüdin nicht ganz von dem elterlichen, religiösen Einflusse frei machen und wurde so eine Art Bindeglied zwischen der Jüdin des Ghettos und dem Gegenstand unseres Artikels, der jetzigen freiheitsliebenden amerikanischen Jüdin.

Von der Wiege bis zur Reise konnte sie sich unbehindert dem Muster amerikanischer Weiblichkeit nachbilden. Nichts in ihrer Umgebung erinnerte sie an die unglückliche Vergangenheit ihres Volkes, kein einziges Gesetz ihres Landes konnte in ihr die Vorurtheile und Verfolgungen, durch welche ihre Vorfahren litten, zurückrufen. Sie hat auch keine alten Großeltern, um derentwillen die alten Formen gehalten werden müssen; anstatt daß sie eine religiöse Anleitung von ihrer Mutter erhielte, wird die junge amerikanische Jüdin die Lehrerin ihrer Eltern. Sie brachte das Licht einer neuen Erkenntnis ins Haus, sie ignorirte die Muttersprache ihrer Eltern und hing der Landessprache an. Nach und nach übertrug sie auch ihren Gedankengang auf ihre Mutter und überzeugte dieselbe, daß man den neuen Lebensbedingungen durch moderne Maßregeln Rechnung tragen muß.

Eine wunderbare Combination der Umstände, und das unaufhörliche Vorwärtsschreiten der Frauen hat die amerikanische Jüdin auf eine gleiche Stufe mit den anderen Amerikanerinnen gestellt. Sie kam aus dem Widerspruch der Vergangenheit und Gegenwart hervor, freilich auf Kosten der religiösen Ceremonien. Trotzdem ist sie ihrem Glauben und Race treu und der Mischehe nicht geneigt. Ihre religiöse Mission im Hause aber hat sie vollständig vergessen; der Sabbat hat viel von seiner Heiligkeit eingebüßt. Die fortschrittliche amerikanische Jüdin sieht nichts Böses darin, daß die Lehren Moses am Sonntage erklärt werden, und das Gute, was Mohamed oder Martin Luther gesprochen, hört sie gerne, wenn es auch ein Rabbiner von der jüdischen Kanzel wiederholt.

Die amerikanische Jüdin ist ein actives Mitglied ihrer Gemeinde. Verhältnismäßig ist zwar ihr Besuch der Gotteshäuser gering, aber die geräumigen, luxuriösen Tempel blieben fort leer ohne sie. Sie fördert in Wort und That das materielle und geistige Wohl ihrer Synagoge. Wahrhaft anerkennenswerth ist der Eifer, mit dem sie sich in der Sphäre der Wohlthätigkeit bewegt. Diese ist ihr Reich; alle ihre Sympathien gehören den Armen; sie excellirt in Mildthätigkeit. Damit soll nicht gesagt sein, daß sie ein Beispiel für edle Nächstenliebe des Gemüthes ist, denn darin ist die Amerikanerin im Allgemeinen weit zurück. Ihr Feld ist das praktische, materielle. Sie gibt in Wirklichkeit und erleichtert die Bürdern der Armen und Bedürftigen und widmet sich mit Leib und Seele diesem Werke. Unsere Jüdin strebt allerorten Hilfe an, näht den Armen Kleider, arrangirt Bälle und Bazars um die Hilfsfonde zu bereichern, fördert die Erziehungsanstalten und hat Schwesterschaften ins Leben gerufen, die unermeßlich viel Gutes thun. Wenn man die Jahresberichte dieser Vereine liest, hat man das Gefühl, daß gute Feen sich ins Mittel gelegt haben, um das menschliche Elend zu erleichtern.

Die amerikanische Jüdin hat jetzt ihren Stadt-, Staat und National-Rath, der aus mehreren Tausend Jüdinnen, aus allen Theilen der Vereinigten Staaten besteht. Doch außer seiner Organisation hat derselbe noch wenig oder nichts von Bedeutung errungen. In seiner ersten Sitzung im November 1896 erklärte sich der Bund für die Reinstallation des siebenten Tages, des Sabbates, doch wurde bis jetzt kein einziger Schritt dazu officiell eingeleitet. Die localen Sectionen sind in Classen getheilt, deren Aufgabe Humanität ist. Durch die Vereinigung sind viele jüdische Frauen in den Vordergrund gestellt worden, von denen man früher weder in literarischer, noch in socialer Beziehung gehört hatte, die sich aber mit dem Anpassungsvermögen der Amerikanerin rasch in die Situation einlebten und vom Beginne das jüdisch-amerikanische Weib gut repräsentirten.

