HOEFLICH, EUGEN: HEFKER

 

Zur Biographie: Eugen Hoeflich

Aus: Juedische Rundschau, Nr. 85, 30. Jahrgang. Berlin, den 30. Oktober 1925, S. 716.

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Tran-skription

Von unserem Wiener Korrespondenten (= Eugen Hoeflich)

         Ein junger Mensch hat einen Schriftsteller niedergeschossen und wird freigesprochen. Der Schriftsteller war der Rasse nach Jude, der Mörder gehörte einer national-sozialistischen Organisation (bis kurz vor dem Attentat, versteht sich) als Mitglied an. Diese Fakten sind festzuhalten. Man könnte aus ihnen eine Reihe mehr oder minder treffender Schlüsse auf den Machiavellismus in der Politik, auf die Rechtspflege und auf den Wert oder Unwert des Menschenlebens, wie auf die politischen Verhältnisse Oesterreichs im allgemeinen ziehen. Derlei Schlüsse aber wurden bereits zum Ueberdruß gezogen, nicht nur aus diesem, sondern auch aus allen vorhergehenden, ähnlichen Anlässen, ohne daß sich mehr als das von vornherein feststehende Resultat ergab: wir leben in einer Zeit der Gewalt, wer den Revolver zuerst in der Hand und die Macht der Uebermacht hinter sich hat, ist der Sieger, sowohl vor dem Gewissen dieser Welt, als auch in der Welt der realen, von Gewissen unbeschwerten Tatsachen, die von den Wünschen eines national höchst egozentrischen Wirtschaftslebens bestimmt, von ihm  nicht abzugrenzen sind, weil sie seine Voraussetzungen bilden. Die Kugel, die den Schriftsteller Bettauer traf, die ihn tötete, war also nicht die Kugel eines Desperados politischer Sorte, nicht die eines Menschen, der nichts zu verlieren hat, sondern im Gegenteil, der zur Tat gewordene Ausdruck eines Lebenswillens, der ekstatisch unter den höchsten Sternen seines nationalen Himmels sich bejahen will. Wie anders konnte dieser Rothstock, dieser Ausbund nationalen Lebenswillens, wie er und seine Zeit ihn versteht, dem nationalen Geiste in seiner Brust, den stündlich neue Beispiele und des Oesterreichers Empirie „mir kann nix gschehn“ nährten, dienen, wie anders ihn bejahen, dieser neue Sand, dem kein Kotzebue widerstand, dieses für ein Publikum, das sich gern diesen Sand in die Augen streuen läßt, sistierte Mitglied einer Partei, die nach allen Kriegen der Weltgeschichte Europas leichtfertig ihres Ungeistes Schäfchen ins Trockene zu bringen suchte, sei es mit dem Morgenstern oder der Hellebarde, sei es mit dem Revolver oder dem noch druckfeuchten Bürstenabzug in der Hand, wie anders konnte er aus dem Schutt des Tempels einer ephesischen Diana dieser wohl herostratischen, nicht aber alexanderhaft großen Zeit in den verdammt falsch verstandenen Walhall seines Volkes einziehen? Dieser deutsche Knabe Rothstock, eines biederen tschechischen Hausmeisters Sohn, ein Mischblut also (was machts aus in einem Lande, da die Bielohlaweks Geschichte klittern für das Deutschtum und Tolstoi einen alten Idioten nannten, wo die Führerlisten des deutschen Nationalismus slavischer sind als die des tschechischen?), dieser Mörder hat sein Ziel erreicht, hat es vielfach erreicht: er schoß einen (wenn auch ehemaligen) Juden ab, erledigte einen Konkurrenten deutscher Zeitungsherausgeber, der bessere Ideen hatte als sie, zog in den Walhall ein und ging zu allem frei aus. Frei: im wahrsten Sinne des Wortes: frei, so frei, daß die Staatsgewalt ihn sogar noch eine Zeitlang – bis die Erinnerung an diesen Mord neuen Sensationen gewichen sein wird – mit der beliebten Schutzmarke Dementia praccox schützen wird.

         Der Mörder ist also, dem Wahrspruch der Volksrichter zufolge, unschuldig, der Ermordete aber, der fünf Kugeln im Leib hat, ist schuldig, sein Tod wurde gutgeheißen: der Mörder bekam das Absolutorium, und der Tote mag zusehen, sich einen Platz in der Erinnerung zu sichern. Und tatsächlich: Rothstock, dieser kleine erbärmliche Zahntechnikerlehrling ist unschuldig, denn er ist nichts als ein Symptom seiner Zeit, und Symptome sind stets unschuldig. Sie ausrotten zu wollen, sie allein, ohne ihrem Agens zu Leibe zu gehen, wäre der sinnlose Kampf gegen eine Hydra, deren Lebensenergie tausendfach geschützt ist. Heute heißt das Symptom Rothstock, gestern Bernhard Guidoni und morgen Leutnant v. Ixypsilon, immer aber handelt es sich um dasselbe, den Ausdruck einer Zeit, die ohne die Größe der Grausamkeit zu besitzen, verlottert ist, von dem Augenblick, da die Geschichte mit ihr schwanger ging, bis zu dem Augenblick, da eine neue Krise sie in ihrem Unrat ersäuft. Immer nur Symptom; nie kann ein Rothstock eine Individualität mit eigenen Gedanken sein, mit einer Moral, die über die seiner Zeit hinausragt, mit einer Mentalität, die erschüttert vor dem Erhabenen sich neigt, das ja jedem Menschen erschaffen ist, selbst wenn er nur ein Schriftsteller ist, der in Erotik macht (der selbst ein Symptom seiner Zeit ist). An diesen Querschnittmenschen, die nur geboren wurden, um Symptome ihrer Zeit zu sein, an ihnen bewahrheitet sich das grauenhafte, alle Hoffnung zerstörende Gesetz vom natürlichen Milieu.

