MOSENTHAL, SALOMON H.: DER TENORIST

 

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In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 17. Jahrgang, Ausgabe 14 vom 06.04.1877, S. 111f / Ausgabe 15 vom 13.04.1877, S. 117ff / Ausgabe 16 vom 20.04.1877, S. 126f / Ausgabe 20 vom 18.05.1877, S. 157f / Ausgabe 22 vom 01.06.1877, S. 173ff

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Tran-skription

Der Tenorist.
Novelle von S. H. Mosenthal


Besser als in manchem gedruckten Geschichtsbuche hat sich die Zeit in der Bauart der Stadt
C…. verewigt. Auf dem alten Marktplatze steht man an der Grenze zweier Jahrhunderte! Vor uns
liegt die glänzende Neustadt mit ihren regelmäßigen weißen Häusern, ihren glattgepflasterten
Straßen und freundlichen Plätzen; hinter uns, jenseits der grauen Steinbrücke, die finstere Altstadt
mit krummen, engen Gäßchen und erkerreichen Giebelhäusern. Hier streckt der verschnörkelte
Kirchthum seinen geweißten Rococokopf aus rothen Dächern hervor; dort steigt der gothische
alte aus schwarzen, hohen, ernsten Giebeln in die Höhe. Auf dem Marktplatze selbst kämpft noch
das Mittelalter mit der Neuzeit. Die letzter scheint zu siegen; schon haben sich die Eisenerker in
moderne Läden umgewandelt, die kleinen Fenster in die Länge und Breite gedehnt; auf manches
graue Steinhaus ist ein neuer weißer Stock gestiegen, und selbst den alten viereckigen Thurm des
Krankenhauses hat der Magistrat mit grünen Jalousien schmücken lassen. Aber aller Neuerungssucht trotzt das Rathhaus, das sich die Eisenerker von seinen gothischen Fenstern nicht nehmen
läßt. Ueber dem Thore ist in Stein gehauen die Inschrift zu lesen:
„Eines Mannes Red’
Keines Mannes Red’,
Du sollst sie hören beed’.“
So stehen wir hier und denken, wie in vergangenen Zeiten über diesen Platz minnigliche Mägdlein mit dem vergriffenen Gebetbüchlein in der Hand vorüberwandelten. Da wendet sich unser
Auge neugierig in einen Winkel des Marktes, der sich in einen langen Hals zu einem Gäßchen verlängert. Schwarze, alte Baraken, hie und da mit Balken gestützt, scheinen den Eingang eines Viertels zu bilden, in dem Menschen in Schmutz und Modergeruch wohnen. Das Gäßchen läuft zuerst
in engen Windungen fort, dann theilt es sich in zwei hagere Arme. Mitten durch läuft ein schmaler
Graben, in dem die Ausgüsse der Häuser münden, und so diesen Winkel mit pestartigen Gerüchen erfüllen. Die Häuser scheinen sich oben fast zu berühren und lassen keinen Strahl der Sonne, kaum ein Fleckchen Himmelsblau sehen. Die Thüren sind eng, niedrig und führen in tiefe Gänge von undurchdringlicher Finsterniß. Vor den meisten Fenstern hängen alte Kleider und Wäsche
zum Verkauf; bei anderen Häusern liegen Fleisch und Häute auf schmutzigen Bänken und vermehren die Ausdünstungen dieses jammervollen Bezirkes. Das Eckhaus, von Balken gestützt,
dem Einsturz nahe, hat ein niedriges Thor, das kaum einem aufrechtstehenden Manne den Eintritt
gestattet. Wer möchte glauben, daß dieses Haus ein Gotteshaus ist, in dem eine Gemeinde von
tausend Seelen ihrem Gotte dient? Während das Aeußere vom Moder zernagt scheint, ist im Hofe
der kleine Tempel halb aufgefrischt und wartet auf die Vollendung des neuen freistehenden Gotteshauses, zu dem ein hochherziger Fürst selbst den Grundstein gelegt hat. Es war ein Freitag
Abend im Spätherbst. Die enge Gasse schien minder unfreundlich; denn bis zu den Dächern hin1
auf waren die Fenster vom Schein der Sabbathlampen erleuchtet, Kleider und Waaren im Hause
verschlossen und Hausflur und Straße rein gekehrt. Eine bunte, summende Menschenmenge, die
am Eingange des Bethauses versammelt war, zerstreute sich langsam durch die enge Gasse über
den Markt oder verschwand in den Häusern. Nachdem die Straßen fast menschenleer geworden,
trat ein hagerer Mann, in einen Mantel gehüllt, aus dem Vorhause des Tempels.


(Fortsetzung folgt.)


Ausgabe 15 vom 13.04.1877, S. 117ff


(Fortsetzung)


Während er nach der Seite bog, beleuchtete der Widerschein einer Lampe sein bleiches Gesicht, das ein langer schwarzer Bart umrahmte; die fein gebogene Nase, das schwarze, glänzende
Auge verriethen den Italiener oder Orientalen. Der Mann eilte mit raschem Schritt durch die Gasse; Freude oder Angst schien seinen Schritt zu beflügeln. Als er die Ecke des Marktplatzes erreicht hatte, trat ihm ein zweiter, ebenfalls in einen langen Mantel gehüllter Mann entgegen.
„L’avete trovato?“ fragte dieser.
„Trovato, egli e nostro!“ antwortete der Erste, indem er den Arm des Anderen ergriff . . . . .


