WELTSCH, FELIX: DIE SENDUNG SEMAELS. RITUALMORD IN UNGARN. ZUR AUFFÜHRUNG IM NEUEN DEUTSCHEN THEATER

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In: Selbstwehr, 14. Jahrgang, Ausgabe 24 vom 11.06.1920, S. 2f

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Es ist für Juden, denen das Judentum freudig ergriffenes Schicksal ist, schwer, diesem Drama Arnold Zweigs gegenüber objektiv zu bleiben. Denn wir sind mit unserem ganzen Sein daran beteiligt, mit den Wunden und Qualen unseres Lebens in der Galuth, und mit den Gedanken und Gefühlen unserer höchsten Erhebung.

Das Drama hat einen großen Vorwurf; den größten beinahe, den wir uns denken können. Es ist die dramatisierte jüdische Theodicee; die jüdische Rechtfertigung Gottes für alles Böse, das mit seinem Willen in der Welt ist. Ja, es geht über diese Theodicee noch hinaus; es wagt sich an die letzte und anmaßendste Frage aller Religionen: Warum hat Gott – nicht nur das Böse, sondern überhaupt das Mangelhafte, Nichtvollendete, kurz, das „Werden“, das dem absoluten göttlichen Sein gegenüber ja immer unfertig, irdisch, mangelhaft ist, geschaffen? Wozu hat es Gott notwendig, aus den unausdenkbar glücklichen Höhen seines unendlichen vollkommenen Seins sich in das fragwürdige Abenteuer des Werdens zu stürzen, die Welt voller Materie und den Menschen voller Zweifel und Sünden zu schaffen?

Die „Stimme des Herrn“ gibt Antwort auf diese Fragen: „Welt ist mein Weg zu mir, und der Mensch ist der Weg der Welt zu mir.“ „Die Zeit erfüllen kann nur der Mensch. Die Seelen der Menschen tragen meine Einung in sich, die Seele meines Volkes bringt meinen Gesalbten herauf, meinen Erlöser. Maschiach kommt. Die Schechina kehrt heim, ich werde eins sein mit meiner Glorie.“

Darum also das „Werden“. Der ganze unselige Prozeß der Zeit ist notwendig, damit Gott erhöht werde, die herumirrende Herrlichkeit Gottes sich mit Gott wieder eine. Darum das Unvollendete, der Kampf und alles Wagnis der Neuschöpfung; darum das Böse: damit die Wahl sei; damit, wie Baalschem am Schlusse sagt, „die Seelen entbrennen, die Herzen erschüttert und die Funken gehoben werden.“

Und darum auch das Böseste des Bösen: Die Ritualmordlüge, das Blutmärchen, das über die Häupter Israels gebracht wird, und das hier – das ist die irdische Handlung des Stückes – in seiner ganzen Kraßheit sich abspielt, angelehnt an die historischen Vorgänge des Prozesses von Tisza-Eszlár, die Ritualmordaffäre von Ungarn.

Der Gutsbesitzer Onody vergewaltigt ein Landmädchen und tötet es dabei unversehens. Als das Mädchen vermißt wird, kommt unter der Bevölkerung das Ritualmordmärchen auf. Es wird von der antisemitischen Partei unterstützt, welche in dem Untersuchungsrichter Bary ein ehrgeiziges und hinlänglich beschränktes Werkzeug findet. Um einen Beweis zu haben, läßt Bary den Sohn des Schames, Moritz Scharf, so lange abwechselnd foltern und mästen, bis seine sittliche Kraft zerbricht und er aus der Phantasie den Ritualmord schildert. Prozeß; Gerichtsverhandlung.

Alles wütet gegen die Juden. Nur drei Personen nicht; der Gendarm, ein Deutscher, ein redlicher und fortschrittlicher Mann, der korrekte Richter und der gerechte und menschliche Staatsanwalt. Der findet auch die salomonische Lösung. Ein Lokalaugenschein lehrt, daß durch das Schlüsselloch, durch welches Moritz Scharf alles gesehen haben will, nichts gesehen werden kann. Freispruch. Bary erschießt sich. Moritz Scharf sieht, wohin er geraten ist, bereut und tötet sich. Semael, der Teufel, ist wieder einmal unterlegen. Ein Schritt weiter zum Maschiach ist getan.

