VERTLIB, VLADIMIR: DIE AMBIVALENZ DER DIASPORAGEFÜHLE
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In: Das jüdische Echo. Vol. 59, 2010/2011, S. 134-137 [mit freundlicher Genehmigung des Autors]
Möchte jemand bei einer öffentlichen Stellungnahme Aufmerksamkeit erregen, braucht er, ganz gleich, welche Meinung er vertritt, nur auf die Reizwörter „Asyl“ oder „Zuwanderung“ zurückzugreifen und diese mit ein paar weiteren Reizwörtern – wie zum Beispiel „Islam“ und „Kriminalität“ – zu kombinieren. Ob in Zeiten des Wohlstands oder der Wirtschaftskrise, das Ausländerthema zieht immer. Es gilt dasselbe wie für den Nahostkonflikt: Jeder hat eine Meinung, und jeder Zweite glaubt, ein Experte zu sein.
Eine Gruppe, über die in diesem Zusammenhang vergleichsweise wenig gesprochen wird, sind die jüdischen Zuwanderer aus der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten, die in den letzten Jahrzehnten nach Österreich und – in einer viel größeren Zahl – nach Deutschland zugewandert sind. Diese „Milde“ hat nichts oder nur zu einem geringen Teil damit zu tun, dass es sich um Juden handelt. Angehörige anderer Migrantengruppen, zum Beispiel Moslems, entsprechen viel stärker dem zurzeit in unserer Gesellschaft vorherrschenden Feindbild. Wären die russisch-jüdischen Zuwanderer mehrheitlich orthodox, lebten sie – wie in Teilen Brooklyns oder im Jerusalemer Viertel Mea Shearim – in einer archaischen Gegenwelt zur Moderne, wo Männer mit Pelzmützen und schwarzen Mänteln und Frauen mit Perücken das Straßenbild prägen, sähe die Sache anders aus. Die meisten der sogenannten „Kontingentflüchtlinge“, also die nach Deutschland zugewanderten Juden, waren bereits in der Sowjetunion assimiliert und definierten ihre jüdische Identität nicht religiös, sondern allenfalls historisch, als Zugehörigkeit zu einer Schicksalsgemeinschaft. In Deutschland sind diese Migranten in erster Linie durch ihren russischen Akzent und Tonfall, nicht aber durch ein „abweichendes Verhalten“ auffällig. Es gibt Einheimische, die nicht einmal wissen, dass es nach der Wende eine jüdische Zuwanderung nach Deutschland gegeben hat.
In Österreich sieht die Sache ein wenig anders aus. Die jüdischen Zuwanderer stammen zu einem großen Teil aus den Randgebieten der ehemaligen Sowjetunion – aus Georgien, Aserbaidschan oder den Ländern Zentralasiens, Moldawien oder dem Baltikum. Viele von ihnen sind religiös, was ein klareres Selbstverständnis als Juden und als Teil der jüdischen Diaspora außerhalb Israels mit sich bringt. Doch auch sie entsprechen weder durch ihre Kleidung noch durch ihr Verhalten dem gängigen „jüdischen Klischee“. Einige werden als weitgehend integrierte und somit sympathische „Orientalen“ wahrgenommen, und letztlich fallen sie in Österreich als eine relativ kleine Gruppe von ein paar tausend Personen auch im Zuge der zahlreich geführten Ausländer- oder Asyldebatten nur wenig ins Gewicht.
Was über die Zuwanderer der ersten Generation gesagt wurde, gilt im Wesentlichen auch für deren Kinder. Die heute Zwanzig- bis Dreißigjährigen haben meist schon das deutsche oder das österreichische Schulsystem durchlaufen, ein Studium oder eine andere Form der weiterführenden Ausbildung gemacht und sich weitgehend in die deutsche bzw. die österreichische Gesellschaft integriert. Damit entsprechen sie jenem Bild der „anständigen und braven“ Migranten, dessen sich rechte Politiker gerne bedienen, wenn sie ihre Ausländerfeindlichkeit zu verschleiern versuchen. Gleichzeitig strahlen die „jungen Russen“ durch ihre Herkunft, ihre Mehrsprachigkeit und ihre Teilhabe an einer anderen (der jüdischen, vor allem aber der russischen) Kultur jenen Hauch der Fremde aus, der liberal denkenden Einheimischen die Illusion verschafft, in einer multikulturellen Gesellschaft zu leben. Die jungen russischen Juden irritieren weniger als arbeitslose türkische Jugendliche oder kopftuchtragende Frauen. Die gelungene Integration ist jedoch keineswegs der (alles andere als erfolgreichen) „Integrationspolitik“, sondern hauptsächlich der Tatsache geschuldet, dass die Kinder der jüdischen Zuwanderer aus der Sowjetunion nicht – wie zum Beispiel die Mehrheit der türkischen Gastarbeiterkinder – aus „bildungsfernen“ Schichten stammen. Den Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen, gehört bis heute zum Selbstverständnis sowjetischer Juden, egal ob es sich um streng religiöse Sepharden aus Buchara oder Tbilisi handelt oder um Zuwanderer aus Moskau, die keinen Bezug mehr zur Religion ihrer Vorfahren haben.