Zur selben Zeit, als die beiden Fremden über den Marktplatz eilen, sieht es in einem Häuschen
der engen Straße gar traulich und feierlich aus. Vom äußersten Ende eines tiefen Ganges führt
eine Wendeltreppe, an der ein abgenütztes Seil das Aufsteigen erleichtert, zu einem kleinen Zimmer im ersten Stockwerk. Die geweißten Wände sind von blendender Reinlichkeit und mit einigen
buntgemalten, in schwarzen Rähmchen gefaßten Scenen aus der Bibel geschmückt. In der Ecke
steht aus schwerem Eisen der viereckige niedrige Ofen, auf dem ein Stoß reinlicher Teller gehäuft
ist; eine wohlthuende Wärme füllt den kleinen Raum. Von der niederen Decke hängt eine siebenzackige Lampe herab, an der heute Alle sieben Flammen flackern. Ueber den viereckigen Tisch
wurde ein weißes Tuch gebreitet, ebenso über die beiden Commoden, die, aus schwarzem Holz
geschnitzt, in den Ecken des Zimmers stehen. Ein Sofa mit großblumigem Kattun überzogen, ein
alter grüner Sessel mit gepolstertem Schemel und vier Rohrstühle machen das ganze Ameublement des armen, aber freundlichen Zimmers aus. Von den Bildern, die über dem Sofa hängen,
stellt das eine einen alten Mann von patriarchalischer Schönheit mit langem weißen Barte vor, das
zweite Bild ist das eines Jünglings. Das frische Antlitz glüht von Jugend und Kraft, die Lippen
schwellen von üppiger Fülle, das dunkelschwarze Auge verräth Stolz und Sinnlichkeit; die Haare
sind von bläulichem Schwarz, in natürlichen Locken um das Haupt flatternd, das für vollendet
schön gelten könnte, wenn nicht die Nase, etwas zu groß, den Typus des Orientalen trüge. Und
doch scheint dieses Bild der Jugend dem des Patriarchen an seiner Seite zu gleichen.
Eine Frau steht neben dem Tisch, in den Händen hält sie ein großes, in schwarzes Leder gebundenes Buch, die Augen sind andächtig zum Himmel erhoben. Sie scheint 50 Jahre alt, das
bleiche Gesicht hat der Kummer vorschnell abgezehrt. Dennoch ist das zum Himmel erhobene
dunkle Auge von einer rührenden Innigkeit, von einer jugendlichen Frische. Aus der anliegenden
Haube, die die gefaltete Stirn eng einschließt, quillt auf beiden Seiten eine graue Locke hervor. Die
Hand, die das Gebetbuch hält, ist von blendender Weiße und auffallender Zartheit. Ein brauner
Ueberrock umschließt die magere Gestalt bis zum Hals, von dem eine lange weiße Krause herabfällt, die kaum gegen die blendende Weiße des Halses absticht.
Das Gebet ist beendet, sie schließt das Buch und führt es an die Lippen; dann fällt ein langer
seelenvoller Blick auf das Bild des Jünglings, die Lippen zucken wie zu einem Lächeln, die Hände
falten sich wie zu einem Segen – es muß eine Mutter sein, die für ihren Sohn gebetet hat.
Die Thür des Zimmers öffnet sich, ein Mädchen von 16 Jahren tritt ein. Ein dunkelblaues, wollendes Kleid verhüllt die erst halbentwickelten Formen. Rabenschwarze Haare legen sich schlicht
um die gewölbte Elfenbeinstirn und fallen in langen Zöpfen tief auf den Nacken hinab. Die Augen
sind von seinem Sammtbraun, offen und sinnig, die schwellenden Lippen lassen zwei Reihen
blendender Perlen gewahren.
Warum malen unsere Maler gewöhnlich die Rachel blond? Ein treffliches Modell böte sich in
diesem Mädchen dar, das jetzt eintretend der bleichen Frau mit niedergeschlagenen Augen naht
und mit sanfter Stimme sagt. „Muhme! segnet mich!“
Die Muhme legt beide Hände auf die glatten Scheitel des Mädchens, „der Herr lasse Dich werden wie Sarah, Rebekka, Lea und Rachel!“ und die bleichen Lippen drücken einen Kuß auf die
weiße Marmorstirn des Mädchens.
„Frohen Sabbath, Muhme!“ erwiederte diese und küßte die magere Hand.
„Frohen Sabbath, Hanna! aber sag’, wo bleibt er denn heute so lang?“
„Ich weiß nicht Muhme“, erwiderte Hanna. „Ich war schon am Fenster und habe hinübergeschaut, sie sind fast Alle nach Hause gegangen, selbst der alte Samuel, der sonst immer bis zuletzt bleibt.“
