POMERANZ, ROSA: „DAS GESETZ . . . .“

 

Zur Biographie: Rosa Pomeranz

In: Die Welt, 8. Jahrgang, Ausgabe 22 vom 27.05.1904, S. 17f

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Einst lebte ein Mann – „im fernen Osten“ heisst es bekanntlich in der Fabel. Doch nein: unser Mann lebte im nahen Westen. 

Auch dort können Fabelmänner vorkommen. Er lebte also in dem „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ im Munde führenden – „durch weise Gesetze und steten Fortschritt berühmten“ Westen. 

Er aber – nämlich unser Mann – liess sich durch die hohen Worte nicht betören. Er blickte um sich, und was sein Aug` und Herz gewahrte, strafte jene Parole Lügen, sprach der Weisheit und Gerechtigkeit Hohn, schlug der Menschlichkeit und Güte ins Gesicht. 

„Wer schützt das Böse? In wessen Haut gedeiht und ruht es friedlich?“ frug er sich unablässig. 

„Doch nur im Schatten der Gesetze“ – sagte ihm sein Verstand – „der Gesetze, die da sind wie sie nicht sein sollen.“ 

Und seine Achtung, sein Vertrauen in das Gesetzbuch, diesen Grundpfeiler der Staats- und Gesellschaftsordnung, schwand. 

Ein Mann aus der Fabel ist bekanntlich immer ein Original. Der unserige war es nicht minder. Und so richtete sich all sein Sinnen auf das Verlangen, ein Gesetz zu finden, das seinem Volke ein Hort der Gerechtigkeit und Weisheit sei, ein Werk höherer Eingebung, das ihm leibliches und geistiges Wohlergehen ermögliche hier auf Erden und so sein Wünschen und Streben zur Ruhe bringe. 

„Und wird es auch ein fremdes Volk, ein fremdes Gesetz sein, es soll mir dennoch heilig bleiben.“ 

Gedacht, getan. 

Und der Mann aus dem Westen pilgerte gen Süden. Und was er fand, war: Not, Qual, Jammer und Klagen. Der Hunger frass in den Eingeweiden des Volkes. Das Elend funkelte mit Wolfsaugen aus allen Ecken und Enden. Alle aber waren einig: das Gesetz und nur das Gesetz sei schuld an dem Greuel. 

Der Mann floh entsetzt nach dem Norden. Dort gährte es wie in einem Kessel. Die Einen wollten den Freihandel, die Anderen den Schutzzoll. Diese verlangten ein mildes „modernes“ Strafgesetz, jene Verschärfung des Einwanderungsgesetzes. Hier forderte man vollständige Trennung von Staat und Kirche, dort sprach man den Satz aus: „An den Pforten der Kirchen und Klöster hört die Staatsgewalt auf.“ Da begünstigte man die Agrarier, dort das Heer oder die Marine. Daraus ergab sich: Bald schrie der Mittelstand, bald intriguierte der Adel, es drohten die Arbeiter oder es zog sich das Kapital furchtsam zurück. 

Der Mann aus dem Westen wandte sich verwirrt, betrübt und sehr erschüttert in seiner Hoffnung, der letzten Himmelsgegend, dem Osten – dem grossen, weiten Osten zu. 

Doch was fand er da? So weit das Auge reichte und der Fuss des Wanderers drang – nichts als Bedrückung, Zwang und Knechtschaft in tausenderlei Form und Weise. Hier mit Brot – dort sogar ohne Brot. Da mit klirrenden Eisenketten, dort mit unsichtbaren, doch nicht minder unzerreissbaren Banden. Hier Tränen, da Blut, dort beides. 

„Wer tut euch das alles an?“ fragte erschüttert der Pilger aus dem Westen. 

„Das Gesetz!“ antworteten die Unzufriedenen, die Gequälten, die Darbenden und Verkommenen aller Himmelgegenden – die Einen im scheuen Flüstertone, die Anderen mit geballter Faust, rollendem Aug` und drohender Stimme. 

Und es schwand die letzte Hoffnung in der Brust des seltsamen Wanderers. Eine tiefe Traurigkeit und Mattigkeit bemächtigte sich seiner. 

Wohin sollte er nun seine Schritte lenken, wohin sein forschend Auge? Norden, Süden, Osten, Westen – er glaubte sie nun alle zu kennen; ihre Aehnlichkeiten waren zahlreicher, denn ihre Unterschiede. Er wusste nun, was er davon zu denken hatte. 