Die überwältigende Mehrheit aller Juden in Deutschland sind Kontingentflüchtlinge aus der GUS. Mehr als die Hälfte aller österreichischen Juden stammt ebenfalls aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Ob die jungen „Russen“ den Kern eines neuen deutschen sowie österreichischen Judentums bilden? Wahrscheinlich. Zum Wesen und zur besonderen Geschichte des Judentums gehört es, dass schon die Herkunft allein Zugehörigkeit schafft und eine emotionelle Bindung über Landes-, Sprach- und Kulturgrenzen ermöglicht.
Leben mit der Mehrfachidentität
Weder Österreich noch Deutschland verstehen sich als Einwanderungsländer. Kindern russisch-jüdischer Emigranten, die in andere Länder ausgewandert sind, fällt es sicher leichter, sich als Israelis, Amerikaner oder Kanadier zu fühlen. In Deutschland wird zwar hin und wieder vom kulturellen Mehrwert einer Mehrfachidentität geredet (in Österreich geschieht sogar dies nur selten), die Vielfalt kultureller Zugehörigkeiten und historischer Erfahrungen wird jedoch noch keineswegs als selbstverständliches Merkmal einer modernen Gesellschaft angesehen. Junge Migranten, denen suggeriert wird, ihr Anderssein werde bestenfalls toleriert, sie würden – egal, wie sie sich verhielten – nie zur Gänze dazugehören, vielmehr sei ihre Existenz die Ausnahme von der Regel, tendieren dazu, die Prägungen und Ängste ihrer Eltern zu übernehmen und in die Zukunft zu tragen. Um die Identifikation mit der nichtjüdischen Umgebung bei gleichzeitiger Distanz und latenter Angst ertragen zu können, sucht jeder seinen eigenen Weg. Die meisten haben gelernt, die Ambivalenz ihrer Identität anzunehmen, zumal sie seit ihrer Kindheit ohnehin nichts anderes kennen. Einige definieren ihr Judentum neu und kehren nach einem säkularen Zwischenspiel von drei Generationen zur Religion zurück, andere versuchen, ihre jüdisch-russische Herkunft völlig zu verdrängen und zu „richtigen“ Deutschen oder Österreichern zu werden. Wiederum andere – vor allem jene in Wien – halten an ihrer lokalen Identität als georgische oder bucharische Sepharden fest, als eigene Minderheiten innerhalb der jüdischen Minderheit. Sie haben eigene religiöse Riten, eigene Synagogen und bilden eigene, abgeschlossene Gruppen innerhalb der Israelitischen Kultusgemeinde. Die Allerwenigsten jedoch möchten an die historischen Traditionen des deutschen oder österreichischen Judentums anknüpfen. Nur wenige der „Jungen“ identifizieren sich mit den nichtrussischen, den „alten“ deutschen oder österreichischen Juden oder versuchen, in der Auseinandersetzung oder Verbindung mit ihnen, etwas ganz Neues zu schaffen. Das wird vielleicht erst in der nächsten Generation erfolgen.
Ist Ambivalenz tatsächlich ein Leitmotiv im Selbstverständnis der meisten in Deutschland und Österreich lebenden russischen Juden? Da ich keine Befragungen, keine statistischen Erhebungen zu diesem Thema durchgeführt habe, kann ich nur Mutmaßungen anstellen oder Schlussfolgerungen aus den zahlreichen persönlichen Gesprächen ziehen, die ich geführt habe.
Jedenfalls bin ich davon überzeugt, dass sich die meisten russischen Juden, unabhängig davon, ob sie religiös sind oder nicht, als Teil der weltweiten jüdischen Diaspora sehen. Schon in der Sowjetzeit waren Juden gezwungen, sich der jüdischen Schicksalsgemeinschaft zugehörig zu fühlen. Wer seine jüdische Herkunft zu vergessen versuchte, wurde von den sowjetischen Machthabern daran erinnert. Die sowjetische Definition des Judentums als „Nation“, der man, unabhängig vom eigenen Selbstverständnis oder der religiösen Überzeugung, allein aufgrund der Abstammung angehörte, deckte sich paradoxerweise zum Teil mit der zionistischen Vorstellung vom jüdischen Volk. Was jedoch in der Sowjetunion die Basis für systematische Diskriminierungen und sogar Verfolgungen bildete, nämlich die jüdische Herkunft, war in Israel eine Grundvoraussetzung für die „Rückkehr nach Erez Israel“, die „Alija“, den „Aufstieg“. Der Zionismus galt in der Sowjetunion allerdings als feindliche, als „faschistoide und rassistische“ Ideologie. Allein aus diesem Grund wurde er für viele sowjetische Juden zum Sehnsuchtsort: Was von den verhassten Machthabern verteufelt wurde, konnte in den Augen der Unterdrückten nur positiv sein.