„Er wird mit dem Rabbiner hinübergegangen sein, er trägt ihm ja gewöhnlich das Gebetbuch
und läßt sich dafür segnen.“
„Nein, Muhme! auch der Rabbiner ist bereits hinüber, Levis Jacob hat ihm das Buch getragen.“
Die Muhme schüttelte den Kopf.
„Ihr müßt’ Euch nicht ängstigen, Muhme“, nahm Hanna das Wort; „was kann ihm denn begegnet sein? Soll ich hinabgehen und im Tempel nachsehen?“
„Nein, mein Kind! er hat es nicht gern, wenn ich ängstlich bin; gewiß redet er mit einem Freunde aus der Singschule.“
„Es kann wol sein!“ entgegnete Hanna. „Das ist ja seine einzige Freude, sein einziger Gedanke.
Ach und wie recht hat er; welche Stimme hat ihm der liebe Gott gegeben, er ist ja die Zierde des
ganzen Chors, des ganzen Tempels.“
„Mein Kind!“ antwortete die Mutter mit ernstlicher Besorgniß, „ich freue mich nicht über die
neuen Moden. Unsere Väter haben auch gute Stimmen gehabt, sein Vater, Gott habe ihn selig!
(und ihr Blick fiel auf das Bild des Patriarchen) war weit und breit wegen seiner Stimme berühmt,
und wenn er am Neujahrstag oder am Versöhnungstag sang, so war er mein Stolz und mein
Ruhm, wie es jetzt Raphael ist. Aber er hatte nie Lehrer und nahm nie Unterricht. Er hat die wehmüthigen Melodien unseres Gottesdienstes, wie sie von Mund zu Mund fortleben, einfach oder
wo es sein muß, mit Trillern und Läufen gesungen. Es war nicht der Ton, es war das Wort, nicht
die Melodie, es war das Gebet, das er sang; aber jetzt studiren sie nach Noten und singen wie in
einem Opernhaus. Hanna, mein Kind! ich rede nie mit ihm davon, mag er thun, was sein Herz ihm
sagt; aber Dir sei es vertraut, ich gehe nicht mehr zum Tempel hinab, weil mich mein eigenes Kind
nicht freut, wenn es unsere heiligen Lieder und Psalmen so künstlich zersingt und mit dem Fuß
den Tact dazu tritt, wenn es die Wunder Gottes an Israel preisen soll. Es macht ihm Freude, sie
wollen es Alle so, ich dulde es, aber mein Herz thut mir weh.“
Bei diesen Worten vernahm man Tritte auf der Stiege.
„Da ist er, Muhme!“ rief Hanna aus und eine leichte Röthe färbte die Wange höher und zog sich
über die weiße Stirne. Sie öffnete die Thür, damit der Schein der Lampe die dunkle Treppe erleuchte; ein Jüngling trat schnell ins Zimmer; wir kennen ihn bereits vom Bilde – es ist Raphael.
Ein schwarzer Rock umschloß die kräftige Gestalt bis zum Halse, um den ein schwarzes Tuch
kühn geschlungen war. Die schönen dunklen Haare flatterten um das strahlende Gesicht, Glück
und Freude blitzten aus den großen Augen. Die Mutter betrachtete mit Stolz die Züge des schönen Sohnes; Hanna war an den Ofen zurückgetreten, sie schien nach der andern Seite zu blicken,
doch in Wahrheit ruhte ihr Auge auf dem kleinen Spiegel der Wand, in dem das schöne Bild Raphael’s sich widerstrahlte. Der Jüngling warf sich auf das Sofa nieder und zog die Mutter stürmisch an seine Seite, dann faßte er die hageren Hände, hob sie an seinen Mund und drückte einen Kuß auf die Spitzen der Finger.
„Mutter, höre zu,“ begann er mit einer Stimme, die durch den schmelzenden Klang tief in die
Seele ging; „Hanna, höre auch zu, welches Glück mir begegnet ist; aber unterbrich mich nicht,
Mutter, laß’ mich ausreden, es entscheidet über das Glück meines Lebens.“
„Was hast Du, mein Sohn?“ fragte die Mutter bestürzt. Hanna trat an den Tisch, ihr schwimmendes Auge heftete sich auf die Lippen Raphael’s.
„Seit einiger Zeit schon sah ich“, begann dieser, „einen hageren Mann mit schwarzlockigem
Bart im Tempel, er fiel mir auf; denn er schien nicht zu beten, er heftete auf mich sein glühendes
Auge, ja er betrachtete mich oft durch ein Glas. Es beängstigte mich, aber ich verschwieg es Dir
immer, Mutter; denn ich kenne Deine Furchtsamkeit. Neulich redet er mich an, fragt mich um meinen Namen, um mein Alter, um meine Wohnung.“
„Weiter, weiter, mein Sohn! rief die sorgsame Mutter. „Fühle nur, wie mein Herz schlägt.“


