MENSCH, ELLA: DER ZIONISMUS UND DIE JÜDISCHE FRAU

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In: Jüdische Volksstimme, 11. Jahrgang, Ausgabe 39 vom 28.09.1910, S. 9

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Der Zionismus zählt zu den edelsten und gerechtesten sozial-religiösen Bewegungen unserer Zeit. Aber er ist in der Hauptsache noch eine Männerbewegung, in welcher die Frau noch so gut wie gar nicht die ihr gebührende Rolle eingenommen hat. In „Altneuland“* von Theodor Herzl wird wohl das weibliche Element in die erwachende palästinensische Zukunftskultur hineingezogen, aber niemals geht von ihm eine Initiative aus. Das halte ich für eine empfindliche Lücke in der Bewegung und gerade weil ich hier nicht pro domo spreche, möchte ich mir erlauben, die Träger der Bewegung, von meinem christlich-germanischen Standpunkt aus, auf ein stärkeres Heranziehen der Frau, der Frauenkraft hinzulenken.

Der Zionismus, wenn er mehr als schöne Illusion sein soll, ist meines Erachtens von einer tief religiösen Welt- und Lebensauffassung untrennbar. Aber bei den meisten Zionisten trägt der messianische Gedanke den Charakter einer losen Arabeske, die ganz leicht um den Zukunftsbau herumgelegt ist; sie kann auch ebenso gut fehlen. Die messianische Hoffnung hat ihren konstruktiven Wert eingebüßt. Das Glas Wein, welches der israelitische Hausvater bei der österlichen Feier für den Messias bereit stellt, die Tür, welche für diesen offen gelassen wird, erscheint den meisten doch nur als ein alter Brauch, der rückwärts, aber nicht vorwärts deutet.

Messiase lassen sich nicht erfinden; sie kommen eben, wenn die Zeit erfüllet ist. Für die Zionisten dürfte denn auch allmählich ihr Messiasglaube von einer Person zu einem Zustande, einem neuen, glücklicheren Erdendasein sich gewandelt haben. Diese Metamorphose merkt man deutlich in „Altneuland“. Theodor Herzl gibt zu, daß dies neue Haus in Palästina, welches er und seine Brüder herbeisehnen in Europa, in Deutschland und in England gebaut worden sei. Zu diesem Neubau, den Juda in Angriff nimmt, hat die jüdische Frau bis jetzt nur noch wenige Steine herbeitragen helfen. Aus Vergangenheit und Gegenwart erklärt sich diese Tatsache. Die Israelitin alter Tradition, die streng orthodoxe, welche noch das Stirnband trägt, dieser Typ, der sich in Galizien, Polen, Rußland findet, kommt selbstverständlich nie auf den Gedanken, aus eigener Erkenntnis politisch-sozial sich betätigen zu wollen. Sie bereitet die Speisen nach dem Ritual, sie zündet am Freitag, sobald der erste Stern am Himmel erschienen ist, die sabbathlichen Kerzen an und fastet an allen hohen Feiertagen, am strengsten am Versöhnungstage, wo sie nicht einmal einen Schluck Wasser über die Lippen bringt. Theologisches Wissen bleibt ihr zeitlebens fern. Der Ausspruch des „Talmud“, daß man lieber das Gesetz verbrennen soll als es einem Weibe lehren, ist ja bekannt. In neuerer Zeit ist das nun freilich anders geworden. Es gibt Schulen, wie z. B. die Schulen der israelitischen Religionsgesellschaft in Frankfurt a. M., wo auch die Mädchen in die „Mischna“ eingeführt werden. Sogar eine Art Konfirmation, der christlichen nachgebildet, hat man aufgenommen. Die Reformsynagoge ist noch einige Schritte weiter gegangen. Aber ein großes religiöses Leben in den Töchtern Israels zu erwecken, ist ihr nicht gelungen. Die moderne Jüdin ist in der Hauptsache religionslos und tut sich meistens noch etwas zugut auf diesen negativen Freisinn, der nicht die Frucht von Kämpfen ist, sondern gewöhnlich gedankenloser Bequemlichkeit entspringt. Der Mangel einer religiösen Kultur gibt der jüdischen Frau etwas Heimatloses, nimmt ihr Wurzelhaftigkeit und Bodenbeständigkeit. Von den Idealen ihres Volkes weiß sie wenig. Die jüdischen Mädchen, die in den christlichen Schulen oder in den Simultanschulen sitzen, haben durchschnittlich von den Erzvätern, von Moses und den Propheten bei weitem nicht die Kenntnisse, die ihre christlichen Mitschülerinnen besitzen. Daß man die Psalmen Davids auswendig lernen könnte; kommt ihnen nicht in den Sinn. Als ich einmal ein junges Mädchen auf diesen Schatz religiöser Kultur aufmerksam machte, bekam ich zur Antwort: „Was kümmern mich diese alten, dummen Sachen, wir sind moderne Menschen.“ Ja, daß man nur leider mit dieser Phrase „modern“, die über alle Vergangenheitsgeschichte wegtragen soll, keine wahre Kultur hervorbringt.

Von diesen oberflächlichen Assimilanten haben wir wohl jene anderen zu unterscheiden, welche wie die Frauen der Familie Mendelssohn, wie eine Rahel, eine Fanny Lewald sich ihre eigene Geisteswelt erbauten im planvollen Anlehnen und Hineinwachsen in das Reich unserer großen Denker und Dichter. Sie fanden den Weg nach Weimar und lernten Jerusalem vergessen. Auch die männlichen jüdischen Schriftsteller entfremdeten sich dem Osten mehr und mehr; die Liebe für die Heimatsgeschichte schwand dahin. Woher käme es denn sonst, daß sämtliche erhabene, geistig gehobene jüdische Frauengestalten in der schönen Literatur den Köpfen von Germanen entsprungen sind! Die sinnige „Recha“ in Lessings „Nathan“, die stolze „Judith“ Hebbels, Grillparzers königliche „Esther“, die hochherzige „Rebekka“ in Walter Scotts „Ivanhoe“, die philosophisch veranlagte „Judith“ in Gutzkows „Uriel Akosta“ und viele andere! Wen aber Heinrich Heine sein liebstes weibliches Ideal vorführen will, dann entnimmt er die Farben und Formen dem Madonnenkult:

„Im Dome, da steht ein Bildnis Auf goldnem Leder gemalt,
In meines Lebens Wildnis
Hat’s freundlich hineingestrahlt.

Es spielen Blumen und Englein
Um uns’re liebe Frau.
Die Augen, die Lippen, die Wänglein Gleichen der Liebsten genau.“

Die Differenzierungsbewegung, der aufbrechende Nationalitätengegensatz, hat den Assimilie- rungsprozeß aufgehalten, auf Jahrzehnte vielleicht zurückgeworfen.

* Verlag von Hermann Seemann Nachfolger, Berlin und Leipzig. (Sechste Auflage, Mark 2.–).