Das Familienleben der amerikanischen Jüdin gestaltete sich nach der allgemeinen Sitte des Landes. Sie genießt dieselbe Freiheit wie ihre andersgläubige Schwester. In ihrem Heim mag sie den Platz einnehmen, der ihr im „Lied vom Biederweibe“ angewiesen ist, als weise, wachsame Leiterin; doch geht sie keineswegs ganz in ihrer Häuslichkeit auf. Sie ist überall zu sehen, in den Straßen, in Geschäften, Restaurants und Parkanlagen. Während sie ihre Töchter mit wachsamen Auge hütet, genießen diese gleich den anderen amerikanischen Mädchen vollständige Freiheit in gesellschaftlicher Beziehung. Heirat ist das Ziel der amerikanischen Jüdin, wie es das ihrer Großmütter war, doch wird sie in Erlangung desselben nicht von einem „Schadchen“ oder ihren Eltern unterstützt, und es ist in der That nicht ungewöhnlich, daß ein jüdisches Mädchen diese mit der Anzeige ihrer Verlobung überrascht. Sie mag ihre Eltern ebenso lieben, wie die Jüdin längsvergangener Zeiten, doch fehlt es ihr an Hochachtung. Kinder betrachten ihre Eltern als theure, gute Freunde, aber nicht mit Ehrfurcht als Respectspersonen. Dieser Zustand – glaublich oder nicht, ist einfach „amerikanisch“.

Ich glaube nicht, daß die amerikanische Jüdin mehr auf schöne Kleidung und äußeren Schmuck hält, als z. B. die Jüdin zur Zeit Jesaias oder die Frauen anderer civilisirter Nationen. Doch da die reiche Jüdin nicht immer die bessere Jüdin ist, so ist es oft der Fall, daß die Frauen, die die luxuriösesten Wohnungen in den aristokratischen Vierteln großer Städte haben, sich nicht immer bemühen, die ruhig edle Art ihrer Nebenschwestern anzunehmen. Dies kann oft Vorurtheil gegen die Race in noch eingenommenen Gemüthern erwecken.

In der thätigen amerikanischen Frauenwelt ist sie noch eine Null. Von den männlichen Mitgliedern der Familie unterstützt, arbeitet sie nicht, insolange sie nicht dazu gezwungen ist. Doch beginnt sie einige Zeichen intelectueller Regsamkeit zu zeigen, und wir hören hie und da von einer Jüdin die Arzt, Advocat, Schriftstellerin, Künstlerin etc. ist. Die amerikanische Gesellschaft hat bislang der Jüdin wenig Gelegenheit geboten, ihre Fähigkeiten als Führerin zu entfalten, wenn sie solche hat. Durch ein ungeschriebenes Gesetz scheint sie von jeder officiellen Thätigkeit für Gemeinde-, Staat- und National-Wohl ausgeschlossen zu sein. Die Städte des Westens haben einige Ausnahmen in dieser Beziehung gemacht.

Durchschnittlich beginnt die amerikanische Jüdin in ihrem Aeußeren fast vollständig den anderen Frauen zu gleichen, und nur ein scharfer Beobachter bemerkt den jüdischen Typus. Unter dem Sternenbanner, dem stolzen Emblem der Freiheit haben sich die phisischen Eigenthümlichkeiten der Jüdin merklich gehoben. Mit der Zeit wird sich zu ihrem jetzigen strengen, energischen Aeußern die verfeinerte, gesetzte Schönheit der gebildeten europäischen Jüdin gesellen.

Zum Lobe der amerikanischen Jüdin sei es gesagt, daß sie ihr Vaterland unaussprechlich liebt; ihr Patriotismus ist angeboren und unauslöschlich und für ihre Heimat wird sie ihr Gold und ihre Juwelen ebenso bereitwillig opfern, wie ihre Urahne es für ihre Religion that.

Die auf den alten, idealen Gesetzen begründeten moralischen und bürgerlichen Tugenden der Jüdin werden immer dieselben bleiben. Ihr Einfluß übersteigt alle Grenzen des Klimas und Landes. Rachel, die Stammmutter Israels, muß über ihre amerikanischen Töchter nicht weinen. Trotzdem eine neue Aera mit veränderten Bedingungen heraufdämmerte, sie an allen Leiden und Freuden ihrer Nation Antheil nimmt, giftig Alles was neu und schön ist zu erreichen strebt, bleibt sie doch Jüdin in Geist, Gefühl und Glauben.

Nach Jew. World.

Camilla Tauber, Prerau.