(Fortsetzung folgt.)


Ausgabe 16 vom 20.04.1877, S. 126f


(Fortsetzung)


„Gestern Abends,“ fuhr Raphael fort, „sangen wir zum erstenmal den neuen Psalm: Komm, o
trauer Bräutigam, o süßer Sabbath komm!“ Noch sang der Chor die Anfangsstrophe, da bemerkte
ich den Mann, der mir so oft aufgefallen, sein Blick schien mich zu durchbohren. Vor Angst begann mein Herz hörbar zu klopfen; jetzt sollte ich die Solostrophe beginnen, auf die ich mich so
lang gefreut Ich zagte, ich konnte den Ton nicht finden, da hob ich mein Aug’ empor zur heiligen
Lade, eine glühende Begeisterung überkam mich und ich sang:
Steh’ auf aus der Asche, Gottesstadt,
Lang genug lagst du im Thränenthal;
Wie der Bräutigam kehrt zurück zur Braut.
So kehret der Herr zurück zu dir!“ –
„Nie sang ich so, ich fühlte es selbst; schwellend stieg das Lied aus meiner Brust, ich kannte
mich selbst nicht mehr. Mutter! Welche Wonne! Die ganze Gemeinde schaute empor, ich sah die
Wangen glühen, ich sah die Augen feucht. Da plötzlich hör’ ich eine Stimme dicht neben mir: Bravo! Bravo! ich wendete mich um, es war derselbe Mann, der mich bisher verfolgt. Wie schnitt es in
mein Herz! Bravo! Bravo! war sein Amen auf mein Lied. Der Tempel leerte sich, ich blieb zurück,
um unserm frommen Lehrer die Bibel heimzutragen. Da trat der Mann zu mir, zog mich in die Seitenhalle und“ – –
„Um Gotteswillen! Du gingst doch nicht mit!“ rief zitternd die Mutter.
„Beruhige Dich. Ich muß lachen über meine eigene Furcht; denke, der gute Mann ist niemand
Anderer als Perini, der Sänger und Operndirector. Er hat meine Stimme gehört, er interessirt sich
für mich, er will mich im Gesang selbst unterrichten, will mich zum Sänger bilden – – aber was
hast Du Mutter, Du zitterst ja?“
Wirklich hatte plötzlich Todesblässe die Röthe von den Wangen der Mutter gedrängt. Sie strich
mit der Hand über die Augen und rief: „Raphael! Mein Sohn! Welche Schlingen legen sie Dir – o
die Feinde Gottes sind listig. Raphael, Du dienst dem Tempel, halte fest an dem heiligen Ort; laß’
Dich von Versuchern nicht hinauszerren in die Welt der Verderbniß – – oder hast Du es gethan,
hast Du es ihm zugesagt?“
„Aber, Mutter, Mutter!“ rief aufschreiend der Jüngling, „wohin führt Dich Deine übertriebene
Empfindlichkeit; in welcher Zeit leben wir denn? Ja, ich habe ihm zugesagt, ich gehe morgen zu
dem großen Meister und beginne meinen Unterricht, ich habe es versprochen.“
„Ohne mich zu fragen?“ fiel die Mutter ein.
„Ja, ja,“ entgegnete der Sohn, „weil ich auf Deine Vernunft rechnete. Bin ich ein Kind? Ich bin
18 Jahre alt, und weil es denn einmal zur Sprache kommt, ich weiß, wozu mir Gott eine Stimme
gegeben, ich will was besseres thun, als vor diesem Volk singen, dem Jeder gleich ist, der seinen
Psalm herunterleiert. Ich will das gut verzinsen, das in meiner Brust begraben liegt; ich will Euch
und mich damit zu Ehren bringen; studiren will ich Tag und Nacht; ich will eine Welt begeistern mit
meiner Stimme; sie sollen auf Dich mit Fingern weisen und dabei ausrufen: „Das ist seine Mutter!“
Die Mutter schüttelte schweigend den Kopf.
„Was sagst Du, Hanna?“ fragte der Jüngling und schaute mit großen Augen das Mädchen an.
Hanna senkte den Blick.
„Ist Dir’s nicht recht, wenn ich ein berühmter Mann werde?“
„Dann wirst Du dich unser schämen“, erwiderte Hanna, und eine glühende Röthe überzog ihre
Wangen.
„Mutter!“ sprach Raphael im Tone des zärtlichen Vorwurfs, „das glaubst Du vielleicht auch?“
„Wer kann für sich einstehen, mein Sohn! Kennst Du die Versuchungen der Welt? Du wirst in
neuen Kreisen leben, in größeren Dich behaglich fühlen; warum zurückkehren in unseren engen?
Man sucht Dich, denn man braucht Dich; man wird Dich feiern, rühmen. Du wirst wohl an die alte
Mutter denken, aber mein Gott! man hat nicht immer Zeit; die alte Frau hält fest an ihren Ceremonien, sie paßt nicht mehr für die Gesellschaft, die Dich umgibt und so ziehen sie Dich fort, immer
weiter von meinem Herzen; weihen Dich ein in ihre Freuden und Genüsse; ihr Lob, ihre Liebe wird
Dir zum Bedürfniß; Du schämst Dich der Mutter, Du schämst Dich Deines Gottes, bis Du die eine
verlierst und den andern verleugnest.“
„Das wolle Gott nicht!“ rief Hanna aus.
Raphael sprang auf und trat ans Fenster; er starrte in die Nacht hinaus und trommelte mit den
Fingern auf die Scheiben.
Nach einer Pause begann die Mutter in ruhigem Tone, als ob Alles vergessen sei: „So kommt,
Kinder, zum Speisen; es ist schon spät.“
Raphael wendete sich um, sein großes Auge schwamm in Thränen; er ergriff die Hand der Mutter und küßte sie mit brennenden Lippen. Hanna deckte den Tisch und trug die Speisen auf; es
mundete Niemandem.
Der Abend verging unter gleichgiltigem Gespräch; Alle begaben sich zeitlich zur Ruhe.
In dem kleinen Kämmerchen, in dem eine Nachtlampe spärlich schimmert, sehen wir die magere Hand der Mutter leise die Vorhänge ihres Bettes zurückschieben. Sie lauscht, ob Raphael
schläft. Der Jüngling liegt im tiefen Schlummer. Die Mutter erhebt sich schnell; ich habe ihn ja zu
segnen vergessen, flüsterte sie sich selbst zu. Sie tritt zu seinem Bett und legt beide Hände auf
die glänzende Stirn des Sohnes.
Wie Gott will! flüsterte sie wieder und schüttelte das Haupt.


(Fortsetzung folgt.)


Ausgabe 20 vom 18.05.1877, S. 157f


(Fortsetzung.)


