BIRNBAUM, NATHAN: EUROPA. EINIGE GEDANKEN AN EINEM CHANUKA-ABEND

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In: Nathan Birnbaum: Um die Ewigkeit. Jüdische Essays. Berlin: Welt-Verlag 1920, S. 174-177

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Was will man von den Hellenisten? Warum verkleinert man sie zu einfachen nationalen Verrätern? Da sie doch weit mehr sind als das: die ersten Opfer der großen europäischen Suggestion. Die ersten jüdischen Intelligenten, die sich von diesem tönenden und strahlenden Kulturkoloß verblüffen ließen. Unser aller Vorbilder, wiewohl wir es uns nicht einzugestehen lieben. Habe nicht z.B. auch ich dreißig Jahre meines Lebens Reden gegen sie gehalten und Artikel gegen sie geschrieben und war doch im Grunde ihr geistiger Enkel. Wußte es nur nicht.

Ich stelle Europa nicht in Gegensatz zum Orient. Ich weiß nicht, ob das, was der absolute Gegensatz des Europäismus ist, Orientalismus heißen darf. Vor allem weiß ich nicht, ob und welche orientalischen Völker diesen absoluten Gegensatz ebenso oder ähnlich verkörpern, wie ihn die Juden ihrer Bestimmung nach verkörpern sollen und trotz allem in ihrer Geschichte verkörpert haben. Aber das weiß ich, das mich die flammenden Worte, die eine berühmte französische Schauspielerin, Yvette Guilbert, in einem Pariser Blatte zugunsten der Türken veröffentlichte, aufrichtig freuten. Ich kann natürlich nicht nachprüfen, ob die Türken ihr Lob so ganz verdienen, aber das weiß ich, dass sie die wunderbarsten und ganz uneuropäischesten Worte fand, um die Europäer – „Barbaren“ nennt sie sie – zu geißeln. Dabei empfand ich etwas wie Neid gegen sie: Eine Europäerin, der – übrigens ähnlich, wie vielen anderen, größeren, als sie, mir fällt Tolstoi ein – diese wirbelnde Jagd nach dem funkelnden Scheine, dieses Losrasen auf ein absolutes Seelenvakuum der Menschheit, – in der Seele zuwider geworden ist! Und auf der andern Seite wir, die Söhne des Volkes der siegenden Seele, wie wir unser letztes Restchen Weltallglut aufbrauchen, um den Götzen anzubeten, den jene verwirft! Prinzen, die den Ehrgeiz haben, am Leierkasten zu drehen! Und bis zu den Chanuka-Lichtern verfolgt und der Wahn, der wüsteste Traum, den die dem Lichte entgegenschlummernde Menschheit jemals geträumt hat – das Europäertum. So haben sich’s die Makkabäer wahrlich nicht gedacht.

            Zweckvoll nennen uns unsere europäische Feinde. Wir täten nichts ohne Zweck, sagen sie, nichts um des Lebensgefühls selbst willen, nichts als stille Statisten des Weltgeschehens. O, über ihren blinden Blick und ihre Selbstüberhebung! Sie können uns noch immer nicht vergessen, was wir ihnen damals taten, als wir den großen, über alle Zwecke erhabenen Gottgedanken, das brennende, über alle Zwecke erhabene Gottgefühl, in uns auslösten und über ihre Welt hin verbreiteten: daß wir da mit unserem stillen Weltenernst ihre lauten Welttändeleien verscheuchten. Wir hätten Zwecke, sagen sie. In der engen Welt sinnlicher Wirklichkeit gewiß! Wie sie und wie andere auch. Doch mit einem Unterschiede: Keiner unserer Zwecke ist vom Geiste der zweckfreien Welt- und Gotteserkenntnis so verlassen, daß wir, wie sie, die Maske spielerischer Zwecklosigkeit vornehmen müßten, um unsere Blöße zu verdecken … Und darum liebten wir auch niemals den Krieg „um des Krieges willen“, Makkabäer aber hatten wir…

            Freilich, heute haben wir keine – so weit das Auge reicht, keine – was man sich auch als ihre Aufgabe denken mag. Woher das kommt? Zunächst daher, daß die jüdische Hingabe an das, was über allen Zwecken thront, an das Ewige und Absolute so mächtig war, daß sie selbst in die Dinge der Wirklichkeit hinüberfloß, das politische Leben ergriff und den Zwecken nur die Sphäre des Erwerbslebens ließ. Aber dabei hätte es nicht bleiben müssen. Gerade das Beispiel der Makkabäer lehrt uns von einer anderen Seite, daß eine Herstellung des Gleichgewichts, ein Kompetenzraum für das Reich der Gesamtheitszwecke möglich wäre. Ja, wenn es nur nicht jene Suggestion gäbe, von der wir sprachen, jenen wüsten Traum, der, unserer jüdischen Seele fremd, wie ein Alb uns jüdische Intelligente drückt, und tausendfach mehr uns drückt, als in jenen alten Zeiten, weil er heute auf uns allen lastet, auf den „Getreuen“ ebenso wie auf den Ungetreuen. Wie sollen aus europäisch verkrümelten Menschen „Makkabäer“ hervorgehen – Sachwalter jüdischen Geistes und jüdischer zeitlicher Kraft zugleich…?

Lächerliche, europäische Frage, ob die Makkabäer für den jüdischen Glauben oder für das jüdische Volk kämpften. Nur Europäer, diese schwachen Rohre unter dem Sturme der zweckfreien Ewigkeit und diese Helden im Kleinkram der mit Zwecken vollgepfropften Zeit konnten ihre Geschicke und Gedanke so weit laufen lassen, daß sich ihnen nun Religion und Volk (nicht etwa nur Staat, worum es etwas ganz anderes ist) voneinander zu scheiden scheinen. Für Juden aber, die es noch sind und die sich noch als solche erkennen, bleibt ewig klar, daß das Licht der Ewigkeit durch jedes Volkes Seele hindurchgeht und daß es das tiefst Auszeichnende eines Volkes ist, in welcher Farbe dort dieses Licht sich bricht, in welchem Glanze es dort erstrahlt. Also haben die Makkabäer weder für ihr Volk, noch für ihren Glauben gekämpft, sondern für etwas Einziges und Wesentliches, woraus erst durch die kleinliche analytische Teilungswut der Europäer jene zwei getrennten Begriffe und Erscheinungen geworden sind.

            Um uns ist schwarze Nacht. Aber noch brennen still und friedlich Chanuka-Lichtlein. Vielleicht birgt ihre fröhliche Feierlichkeit noch einige Hoffnung. Vielleicht besinnen wir uns doch noch alle auf uns selber und steigen auf zur Reinheit und Schöne. Und vielleicht finden auch noch einmal selbst unsere europäischen Menschenbrüder, denen wir seit den Tagen der Hellenisten nachzubuhlen nicht müde werden, die Straße, von der wir niemals hätten abirren sollen. Vielleicht… Vielleicht…

„Die Welt“ vom 13.Dezember 1912