MENZEL-POMERANZ, ROSA: DIE OSTEUROPÄISCHE JÜDIN UND EREZ ISRAEL

Zur Biographie: Rosa Menzel-Pomeranz

In: Wiener Morgenzeitung, 22.8. 1924, S. 5., Kurzfassung

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Es gibt zwei Typen derselben: die „russische“ und die „polnische“ Jüdin. Die politischen Verhältnisse vor dem Kriege, besonders die Paßschwierigkeiten seitens Rußlands nach hüben und drüben, die Unberechenbarkeiten für eines Aufenthaltes für Fremde in dem Zarenstaate, hatten die beiden großen Judengruppen Osteuropas einander entfremdet und im Laufe der Jahrhunderte ziemlich tiefgehende Charakterunterschiede gezeitigt.

Besonders die russische Jüdin bot ein Bild extremen Wesens. Entweder: schon mit 16 bis 18 Jahren ganz unwissend, geistig unentwickelt: verheiratet, in dem engen und oft trüben Bezirk des Hauses, der Familie, des Kleinstadtlebens aufgehend, keiner geistigen und sozialen Entwicklung teilhaftig. Oder: als „russische Studentin“ in den Hauptstädten des Westens heimisch – einem vertrockneten, schmachtenden Boden gleich, gierig die reichen Fluten westlicher Kultur in sich aufnehmend, wissenschaftlich gebildet, beruflich geschult, politisch – oft den extremsten Ideen Verständnis und Interesse entgegenbringend.

So die russische Jüdin.

Ein stark divergierendes Bild bietet die sogenannte „polnische“ Jüdin und speziell die „galizische“. (In Galizien, dem größten Kronlande Österreichs lebten vor dem Kriege zirka 1.000.000 Juden.)

Das kulturelle Durchschnittsniveau dieser Jüdin war ein ungleich höheres, das Streben nach Bildung in allen Frauenschichten lebendig – auch allen zugänglich. So, im Lande bleibend, hatte eben die polnische Jüdin den größten Einfluß und den hervorragendsten Anteil an dem kulturellen Aufstieg der Familie, der jüngsten Generationen.

Die polnische Judenheit war stets viel, viel schwächer in wirtschaftlicher Beziehung denn die russische und weltfremder, da das milde österreichische Regime keine Veranlassung zur Auswanderung gab, zum Hin-und-her-Fluten, und die oft weniger als bescheidenen materiellen Verhältnisse der jüdischen Masse wie des Mittelstandes Bildungsreisen und damit Weltkenntnisse und Lebenserfahrung ausschlossen.

Dagegen sorgte und strebte jede jüdische Mutter hier, ihren Kindern mehr Bildung und Wissen zu geben, als ihr selber einst im Elternhaus zuteil geworden. Die jüdischen Frauen Deutschlands nahmen reichen Anteil an der deutschen Kultur.

Daher im heutigen, wieder vereinten Polen der so ansehnliche Prozentsatz gebildeter jüdischer Frauen.

Welche war nun von Anbeginn die Stellung der osteuropäischen Jüdin zu den gewaltigen Problemen der jüdischen Renaissance?

Entsprechend den psychischen und geistigen, den politischen und wirtschaftlichen Unterschieden im Wesen und Leben dieser beiden Gruppen war die Haltung beider dem Zionismus gegenüber lange Zeit eine verschiedene. Das autokratische – und das bedeutet stets: fortschritts- und bildungsfeindliche – Rußland lastete vor allem auf dem Juden, diesem ältesten Enthusiasten für Fortschritt und Wissen. Dazu kamen seit 1882 die furchtbaren Verfolgungen. Sie fügten dem Drange nach unbehinderter kultureller Entwicklung die Sehnsucht hinzu: nach nationaler und politischer Freiheit, nach Sicherheit von Ehre und Leben, nach unbehinderter wirtschaftlicher Betätigung. Die erlösenden Worte der Pinsker, Smolenski usw. bis zu dem Donnerwort „Judenstaat“ mußten den furchtbarsten [recte: fruchtbarsten] Boden im Denken und Fühlen just der russischen Judenheit finden. Und sie fanden ihn auch! Wir alle wissen, wieviel der neue Jischuw in dem Abschnitt bis 1914 der russischen Judenheit zu danken hat. Wie viele bedeutende Führer, wie viele herrliche, jugendliche Pioniere der realen, täglichen, schweren Arbeit in Erez Israel dem großen russischen Reservoir entstammen.