Sechs Monate später finden wir Raphael wieder – man würde in ihm kaum mehr den Sänger
der Synagoge erkennen.
In einem kleinen, mit dem feinsten Geschmack möblirten Salon steht ein herrlicher Flügel, dem
eine weiße zarte Hand Accorde entlockt, um die schmelzende Stimme eines Tenors zu begleiten.
Das Mädchen am Clavier ist von schlanker Gestalt, tausend feine Ringellocken fließen von der
hohen Stirn herab und vermälen sich mit der Sammtschwärze des enganliegenden Kleides. Die
Wangen sind blühend roth, die feinen Lippen schließen sich im Mundwinkel zu einem satyrischen
Zuge. Ein Theil der Arme und der Brust ist nackt, und sticht durch seine blendende Weiße vom
schwarzen Sammt noch mehr ab. Die feinen zugespitzten Finger schweben nur leise über die Tasten.
Der junge Tenor im eleganten Salonanzuge steht hinter ihr, seine Hand hält das Notenblatt, auf
dem sein Auge nicht haftet; denn es ist festgebannt durch die Reize seiner schönen Begleiterin.
„Warum singen Sie nicht weiter, Raphael?“ fragte die Dame und schaute empor.
„Kann ich, kann ich, Angela! wenn ich singen muß, was mein eigenes Herz zerreißt; wenn ich
singen muß, daß ich Dich liebe; wenn ich es singe mit allen Accorden meines Herzens, und Sie
kalt dabei über die Tasten streifen, und nur hören, ob ich rein intonire.“
„Aber Raphael! ich bin ja ihre Lehrerin!“
„Angela! Angela!“ rief der Jüngling mit zitternder Stimme, und das Blatt entsank seiner Hand.
„Angela! ich beneide dieses Elfenbein, über das Ihre Finger gleiten; verstehen Sie mich denn nie;
sehen Sie nicht, wie die Gluth der Liebe mich verzehrt, wie jeder Augenblick in Ihrem Lichtkreis
das Feuer meiner Leidenschaft anfacht, Angela!“
Und zwei große Thränen entstürzten seinen Augen; er ergriff hastig Angela’s Arm und drückte
die glühende Lippe auf denselben.
„Sie erschrecken mich!“ rief Angela und fuhr mit dem einen Tuch über die Wangen.
„Sie sind bewegt!“ rief er mit zitternder Stimme, „ja, ich bin Ihrem Herzen nicht mehr gleichgiltig?
„O Raphael! zwingen Sie mich doch nicht zu einem Geständniß, das ein Anderer an jedem
meiner Blicke errathen hätte; aber Sie kennen ja meine Lage. Mein Vater Perini liebt in seinem
Kinde nur das Talent. Ich bin Sängerin; meine Studien haben viel gekostet; er betrachtet mich als
ein Capital, das er verzinst. Wie wird er es aufnehmen, wenn mein Herz sich an Sie gebunden, ehe
Ihre Carrière unsere Zukunft sichert. Die Zeit naht heran, wo Sie zum erstenmal vor unser Publikum treten sollen. Studiren Sie ruhig fort; bezwingen Sie die Leidenschaft, die nur die Feindin ihrer
Liebe ist. Seien Sie ein Mann. Kein Wort mehr zwischen uns von Liebe; wir wollen in unserm Studium ruhig fortfahren. Fällt Ihr Debut gut aus, wie wir es hoffen, dann dürfen Sie mit meinem Vater sprechen.“
„Kann ich denn, kann ich denn,“ seufzte Raphael, „ein Gefühl zum Schweigen bringen, in dem
sich meine ganze Seele aufgelöst?“
Und von Neuem drückte er seinen Mund auf ihrem Arm. Angela zog den Arm zurück, da umschlang mit wildem Ungestüm der Jüngling den schlanken Leib der Sängerin, zog sie an seine
Brust und drückte sein lockiges Haar auf ihre Schulter. „Laß mich im Kuß vergehen“, rief er aus,
und Kuß auf Kuß entperlte seinen Lippen.
Ein Schrei entfuhr der Sängerin. Raphael wendete sich um, ein Zeuge war unvermerkt eingetreten, es war Perini.


