SZÁNTÓ, SIMON: DER GALIZISCHE AUSGLEICH

 

Zur Biographie: Simon Szántó

In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 12. Jahrgang, Ausgabe 13 vom 29.03.1872, S. 145f

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Getreu unserm ursprünglichen Programme, welches die Geammtheit der Juden nur als Religionsgenossenschaft, aber nicht als Nationalität im politischen Sinne des Wortes bezeichnet haben will – vermieden wir es stets ein solidarisches Vorgehen in großen Staats- und Verfassungsfragen zu befürworten. Wir verlangen keine Parteidisciplin, welche die freie Meinung des Bürgers den Tendenzen der Klique zum Opfer bringt, wir wollen nicht, daß der Jude, als Jude seinen Bürgersinn bethätige. Möge jeder aus unbeschränkter Selbstentschließung sich jener politischen Fraktion zugesellen, deren Streben seinen Neigungen und Anschauungen entspricht – denn die Einheit des Judenthumes besteht nur in der Gemeinschaft des religiösen Glaubens. Wenn aber, wie dieß heutzutage deutlicher als je hervortritt, die Politik auch keine Sphären des moralischen Lebens ergreift, wo Kirche und Staat ihre unaufhebbaren Berührungspunkte haben – dann ist es des Juden Pflicht, auch die Stellung seines Bürgerthumes zu den Prinzipien seines religiösen Bekenntnisses in Erwägung zu ziehen. Uns ist es Bedürfniß die freie Kirche im freien Staate zu fördern, unsere vitalsten Interessen hängen von der Selbstständigkeit dieser beiden Faktoren ab, und um den Staat und die Kirche von einander zu emanzipiren, fangen wir zuerst mit uns selber an, tren- nen in uns selber den Juden von dem Bürger und verhüten es, daß nicht der eine in dem andern aufgeht. Um unser Bürgerthum frei vom Judenthume zu erhalten weisen wir den Gedanken einer jüdischen Politik zurück und lehnen auf das Entschiedenste jede Zumuthung ab, unsere konfessionellen Interessen mit einer politischen Meinung zu identifiziren. Aber einen ebenso unerbitterlichen Widerstand müssen wir einer Politik bieten, welche durch ihre Zwecke oder durch ihre Mittel die sie erwählt, den Menschen oder den Juden in uns bedroht – und in dieser sehr peinlichen Lage befinden wir uns gegenüber der poln. Resolution und den Tendenzen nach Erweiterung der galizischen Autonomie. Denn die Art wie bisher in Galizien gegen die Juden verfahren wurde, ist einmal nicht geeignet, uns außer Sorge um die Erhaltung der durch die Verfassung gewährten Errungenschaften zu setzen, wenn einmal den Polen ein Selfgouvernement verliehen würde. Die Gleichberechtigung, die Gewissenhfreiheit sind uns nicht blos materielle Güter – sondern Gegenstände religiöser Verehrung, Correlate unserer moralischen Weltanschauung. Der Jude sieht sich nicht nur in seinen Menschenrechten, in seiner irdischen Existenz bedroht, wenn ihm diese Güter gefährdert werden, sondern in seinem religiösen Bewußtsein, in seinen ethischen Prinzipien gekränkt. Wer uns diese Parität streitig macht, der vergreift sich an unseren Heiligthümern selbst. Ist aber in Galizien, wenn es einmal seine Resolution verwirklichen sollte, auch nur die geringste Aussicht vorhanden, daß die Juden nicht die ersten Opfer sein würden, welche der Autonomie zum Raube sein würden? Haben etwa die galizischen Gemeinden, die sich doch bereits der freiesten Communalverfasung erfreuen nicht genug Gelegenheit geboten, die Tendenzen dieser Race näher kennen zu lernen? Oder sollen die Juden aus der Neigung der Polen für den Ultramontanismus