Die bewusste Entscheidung, einen „Diasporaort“ wie die Sowjetunion mit einem anderen (nämlich Deutschland oder Österreich) zu vertauschen, anstatt nach Israel auszuwandern, wird letztlich nur für wenige Migranten völlig unproblematisch gewesen sein. Nur die wenigsten werden ernsthaft behaupten können, dass für sie die NS-Vergangenheit Österreichs und Deutschlands keine Rolle spiele. Für viele russische Juden wurde die Auswanderung spätestens Anfang der Neunzigerjahre unausweichlich. Jene, die sich trotzdem entschlossen haben, in der Diaspora zu bleiben, unterstützen Israels Politik oft bedingungsloser und unreflektierter als jene, die sich für die Alija entschieden haben und somit die Höhen und Tiefen eines Lebens in Israel auf sich nehmen. Für manche russische Juden, die in Deutschland und Österreich leben, bietet Israel eine positive emotionelle Identifikationsmöglichkeit, die weder Russland mit seinem inzwischen wieder offen propagierten Chauvinismus noch Deutschland und Österreich – nicht nur aufgrund der NS-Vergangenheit, sondern vor allem wegen der nicht unbedingt zuwandererfreundlichen Gegenwart – zu geben vermögen. Diesgilt für die mittlere und ältere Generation genauso wie für die Jungen. Die Tatsache, dass sie eine Mehrfachidentität besitzen und sich an ihre österreichische oder deutsche Umgebung angepasst haben, bedeutet nicht, dass sie keine Diasporagefühle haben. Im Gegenteil: Letztere sind gerade bei jenen stark ausgeprägt, die sich im kulturellen Zwischenraum, dem sie noch stärker angehören als ihre Eltern oder Großeltern, nicht „heimisch“ fühlen können.
Haben Juden und Chinesen vieles gemeinsam?
Vor einiger Zeit lernte ich eine aus China stammende, aber schon seit vielen Jahren in Deutschland lebende Autorin kennen. Die gebildete, humorvolle und sympathische Kollegin erklärte mir, Chinesen und Juden hätten vieles gemeinsam: Beide Völker „liebten“ die Diaspora und bildeten in einigen „fremden Ländern“ die wirtschaftliche und intellektuelle Elite, beide hätten „eine Begabung für Geldgeschäfte, Handel und Gewerbe“ und litten deshalb unter dem Neid und den Vorurteilen der einheimischen Bevölkerung, die „an den Fleißigeren und Erfolgreicheren hin und wieder durch blutige Verfolgung Rache nimmt“.
Natürlich musste ich der netten Kollegin in einigen Punkten widersprechen. So habe ich selbst nur sehr wenig Begabung für Geldgeschäfte, Handel und Gewerbe, und meine Erlebnisse in der Diaspora sind in den wenigsten Fällen der „Liebe“ geschuldet. Genauso wie viele Juden in den USA, in Deutschland oder Russland leben auch viele Chinesen in Indonesien, Malaysia oder auf den Philippinen in Armut. Die Gründe für die zahlreichen Verfolgungen, denen Juden und Chinesen im Laufe der Geschichte ausgesetzt waren, auf Neid und Vorurteile allein zu reduzieren, erschien mir ein wenig zu simpel. Zudem sollte man die chinesische und die jüdische Diaspora, trotz gewisser Ähnlichkeiten, nicht einfach gleichsetzen. Andererseits ist wahrscheinlich die Tatsache, eine Diaspora zu besitzen, das Einzige, was Chinesen und Juden miteinander gemeinsam haben.
Die chinesische Kollegin hatte aber insofern Recht, als bestimmte Völker oder Gruppen von Menschen mehr Erfahrung mit dem Exil oder der Diaspora haben als andere. Diese Erfahrung, die zum kulturellen Gedächtnis der jeweiligen Völker oder Gruppen geworden ist, wird manchmal direkt, oft aber auch indirekt und unbewusst von Generation zu Generation weitergegeben. Dies trifft auf Juden oder Chinesen genauso zu wie zum Beispiel auf Armenier oder Griechen – Völker, die ebenfalls auf eine lange Geschichte von Emigration und Vertreibung, Exil und Diaspora zurückblicken. Die notwendige Mischung aus Anpassung und Zusammengehörigkeitsgefühl, Ehrgeiz, vor allem aber Flexibilität und eine grundsätzlich positive Einstellung zu Bildung und Wissen im Allgemeinen – das ist etwas, das, trotz aller Unterschiede, die meisten Juden, Chinesen, Griechen, Armenier und eine Reihe anderer Gruppen in ihren jeweiligen Diasporaländern gemeinsam haben.
Vielleicht sind es diese „tradierten Diaspora-Erfahrungen“, die es – neben allen anderen, schon genannten Faktoren – den jungen russischen Juden in Österreich und Deutschland ermöglichen, ihr Leben vergleichsweise erfolgreich zu gestalten. Während viele Zuwandererfamilien aus der Türkei eine Integration in die moderne Welt Mitteleuropas als Selbstaufgabe und als Verlust eines kulturellen, religiösen und nationalen Selbstverständnisses erleben, schaffen andere Gruppen (zum Beispiel jüdische Zuwanderer, aber auch viele Armenier und Griechen) den kulturellen Spagat sehr viel leichter, weil sie über die Jahrhunderte gelernt haben, diesen zu vollführen.