Ein spöttisches Lächeln flog über das gelbe Frauengesicht des Italieners. Raphael stand
stumm, die Augen zu Boden geheftet; Angela schien verlegen, nur der aufmerksamste Beobachter hätte bemerkt, wie sie dem Vater mit einem flüchtigen Blick ein Zeichen des Einverständnisses
zu geben schien.
„Fleißig im Studium? Raphael!“ rief Perini, indem er die ganze Scene zu ignoriren schien.
Raphael zauderte mit der Antwort; es schien ihm verächtlich, seine Liebe zu verleugnen. Er trat
zu Angela und faßte ihre Hand, indem sein dunkles schwimmendes Auge zu ihr emporblickte.
„Gedenken Sie Ihres Versprechens“, sprach Angela mit lispelnder Stimme und entzog ihm die Hand.
„Sie müssen sich beeilen,“ nahm Perini wieder das Wort, „der Tag des Auftretens rückt näher.
Die Vermälung der Prinzessin soll in zehn Tagen gefeiert werden; man verlaugt den „Robert“ und
ich versprach ihn zu geben. Angela singt die Prinzessin, ich den Bertram, eine junge Sängerin aus
Wien debutirt als Alice. Auf Sie baue ich, denn nicht nur Ihre, auch meine Ehre hängt von diesem
Erfolg ab. Ich habe dem Fürsten für Sie garantirt. Es ist wahr, Sie haben außerordentliche Fortschritte gemacht; ich zweifle nicht an dem Gelingen, wenn Sie ernsthaft bei Ihrem Studium blei7
ben. Das haben Sie mir gestern versprochen. Sie wollen mir Ehre machen, Raphael, gedenken Sie
des gestrigen Abends und der zehn Flaschen, denen wir den Hals gebrochen.“
„Sie erinnern mich auf delicate Weise an meine Schuld“, antwortete der Tenorist, indem er einen vollen Beutel aus der Tasche zog; „nehmen Sie hier, was Sie gestern im Spiel verloren.“
„Wie, Sie spielten?“ fragte Angela.
„Nur um die Zeit zu vertreiben,“ erwiderte Perini, „fließt ihm nicht das Gold reichlich zu, seitdem er den Contract mit der Hofopfer abgeschlossen? Allegro, Raphael – Gold ist nur Chimäre –
schnell, und Du, Angela, begleite ihn.“
Mit gewaltiger Stimme begann Perini das Lied, während Angela’s Finger über die Tasten flogen.
Die bleichen Wangen Perini’s überzogen sich purpurroth, die Adern seiner Stirne schwollen auf
und seine kleinen schwarzen Augen blitzten.
Angela schlug den Accord des Duetts an, worin Robert mit dem Zauberzweig die zitternde Isabella umfaßt. Welche Töne, welche Gluth in Raphael’s Stimme! Angela sah ihn mit durchbohrendem Blick an und stimmte in das Duett mit reiner, wiewohl etwas schneidender Stimme ein. Perini
weidete sich an dem Schauspiel; nie hatte ein Robert, nie eine Isabella reizender, glühender, rasender gesungen. Mit der Linken hielt Raphael den Schwanenhals des Mädchens umfaßt, die sich
abwehrend zurückbog; mit der Rechten zum Himmel erhoben, schien er den Zauberzweig wie einen Blitzstrahl zu halten, ein Blitzstrahl selbst – sein glühendes Auge. Das Duett ging zu Ende, die
Sänger, wie aus einem Traum erwacht, schwiegen erschöpft und blickten sich schweigend an.


(Forts. folgt.)


Ausgabe 22 vom 01.06.1877, S. 173ff


(Fortsetzung und Schluß)


„Bravissimo! Bravissimo!“ donnerte Perini dazwischen, „Rafaele, mein Freund, Du bist ein gemachter Mann! Du mußt mit mir nach Neapel; 10.000 Scudi sind Dein für eine Stagione – forderst Du mehr?“
Auf ein Zeichen Angela’s sprang Raphael auf seinen Meister zu und sein Mund stotterte verwirrt das Wort: Sie!
„Noch eine Probe“, erwiderte Perini, „entspricht die Oper dem heutigen Versuche, ist Angela Dein.“
„In diesem Augenblick zog eine Hand die seidenen Vorhänge der Glasthür zurück, ein Diener
trat ein Signore Rafaele, eine Dame wünscht Sie zu sehen, und bringt wichtige Nachrichten.
„Jetzt nicht“, rief Angela schnell.
„Das Mädchen“, nahm der Bediente das Wort, „läßt sich nicht abweisen.“
„Sie warte im Nebenzimmer“, erwiderte Raphael.
Der Bediente verschwand. Einige Momente später sehen swir durch die Glasthür ein Mädchen
in einfacher Kleidung schüchtern eintreten. Es ist Hanna. In dem kleinen Zimmer, das mit purpurrothen Tapeten bedeckt ist, werden auf dem der Thür gegenüberstehenden Camine die silbernen
Armleuchter angezündet. In dem Salon ist es allmälig finster geworden, man kann von dem hellen
Zimmer aus nicht bemerken, was in dem dunklen Salon vorgeht.