So schritt er denn plan- und ziellos, in trübe Gedanken versunken, geradeaus – wie lange? Er wusste es selber nicht. Da plötzlich stiess er fast mit der Nase auf einen seltsamen, feierlich fröhlichen Zug. Er blickte erwachend und erschrocken auf: Wo befand er sich nur? Jedenfalls in einem Orte, der in keinem Geographiebuche zu finden wäre. 

Es war ein milder, mondloser Abend – nur erhellt durch brennende Fackeln, die sonderbar vorsintflutlich aussehende Männer trugen. Jünglinge, Greise, Frauen und Kinder bildeten einen langen, sich drängenden Zug. Viele, besonders die Alten und die Kinder, sangen und tanzten mit freudestrahlenden Gesichtern vor und hinter der Menge, in deren Mitte, unter einem Baldachin mit feierlichem Schritt ein herrlicher Greis einherging und in seinem rechten Arme, an den langen, silberweissen Bart gelehnt, zärtlich an die Brust gedrückt, trug er eine Rolle – in goldgesticktem Sammt gehüllt und mit einer Silberkrone geziert. Fröhliche Musik erschallte in dem Zuge, und alle suchten in die Nähe des hohen Greises zu kommen, und jeder berührte ehrfürchtig mit seinen Fingerspitzen die geschmückte Rolle in seinem Arm. Voran aber, in fanatischer Verzückung, tanzte auf haushohen Stelzen ein kräftiger Mann, und die brennende Fackel in seiner hoch erhobenen Rechten beleuchtete den phantastischen Reigen. 

Der Mann aus dem Westen glaubte zu träumen. Und leise, wie im Traume, bewegten sich seine Lippen: „Was bedeutet das?“ Er wusste kaum, dass er gefragt. 

Ein kleines, liebliches Mädchen antwortete ihm lachend: „Das Gesetz ist es … unser heiliges Gesetz“, und sie zeigte mit dem runden Finger auf die gekrönte Rolle und hüpfte eilig, vergnügt den Anderen nach. 

„Das Gesetz?“ murmelte der Pilger, „das Gesetz – von Jung und Alt umjubelt?!“ Nun war er überzeugt, dass er träume. Gleichviel! Er wollte den Traum weiter spinnen: Den jungen Burschen ihm zunächst fasste er am Arm: „Das dort ist euer Gesetz?“ frug er unsicher. 

„Ei ja! Eine neue Abschrift des Gesetzes liess Eleasar, der Bäcker, verfertigen. Durch schwere Arbeit und jahrelange Ersparnisse hat er es ermöglicht und heute, am Feste der Lehre, bringt unser Rabbi das teure Buch ins Gotteshaus. Und wir freuen uns darob und …“ weg war er, den Anderen nach. 

Der Pilger versank in Sinnen. Die Menge – schier endlos – wie ihm däuchte, wälzte sich an ihm vorbei. 

Dem Letzten, einem gebückten Alten, der mühsam an der Krücke den übrigen nachhumpelte, schloss er sich an: „Dies ist euer Gesetz?“ frug er zum drittenmale. Jener blickte erstaunt: „Gewiss! Was könnte es sonst sein, worüber wir uns freuen würden?!“… 

„Ist es alt?“ 

„Dreitausend Jahre.“ Der Alte sprach die Zahl so aus, als ob es nur erst ein Tag wäre. 

„Drei …?“ Der Mann beschwichtigte sich in Gedanken, dass es ja doch nur ein Traum sein könne. 

„Und handelt es immer weise und gut?“ forschte er weiter. 

„Das heilige, das erhabene Gesetz!“ Der Alte blickte den Frager mit grossen, verwunderten Augen an. Der wurde verwirrt: „Und habet es stets auch willig und treu befolgt?“ fuhr er zaghaft fort zu fragen. 

Ein verzweiflungstiefer Seufzer war die Antwort: „Wehe … nein … wir wussten, dass es gut und heilsam … und dennoch … wir folgten seinen hehren Worten nicht und darum sind unstet und flüchtig wir und Reue zerreisst unser Herz, und unser letzter Trost auf dem weiten Erdenrund ist wieder nur jenes einzige Buch. Wieder und wieder schreibt unsere Hand es ab, immer und immer versenkt sich darin, Labung suchend, unsere Seele, und unsere erste und letzte Hoffnung bleibt: einst wieder in seinem Geiste, nach seinem Gebote leben und schaffen zu dürfen…“ 

So sprach der vorsintflutliche Greis an der Krücke, während Zähren seine Wangen netzten, und der Mann aus dem Westen hörte ihm zu wie im Traum…