Es wird, wie gesagt, schwer, an dieses Stück den kritischen Maßstab anzulegen. Und es ist wahrscheinlich auch Arnold Zweig, als er es schuf, schwer gewesen, sich in künstlerischer Zucht zu halten. So muß man denn sagen, daß das Drama in seiner Gestaltung hinter der Größe seines Vorwurfs zurückbleibt.

Sein Fehler ist – ganz kraß ausgedrückt: Er hat zu viel von einem Rechenexempel in sich. Es geht durchaus auf. Die Stimme Gottes offenbart in wundervollen, an den Quellen unserer jüdischen Mystik geschöpften Worten ein – Programm, das im Stück restlos durchgeführt wird. Die- ses göttliche Programm – irgendwo von der Gallerie her von Bogyausky gesprochen, blieb – so sehr es auch unsere tiefsten religiösen Gedanken verkündete – als „Theater“ wirkungslos.

Klar gefügt – beinahe geometrisch – ist das irdische Geschehen: Das dumme Volk; der unwahrscheinlich beschränkte oder unwahrscheinlich böse Untersuchungsrichter; die ganz schwarzen Onody und Istoczy; der biedere deutsche Gendarm; der gute Staatsanwalt; in der Mitte des Stückes Moritz Scharf, von dessen moralischer Elastizität alles abhängt; schließlich die vollkommene Lösung durch die Schlüssellochgeschichte. Die Bösewichter gehen zugrunde. – Das Exempel geht auf; es bleibt kein Rest; nicht auf Erden, nicht im Himmel und nicht in der Hölle.

Ist diese geometrische Deutlichkeit ein Fehler?

Kunst ist Schöpfung neuen Lebens. Das Geschehen im Drama muß die Zeichen wahren Lebens tragen. Kristallklarheit des Geschehens gehört aber nicht zu diesen Zeichen. Im Leben bleiben Reste. Sie sind sogar Antrieb zu weiterem Leben. Im Leben schillert alles ein wenig; es ist alles ein bißchen verwirrt.

Das alles wußte Arnold Zweig natürlich auch. Er hat sich nur nicht darum gekümmert; vielleicht hat er diese scharfe Deutlichkeit sogar gewollt, – als Kunstmittel gleichsam: Expressionismus der Charaktere und der Handlung. Dann kann nur die dramatische Wirkung Kriterium des Gelingens sein. Und diese war nicht ganz überzeugend. Man war tief erschüttert und ergriffen; aber man fühlte sich doch nicht inmitten des Geschehens, blieb irgendwie draußen. Trotz aller Leidenschaft, trotz vieler wunderbarer dichterischer Stellen blieb ein kaltes Medium zwischen Stück und Zuschauer. Diese eigenartige Wirkung wurde noch durch die Ausstattung betont, die gerade diese Seite des Stückes allzugut verstand und die Geometrie der Handlung durch die Geometrie der Häuser und Synagogen unterstrich. Mit dieser Stilisierung stand freilich das naturalistische Gehaben der Personen in einem gewissen Widerspruch. Vielen in der Ausstattung schien überflüssig spielerisch. Der Gedanke an die Wichtigkeit des Schlüsselloches war bei den Säge- oder Korkziehertüren etwas peinlich.

Die Aufführung selbst gehörte zu den besten Leistungen unseres Ensembles. Es war ein gelungenes Werk des Regisseurs Pabst. Am Zusammenspiel, an der Disziplin der Schauspieler merkte man die künstlerische, zielbewußte Führung und gute Probenarbeit – eine wesentliche Besserung in der letzthin in der „Selbstwehr“ von Max Brod bemängelten Vorbereitung literarischer Stücke. Die Schauspieler boten beinahe durchwegs Zufriedenstellendes. Hervorzuheben ist in erster Reihe Soltau, der einen sehr glücklichen Abend hatte; ebenso Hölzlin, Raabe und Schütz, der schön sprach und auch gut aussah, wenn er auch mit seinem Krummstab mehr an den heiligen Nikolo als an den Propheten Elijahu gemahnte.

Das Publikum war sehr bei der Sache und dankte am Schluß begeistert allen Mitwirkenden, insbesondere dem Regisseur Pabst.