Raphael, der, ohne die Eintretende zu bemerken, berauscht ein Glück aus Angela’s Auge einsog, hielt noch immer die Hand des Mädchens gefaßt. Sie lächelte mit ihrem süßesten Blick dem Jüngling zu.
„Hab ichs recht gemacht“, nahm Perini kichernd das Wort; freilich setzte er hinzu: „Du weißt,
Rafaele, mein Sohn, daß unsere Kirche ein Bündniß nicht gestattet, so lange ein Unterschied der
Religion besteht. Was mich und mein Kind betrifft, wir fragen nicht nach solchen Lappalien; Jud
und Türk ist uns gleich; aber das Gesetz will es. Du machst Carrière mit einem Schritt – von der Taufe zur Hochzeit.“
Bei dem Worte Jude überzog Purpurgluth das Gesicht des Jünglngs und seine Lippen begannen zu zucken. Ein kalter Schauer erfaßte ihn plötzlich, er wendete sich, um nach der Thür zu
schauen; hier aber bot sich ihm ein Bild dar, das alle seine Nerven erzittern machte. Der reich beleuchtete, von Säulen getragene Camin glänzte wie der Altar eines Tempels und davor stand Hanna in ein weißes Tuch gehüllt. Die Hand, die sie eben aufhob, die Klinke der Thür zu erfassen, schien ihm zu winken.
Ein Schrei preßte sich aus seiner Brust. Die Stimme versagte ihm, er stürzte hinaus und stand
vor dem zitternden, schüchternen Mädchen. – In diesem Augenblicke nickte der Italiener seiner
Tochter zu, nahm ihre Hand und flüsterte mit zufriedenem Lächeln: „hai fatto bene le tue parti!“
„Gottlob, daß Du da bist“, rief Hanna ihm entgegen und holte tief Athem; die Angst, die
Schüchternheit hatte sie fast der Stimme beraubt.
„Was hast Du, Hanna? Du bist so bleich!“
„Ich bringe auch keine gute Nachricht. – die Muhme ist krank, sehr schwach!“
Meine Mutter!“ rief Raphael mit herzzerreißendem Tone und sank in einen Lehnsessel.
„Beruhige Dich, Raphael! Es ist nicht so arg. Als Du das letzte Mal, vor acht Tagen, bei uns
warst und die volle Börse brachtest, da war sie noch so froh, so wehmüthig froh, und als Du fort
warst, sprach sie lange von Dir und weinte. Noch in derselben Nacht bekam sie heftiges Herzklopfen und gegen Mitternacht trat Schwindel und Bluthusten ein. Ich suchte Dich von Tag zu Tag
und traf Dich nicht. Heute Nacht hat sich der Anfall wiederholt; ich bin zum Doctor gelaufen, der
bei ihr sitzt und habe Dich gesucht, denn sie ist schwach und verlangt nach Dir.
Raphael drückte die Hände vor das Gesicht.
„Du warst nicht zu Hause“, fuhr Hanna fort, „da sagte man mir, – vielleicht träfe ich Dich – hier!“
Stotternd hatte sie diese letzten Worte gesprochen, ihre Wangen glühten; sie hatte ja Angela’s
Stimme vernommen.
„Hanna!“ rief endlich der Sänger, „und meine Mutter flucht mir?“
„Wie Du nur so reden kannst“, erwiderte Hanna, „Du bist unwohl, ruhe Dich aus! aber Du
kommst doch heute noch?“
„Nein, nein!“ rief Raphael, „nimm diese Börse, kaufe, was Du brauchst: Erfrischung, Arznei.“ –
Er suchte vergebens nach der Börse; er hatte sie dem Italiener für die Spielschuld gegeben.
Suche nicht danach, Raphael“, nahm Hanna mit sanftem Tone das Wort. „Ach! es ist nicht
Geld, was uns fehlt.“ Ein zarter Vorwurf lag in dem Ton, eine Thräne trat in das Auge des Mädchens.
In diesem Augenblicke trat Angela durch die grünen Vorhänge der Thüre.
Vor dem Anblick der hohen Gestalt schreckte Hanna zurück; sie sah, wie die Italienerin die
Hand Raphael’s ergriff, wie er vor der Berührung erbebte – da brach die Knospe, die lange im verschwiegenen Traume gelegen, auf, ein glühender Strahl fuhr in das Herz des Mädchens. – Noch
einen wehmüthigen Blick warf sie auf den geliebten Genossen ihrer Kindheit, dann verschwand
sie. Angela ergriff die Hand Raphael’s und versuchte, ihn in den Salon zurückzuführen.
„Laß mich, laß mich, Angela!“ rief bebend Raphael.
„Wer war das Mädchen? Böser!“ rief schmollend die Italienerin.
„Du sollst Alles wissen; aber laß mich, ich muß fort –“
„Ist das Deine Liebe?“ lispelte Angela und wendete das Haupt.
„O Angela!“ stammelte Raphael und zog sie in seine Arme.
Der Vorhang entglitt ihrer Hand, ein verschwiegenes Dunkel umgab das Paar.
Und hätten alle Engel des Himmels ihm fortgewinkt, er wäre geblieben – machtlos, besinnungslos umklammerte er das schöne Weib, das in den purpurnen Lehnstuhl sank und verbarg
sein glühendes Haupt in ihrem Schoß.


