NATONEK, HANS: NATIONALSTOLZ

 

Zur Biographie: Hans Natonek

Aus: „Berliner Volkszeitung“ vom 9.8.1921, S. 25

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Tran-skription

Es liegt nahe, daß Leute, die sonst keinerlei Vorzüge besitzen, sich an das klammern, was allen zu eigen und was selbstverständlich ist: das Nationale. Um aber diesen allgemeinen Wert zu einem besonderen zu machen, ist es nötig, ihn den anderen abzusprechen und sich zu alleinigen Pächtern dieses Wertes aufzuwerfen. Hier habt ihr den doppelten Grund für die in Deutschland ziemlich häufige Erscheinung der „echten Deutschen“ zum Unterschied von den Deutschen zweiten, dritten und vierten Ranges.
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Wie zahlreich sind in allen Ländern die Bekenner: Ich bin stolz, ein Deutscher – ein Franzose – ein Engländer – ein Italiener zu sein. Schön; aber das sollte zu denken geben, warum nur eine Minderheit bekennt: Ich bin stolz, ein Mensch zu sein.
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Erst bin ich Deutscher – dann Mensch. So denken alle Nationen. Dabei ist weder das Nationale noch das Menschliche gut gefahren. Erst – dann: der zeitliche Aufschub wurde nie beendet und zur Harmonie gebracht. Das „dann“ blieb leere Verheißung und vom „erst“ getrennt. Aber ohne das „dann“ taugt das „erst“ nicht viel.
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Auch „Mensch“ ist wie „Deutscher“ eine allgemeine Eigenschaft, die an sich noch keinen Vorzug in sich schließt. Auch „Mensch“ ist wie „Deutscher“ jedes Mißbrauchs fähig. Wie teuflisch versteht die Sprache, das Wort „Mensch“ zu gebrauchen. Zur Beleidigung kann das edle Wort umbetont und durch grammatikalische Mißbildung sogar zum Schimpfwort gesteigert werden: „das Mensch“, „die Menscher“ als Bezeichnung verachteter Wesen. Höchstes und Niedrigstes birgt: Mensch. Untrennbar verschmolzen tönt beides in „ecce homo!“ Siehe diesen Menschen! Niemand vermag zu sagen, ob Pontius Pilatus diese Worte verächtlich oder als Anerkennung höchsten Wertes gemeint hat.
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Manche Leute – es gibt Menschen, die nur Leute sind – gebrauchen „Deutscher“ so, als wäre er der Komperativ, die Steigerung von „Deutsch“; das liegt am inneren Tonfall. Sie sagen „Deutscher“ so unausstehlich, daß man das Gefühl hat, sie meinen sich selbst, während die anderen, die Deutschtum auf eine andere Art bewähren, undeutsch sind. Wie sieht der Superlativ von Deutsch aus? Ich vermute: Alldeutscher.
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Nichts als Deutsch – das könnte Teutonismus, nichts als Mensch – das könnte Schwärmerei sein. Aber beides zusammen, das ist ein beständiger Wettkampf zwischen beiden. Nicht mehr ein Auseinanderfallen: erst Deutscher, dann Mensch, sondern ein Sichsuchen, ein Zielsetzen des einen, ein Nacheifern des anderen, ein Sichübergipfeln, ein beglückendes Sichfinden.
Wenn die Nationalstolzen bange werden um ihren Anspruch auf das bessere Deutschtum, dann rollen sie das Rassenproblem auf und machen die Blutprobe. Blut ist ein ganz besonderer Saft, hat aber nicht die mindeste Beweiskraft für Wert oder Unwert. Die Rassenfrage, in die Debatte geworfen, verwirrt die Köpfe und verschleiert die Kernfrage: was ist wahrhaft deutsch? Es ist ja so unsäglich dumm und primitiv, nur das Rassendeutsche als das Wertdeutsche anzuerkennen. Die Aufwerfung des Rassendeutschtums ist eine Schiebung im Unterbewußtsein, durch die ein Manko verdeckt und das Primat auf Grund lediglich des Blutausweises und Stammbaums aufgerichtet werden soll. Eine kleine Fabel mag das verdeutlichen: Um eine Quelle lagerten friedliche Rinder in bunter Schar. Da kamen ein paar Zuchtbullen drohend angestürmt, im Maul den notariell beglaubigten Stammbaum, und brüllten: Nur wir sind auserwählt, aus der Quelle zu saufen. Sie ist unser! Fort mit euch; ihr seid stammesfremd, nicht echtblütig. Und sie trieben die Rinder fort und machten sich an der Quelle breit, ohne sich weiter um sie zu bekümmern. – Die Quelle, das ist das lebendige Deutschtum, an dem sich laben mag, wer kann; die fortgewiesenen Rinder das sind die Deutschen, die den Nationalstolz nicht auf der Zunge tragen, die Wahldeutschen, deren gewählte Heimat Deutschland ist, und wer die notariell beglaubigten Zuchtbullen sind, das brauche ich nicht zu sagen.