Mit dem Manne trat auch die Frau – von der Jugendlichen bis zur Matrone – in die Reihen der national Gläubigen, Hoffenden, Wirkenden. Und wenn man heute überall in Erez Israel, in den bedeutendsten wie in den bescheidensten Arbeitsstellen des Landes, russische Juden und Jüdinnen antrifft, so ist die einzig richtige Erklärung für diese – manchmal leise aufreizende – Erscheinung die, daß die russischen Juden und Jüdinnen eben vor allen anderen dort waren, vor allen andern ihr seelisches, geistiges, physisches und materielles Scherflein beigetragen haben zu Jischuw Erez Israel. „Not lehrt beten“ und lehrt auch so lange vergessene oder gering eingeschätzte Güter wieder ehren und erstreben.

Die polnischen Juden kamen ein wenig später. Sie kamen mit mehr theoretischen Kultureinschlag, sie waren bedächtiger in der Auswanderung nach der historischen Heimat, weil nicht getrieben von seelischer Not, sie brachten – gemäß ihren Verhältnissen – weit geringere finanzielle Opfer für Erez. Die Einwanderung, speziell aus Galizien, war eine minimale. Die Renaissancebewegung in diesem Lande hatte ein vornehmlich geistiges Gepräge mit schwachem, praktischem Untergrund. Die Frauen schufen Vereine und Organisationen, die hebräische und Geschichtskurse einrichteten, Makkabäer- und andere nationale und historische Gedenkfeiern veranstalteten, ihre Groschen für den Nationalfonds spendeten. Die wohlhabenden Zionisten kauften, meist auf Anregung der Frauen, einen oder mehrere Dunam Boden im Vaterlande. Voila tout!

Der Krieg brachte den großen Umschwung, kehrte das Unterste zu oberst.

In dem gewaltigen Zarenreiche reduzierte sich die Judenheit auf weniger denn die Hälfte. Der schier endlose Zug russisch-jüdischer Flüchtlinge durch fast die ganze Welt gleicht einer blutigen Trasse, auf der alljährlich tausende hinsinken, um sich nicht wieder zu erheben. Ein Bild, das an die schwersten Tage des Mittelalters, an den grausigen Zug aus dem Spanien der katholischen Isabella gemahnt.

Die zweite, sich unablässig vermindernde Hälfte der Juden Rußlands hat in den letzten acht Jahren eine Hölle durchlebt, die jeder Beschreibung spottet. Sie ist leider solange – und wer weiß wie lange noch – für jede ernste finanzielle Mitwirkung am Aufbau der Heimat ausgeschaltet, sowohl infolge politischer Hemmungen wie aus wirtschaftlichen Gründen.

Dagegen tritt allmählich die Judenheit Polens auf den Plan und damit die jüdische Frau dieses Reiches.

Es sind Aussichten vorhanden, daß Polen die Bedeutung Erez Israels für die wirtschaftlichen Interessen dieses Staates richtig einschätzen wird, und damit ist auch eine freundlichere Haltung gegenüber der zionistischen Tätigkeit hier, als: Organisation, Emigration, finanzielle Hilfeleistung für das Aufbauwerk usw. gegeben. Damit ist ferner der Propalästinafrauenarbeit im ganzen Reiche ein weites Feld eröffnet. Das Bewußtsein der Pflicht ihrer historischen Heimat gegenüber mußte im Hintergrunde bleiben, solange die Nachwirkungen des Krieges (der speziell in Galizien ein zweijähriges blutiges Nachspiel fand in dem Bruderkrieg zwischen Polen und Ukrainern) die geringen materiellen Mittel, das ganze reiche Gemüt, Zeit und Kraft der jüdischen Frauen Polens in Anspruch nahm: für die tunliche Heilung der schwersten Schäden, durch Immediathilfe sowohl wie durch Schaffung von Dauerinstitutionen sozial-humanitären Charakters.

Das Dringlichste auf diesem Gebiete ist nunmehr getan und der Ausbau der einheimischen Fürsorgearbeit setzt sich quasi mechanisch fort. Die Zionistin, die Jüdin in Polen überhaupt, darf von der „Momentarbeit“ zur „Ewigkeitsarbeit“ zurückkehren. Daß sie dies redlich will, beweist der rapide Aufschwung der Spenden für Keren Kajemeth in Polen, der eben dem neu erwachten Eifer der Frauen zu danken ist.

Schon im Herbst dieses Jahres soll die organisatorische Zusammenfassung – hoffentlich aller – jüdischen Frauen Polens erfolgen, ohne Unterschied der religiösen oder sonstigen Anschauungen, für eine fruchtbringende, segensreiche Arbeit in Erez Israel.

Der feste Entschluß, die geeigneten Propagandistinnen der Idee, der Arbeitsplan, die Stimmung in der Masse unserer Frauen – alles ist vorhanden und zugerüstet, um ein neues, starkes Element dem Wiederaufbauwerk zuzuführen: die Opferwilligkeit der Jüdinnen Polens und das moralische, geistige und materielle Ergebnis dieser Bereitschaft für Erez Israel.