Seit Jahren hat das Theater der Stadt C . . . keine glänzendere Versammlung gesehen, als an
diesem Abend. Karawanen pilgerten über den Markt zu den Säulenhallen der Oper. Nicht nur der
Hof, der mit der neuvermälten Prinzessin und dem fremden Gefolge heute zu sehen war, auch das
erste Auftreten des jungen Tenoristen zog Menschenströme in das Theater. Bald waren alle Räume gefüllt, Kopf an Kopf drängte sich – der Hof trat ein, rauschender Empfang begrüßte ihn –
nach und nach kam das brausende Meer zur Ruhe; ein Zeichen im Orchester, die Ouverture beginnt. Raphael weilte an Perini’s Seite, namenlose Angst trieb ihm das Blut gegen das Herz, selbst
unter der Schminke schien er todtenblaß; Secunde um Secunde zerrann, Freunde und Neider mit
frommen Wünschen umsausten ihn, Angelica selbst sah er nicht, sie war noch in der Garderobe.
Plötzlich tritt die fremde Sängerin aus Wien in dem einfachen blauen Kleide Alicen’s aus der Coulisse. Er hat sie bei der Probe in Angelica’s Nähe nie eines Blickes gewürdigt, jetzt betrachtet er
das ovale Gesicht, die lang herunterfallenden Zöpfe, das dunkle Auge – Hanna! Welche Aehnlichkeit mit ihr, sonderbares Spiel des Zufalls. Er eilt auf sie zu, er will fragen, forschen; das Zeichen
im Orchester schneidet ihm das Wort ab, die Bühne wird leer, mit gepreßtem Herzen tritt er hervor
auf die Bretter, ein Blick durch den Vorhang und schwindelnd sieht er ein wallendes, wogendes
Meer von Köpfen; er tritt zurück – immer nach Hanna’s Gestalt den Blick sendend. Jetzt läutet die
Glocke, es ist das Armensünderglöckchen des Geängstigten; der Vorhang fährt rauschend in die Höhe.
Wie beim Treibjagen tausend Rohre auf das gehetzte Wild, so richten sich tausend Gläser auf
den Debutanten und jedes Antlitz lächelt. Die schöne, edle Gestalt im mittelalterlich goldgestickten braunen Sammtkleid, die Locken, die natürlich um die gewölbten Schläfe fallen, der feine Bart
über der schwellenden Lippe – – ein schönes Bild! Der Chor beginnt, Perini reicht Raphael einen
Becher dar; der Wein ist das Leben, der Wein ist die Luft – belebendes Feuer durchrieselt die
Adern des Jünglings – voll Adel, voll Kraft tritt er vor und singt so männlich, so zart, so innig, so
glockenrein. Den ersten Accorden folgen die ersten Bravos. Perini faßt seine Hand, Begeisterung
füllt den jungen Sänger; er vergißt die Bühne, jede Bewegung ist Leben, ist Natur!
Aber plötzlich überzieht eine weiche Melancholie die Züge Raphael’s; Alice tritt herein; die
Züge der Sängerin rühren ihn tief, er hat ja Hanna’s unterdrückte Thränen wohl gemerkt, er hat sie
verstanden. Wie eifrig er bemüht ist, Alice zur Seite zu ziehen und zu fragen: „Wer bist Du, mein
Kind, was bringst Du?“
„Einen Brief der Mutter!“ singt Alice.
Raphael fährt mit der Hand an’s Herz, da reißt ihn Perini fort zum Spiel, zum Wein; ha, das Gold
ist nur Chimäre! ruft die wohlbekannte Stimme, und zieht den schwankenden Jüngling hinein den Taumel der Luft.
Ein rauschendes „Bravo!“ ertönt durch den Saal, nie hatte ein „Robert“ so gespielt, so natürlich
gesungen. Auch Angela war heute bezaubernd schön, als Robert mit dem Zauberzweig in der
Hand die schöne Gestalt umschlang, als sie, die schöner als je, zu seinen Füßen um Gnade flehte,
und er dann, besiegt von der Angst der Schönen, den Zweig der Kraft zerbrach. Wie ein elektrischer Strom sich Tausenden mittheilt, so wirkte die Begeisterung der Sänger auf das jubelnde
Publicum. Der Vorhang des vierten Actes fiel. Perini hielt den gefeierten Jüngling in seinen Armen
– Angela ist Dein! rief er dem Glücklichen zu
In diesem Augenblick trat Alice leise hinzu. Raphael fuhr auf, wendete sich nach der andern
Seite um, aber – war es ein Bild der Hölle – Hanna, eine zweite Hanna schien zitternd, todtenbleich in den Coulissen zu stehen, ihm zu winken. Ja, sie ist es, es ist nicht Alice; er eilt auf sie zu.
Sie findet keine Worte.
„Verzeih’ mir!“ stammelte sie endlich, „man führte mich hieher. Die Mutter liegt im Sterben!“
Hanna enteilt, er will ihr nach; Perini hält ihn zurück, die Glocke läutet.
„Um Gotteswillen, haltet ein!“ bebt Raphael, „ich kann nicht mehr!“
Man zögert, das Publicum wird ungeduldig.
„Du mußt“, schreit Perini, „Unglücklicher! Willst Du mich zugrunde richten?“ Er winkt.
Der Vorhang rollt empor; es ist die Halle eines Tempels. Bleich, zitternd steht Robert da und
schaut zu dem Altar empor. Er sieht Angela, ein Fremder führt sie zum Altar; es rührt ihn nicht, er
starr lautlos hinaus. Jetzt naht Perini. Schauder ergreift den Jüngling; er ahnt es, es ist der Verführer, der ihm sein Glück stahl.
„Laß mich!“ ruft er ihm bittend zu.
Da erfaßt ihn Perini, er umklammert ihn, flüstert ihm ins Ohr: „Du verlierst Angela! Du richtest mich zugrunde!“
„Mein Sohn! laß’ trostlos mich nicht sterben! Umsonst sucht Robert sich zu ermannen. Da erscheint Alice; er eilt auf sie zu.
„Höre der Mutter Wort!“ ruft sie. „Mein Sohn, die Mutterliebe kann nicht sterben!“
Verzweifelnd ringt Robert, er windet sich aus den Armen Perini’s; er singt, was er mechanisch
gelernt, mit herzzerreißendem Schmerz, mit erschreckender Wahrheit. – –
Das Publicum starrt mit zurückgehaltenem Athem das Schauspiel an, diesen Kampf zwischen
Mensch, Engel und Teufel. Ist es Perini, ist es Raphael? Nein, es ist Robert und Bertram und der
rettende Engel, der im Namen der Mutter den Sohn aus den Händen der Verführers reißt. „Großer
Gott“, ruft sie aus, und stürzt auf die Knie, „errette Du ihn!“
Horch, da ertönt die Orgel, der Chor beginnt. Raphael kennt ihn, kennt die heiligen Accorde
des Tempels. „So hört’ ich es einst in meiner Kindheit Tagen, wenn die Mutter mit mir betete!“
Thränen erstickten seine Stimme, Thränen füllten die Augen des Publicums.
„Süße Harmonie des Himmels! ja es ist Gott selber, der zu mir spricht.“
Mit gefalteten Händen sinkt Robert zusammen; Bertram stürzt in den Abgrund der Hölle; langsam senkt der Vorhang sich.
Jetzt brach der Jubel der betäubten, erschütterten Menge in laute Wonne los; aber der Vorhang hob sich nicht; das Publicum verdoppelte seinen Beifall umsonst – endlich rollt der Vorhang
empor; Perini tritt hervor.
„Das hochverehrte Publicum entschuldige den Tenoristen, eine Ohnmacht hat ihn ergriffen.“
Er hatte die Stimme der Kindheit nicht umsonst gehört; er fand seine Mutter wieder und seinen Gott!