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Die Nation steht am höchsten, die das Nationale vom Rassendünkel frei macht. Der Stammbaum gehört in das Tierreich. Gestüte und Zuchtbullen brauchen ihn als Ausweis. Der Mensch von Wert ist nicht nur Geschöpf seines Blutes. Sein Blut wählt die Heimat; die Heimat ruft das Blut. Es ist ein erstauntes Erkennen, ein freudiges Bewußtwerden, ein Gefühl, das, wie alles Echte, lieber inwendig ist als laut wird.
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„Ich liebe Deutschland, weil ich in keiner anderen Sprache denken und schreiben kann als in der deutschen“, sagte ein Wahldeutscher dessen Eltern und Voreltern zum Teil „stammesfremd“ waren, der also auf jeder Rassenausstellung schlecht abgeschnitten hätte. „Ich liebe Deutschland“, sagte er „weil es mir die Gnade seiner Sprache schenkte, die ich in Ehrfurcht Muttersprache nennen darf. Ich kann nicht anders als Deutschland lieben, denn wenn ich es nicht liebte, könnte ich nicht in seiner Sprache leben, in welcher der deutsche Geist lebt.“ – „Ich liebe Deutschland“, sagte der rassenreine Nationalstolze „weil sein Heer und seine Panzerschiffe machtgebietend sind und seine Handelsbilanz aktiv ist.“ Als aber das Heer und die Panzerschiffe zertrümmert waren und die Handelsbilanz passiv wurde, da wußte er nicht, was er an Deutschland noch lieben solle, und er grollte seinem Lande.
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Jeder liebt an seinem Vaterlande das, was er von ihm empfängt. Wohl dem, der ein unzerstörbares Geschenk erhält. Die Macht ist zerstörbar. Die Muttersprache aber und der deutsche Geist, der in ihr lebt, sind unzerstörbar.
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Es ist nicht ohne Belang, daß Nietzsche es sich ernstlich verbat, als reiner Deutscher zu gelten und auf den polnischen Einschlag in seiner Abstammung Wert legte.
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Es ist ja bei den Menschen nicht wie bei den Tieren, daß die Rassen um so besser geraten, je unvermischter sie sind. Die englische Nation ist das Beispiel einer großen Rassenvermischung und ist immerhin kein ganz unbegabtes und untüchtiges Volk.
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Das Glück, seine Heimat zu wählen, sie zu entdecken, sich zu ihr zu bekennen, an ihr zu wachsen, ist dem eingeborenen Rassedeutschen versagt; denn ihm ist Deutschsein eine Selbstverständlichkeit, das durch die physische Bindung der Geburt Gegebene. Der Wahldeutsche aber steht zu seiner Heimat ganz anders als der selbstverständliche Deutsche; nicht so sicher, leidenschaftlicher, suchender, heftiger. Er durchschaut die Schwächen des Deutschen schärfer und liebt seine Werte inniger. Der Rest von Fremdheit ermöglicht ihm, deutsches Wesen kritisch und objektiv zu sehen.
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Was ist wahrhaft deutsch? Es kann nichts anderes sein, als was wahrhaft englisch, französisch, italienisch usw. ist: also das wahrhaft Menschliche, also die höchsten Eigenschaften und Kriterien des Menschen innerhalb eines Volkes, geäußert in seiner Sprache und im Dienste seiner Erziehung. So entsteht eine Gemeinschaft von Völkern, für die das Nationale selbstverständlich ist und mit dem Menschlichen nicht mehr in Widerstreit steht.