Hoffnung auf bessere Zeiten schöpfen? Oder gewährt uns etwa der Kultur-Zustand Galiziens irgend eine Garantie gegen Rechtsbedrückungen? Haben die galizischen Behörden nicht gerade auf diesem Gebiete ihrer Willfährigkeit, dem Obskurantismus Vorschub zu leisten, am eifrigsten kundgegeben? In welchem Kronlande Oesterreichs wird der Fanatismus der Chassidäer, die Renitenz gegen Schulbildung, das Gelüste des wildesten Vandalismus in so ostensibler Art von Oben herab begünstigt wie in Galizien? Und stimmen die Vertreter Galiziens im Abgeordnetenhause nichts stets mit der Reaktion, ja mit jenem Systeme, das Niemand so schwer wie die Juden bedrückt? Man wende uns nicht ein, daß die Reaktion nur ein Mittel sei, welches vom nationalen Zwecke geheiligt werde. Als Juden bekennen wir uns einmal nicht zu der Moral, daß irgend ein Zweck heilig genug sei, ein verwerfliches Mittel zu heiligen, abgesehen davon, daß wir kein Kriterium besitzen, zwischen Zweck und und Mittel, Ursache und Wirkung zu unterschreiben. Benehmen sich etwa die Herren so, daß man ihre Reaktion und ihren Ultramontanismus als bloßes Mittel und nicht vielmehr als Selbstzweck erkennen kann? Wir glauben darum nicht, daß die Juden in dieser Frage sich passiv verhalten und wie bisher eine Reserve auferlegen dürfen. Es ist an der Zeit, daß sie ihre Treue an der Verfassung offen bekennen und im gesetzlichen Wege, sei es durch Petitionen in Verbindung mit den Ruthenen und der ländlichen Bevöllkerung, die den Schlachzitzen auch kaum geneigt sein dürfte, sei es durch irgend eine andere erlaubte Massenkundgebung für die Dezember-Charte zu demonstriren. Die Abgeordneten Grocholski und Zyblikiewicz haben im Verfassungsausschusse die Erklärung abgegeben, daß die jüdische Bevölkerung Galiziens mit der Resolution einverstanden sei. Woraus die beiden Herren ihre Kenntniß von der Gesinnung der Juden schöpfen, wissen wir natürlich nicht. So weit uns ein Einblick in die dortigen Verhältnisse gestattet ist, haben sich die Juden noch gar nicht über diesen Punkt geäußert. Nehmen sie nun die Erklärung der beiden Abgeordneten, die ihnen doch aus der Tagespresse bekannt sein muß, stillschweigend hin, so wird man ohne Zweifel dieses Schweigen für Zugeständniß nehmen und daraus Konsequenzen ziehen, die gewiß nicht in den Intentionen derer lagen, die bisher aus ihrer Reserve nicht herausgetreten sind. Wir glauben daher, daß die Lemberger Judenschaft als die Vorortsgemeinde sich aufgefordert fühlen müsse, zuerst mittelst Rundschreiben an die Vorstände der Provinzialgemeinden Erkundigungen über die wahre politische Gesinnung ihrer Glaubens- und Vaterlandsgenossen einzuholen und das Ergebniß ihrer Erhebungen, falls es dahin ausschlägt, wie wir es vermuthen, im geeigneten Wege zur Kenntniß des Abgeordnetenhauses und des Ministeriums zu bringen. Die gegenwärtigen Parlamentsferien können dazu leicht benützt werden, ein sehr erschöpfendes und eingehendes Memorandum vorzubereiten und es endlich klar zu machen, ob die Herren Zyblikiewicz und Grocholski wirklich gut über die Meinung der dortigen Juden unterrichtet waren oder ob sie – was wir noch immer annehmen wollen – in einem Irrthum sich befanden. Es steht viel, sehr viel auf dem Spiele; die Passivität in dem gegenwärtigen Momente ist nichts weniger als berechtigt – sie wäre eine schwere Sünde, die nicht nur an Kindern und Kindeskindern, sondern an noch späteren Geschlechtern geahndet werden könnte.