         Konnten anders die Volksmänner sprechen, die eine Gesellschaft und die ihr adäquate Mentalität vertraten? Konnte anders die hohltönende Phrase von der Freiheit des Menschen ad absurdum geführt werden? Der Mensch ist frei, das Staatsgrundgesetz garantiert die Freiheit der Person und ihres Eigentums: Der Mann, der mordet, ist frei. Aber auch der, den diese europäische Zeit zum Ziel der heroischen Taten ihrer symptomatischen, wenn auch nicht sympathischen Vertreter machte, der Jude ist frei, frei wie der Vogel in der Luft: wer geschickt genug ist und dement genug, um als Symptom für sie zu zeugen, darf ihn erschlagen, um ihres Dankes sicher zu werden. Der Jude wird verbrannt. Weil Bettauer ein Judenstämmling war, ward er ans Hakenkreuz geheftet, denn der Jude, selbst wenn er dem Judentum sich zu entziehen trachtete, ist frei, vogelfrei: hefker. „Hefker!“ dieses blutaufpeitschende Wort, das uns nachgellt aus den Zeiten der lügnerischen Fahnen Isabellas, aus der Blutgosse von Mainz, aus den frumben Landsknechtsliedern derer um die Löwenherze und die Vermandoises, aus den blut- und hirnbespritzten Steinen der Altneuschul, aus Kischenew und aus der Ukraine, aus Millionen haßtriefenden Mäulern, dieses „hefker!“ ist das einzig positive Wahrzeichen dieser negativen Zeit, das wie ein Zeit- und Gestaltwandel der Idole des Westen überdauerndes Programm aussieht. Mit „Hefker! Beginnt das Intoleranzedikt, das gegen uns erlassen ward, als wir, uns treulos werdend, auf unsere Sendung im Osten verzichten mußten, und mit „Hefker!“ hebt es in dieser, wie in jeder Zeit erneut an.

         Lange gellte uns dieser Ruf in die Ohren. Unseren Vätern bekräftigte er stets aufs neue das Bewußtsein ihrer Andersartigkeit, sie, die wahren Heroen des mittelalterlichen Europa, bestärkte das scheiterhaufenaufwühlende Hefkerheulen in ihrer unendlichen Treue, – wir aber, die wir kleiner werden von Geschlecht zu Geschlecht, wir erfanden die Assimilation, um durch sie den fatalen Ruf zu parieren, um dem Zielruf des gegen uns stehenden Europa das Ziel zu nehmen. Bald aber erkannten wir, daß selbst die kleinste, erbärmlichste Zeit nicht so leicht zu übertölpeln ist, und da wir erkannten, daß der Mechanismus des Revolvers selbst vor dem Leib des Ausgetretenen nicht versagt, rückten wir langsam ab von der Assimilation. Das heißt: wir glaubten von ihr abzurücken, indem wir uns wieder auf unser Judentum besannen, ein neues positives Judentum zu schaffen trachteten, aber der Ruf „hefker“ blieb uns so in den Ohren haften, daß wir, kaum sehen wir den Schein einer Möglichkeit, von der Peripherie des Judentums wieder in sein Zentrum zurückzukehren, uns schon, scheu zwar noch, aber immerhin vernehmbar, bemühten, den so oft vernommenen Ruf selbst zu artikulieren. Schon steigt das Gespenst „wir wollen sein wie alle Völker!“ in unserer Mitte empor, schon wird der Wunsch, sich vollends an die Mentalität dieser europäischen Zeit (die ja auch die Zeit des Ford`schen Amerika ist) zu assimilieren, zum Programm bei uns. 

         Das ist die Moral, die wir, Menschen mit einem positiv jüdischen Willen, aus der Geschichte dieses Mordes und seinen Folgen ziehen können. Uns ist der Mord als solcher, ob er nun einen Juden, einen Judenstämmling oder einen Nichtjuden fällte, verwerflich. Verwerflich aber auch die Gesinnung, die ihn in die Welt setzte, verwerflich die Zeit, deren Ausdruck diese Mentalität ist. Verwerflich aber wie die Tatsache, daß wir heute das Objekt dieser Gesinnung sind, ist die Möglichkeit, daß wir morgen ihr als Subjekt unterliegen können.

         Darum statuierte uns dieser Mörder ein Exempel im negativen wie im positiven Sinn.