WELTSCH, ROBERT: PALÄSTINA 1934. DER ERSTE REISEBERICHT UNSERES SCHRIFTLEITERS DR. ROBERT WELTSCH

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Aus: Jüdischer Rundschau, Nr. 25/26, 39. Jahrgang

Berlin, Mittwoch, den 28. März 1934, S. 3.

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Tran-skription

Zwischen alter und neuer Welt

RW, An Bord der „Mariette Pacha“, 7. März

Je weiter sich das Schiff von der Küste Europas entfernt, um so mehr gewinnen wir Abstand von dem Aufruhr der Gefühle, in welchem ein Jude in Europa jetzt lebt. Die Judenfrage ist im letzten Jahr aufgerollt worden wie nie zuvor; das Schicksal der Juden ist als eine der großen weltgeschichtlichen Tragödien der letzten zwei Jahrtausende erkannt worden – eine Erkenntnis, die durch viele Jahre der geistigen „Prosperity“ verborgen war, als man öffentlich kaum ernsthaft vom Lose der Juden sprach; die Juden selbst waren die letzten, die solche Erörterung gewünscht hätten, obwohl sie ja wußten, daß sie auf schwankem Boden stehen. Heute aber ist es nicht zu verdecken, und wir wissen nicht, ob wir erst am Anfang der großen Auseinandersetzung stehen oder ob wieder ein geistiger Ruhezustand eintreten wird. Wer weiß denn heute überhaupt, wie diese Welt und dieses von inneren Krisen heimgesuchte Europa die nächsten Jahre bestehen wird; die jüdische Erschütterung ist ja nur eine Seite einer Umwälzung, die weit größere Dimensionen hat; im jüdischen Leben spiegeln sich stets die Vorgänge der Umwelt in besonders empfindlichem Maße. Und nun steht in einer besonders eigenartigen Weise auch das Judentum am Scheidewege. Denn das jüdische Volk ist dereinst in Palästina geformt worden; von dort aus hat auch die übrige abendländische Welt ihre entscheidende kulturelle Prägung erhalten. Das Judentum hat die Ethik der „10 Worte“ und die Lehre von Gut und Böse zum Gesetz erhoben, und wenn heute mancherorts diese Grundlagen abendländischer Weltanschauung umkämpft werden, wenn eine ernste Auseinandersetzung um Lebensrichtung und Glauben ganze Völker ergreift, so ist das für uns Juden ein entscheidender Moment unserer Existenz. Es geht hier nicht um Politik und nicht um Wirtschaft, und das Bekenntnis zu Palästina, dem zentralen Ort dreier Religionen, ist für uns Juden heute eine stärkere Bindung, als in den ersten Anfängen der neupalästinensischen (zionistischen) Bewegung angenommen wurde. Wo stehen wir? Wohin steuern wir? Welche ewigen Werte erkennen wir an?

Unwiderstehlich ist die Gewalt der Idee, die sich mit diesem Lande verknüpft.

Tausende sind dafür gestorben, in Geschichte und Mythos ist diese Kraft wirksam. Und längst, bevor es einen „politischen“ Zionismus gab, war die „Zionsliebe“ in den Herzen lebendig. Sie hat im Mittelalter Jehuda Halevi, den großen Dichter, nach Palästina getrieben und ihn bei der Landung niederfallen und den Boden küssen lassen. So etwas vergißt ein Volk nicht, und was wunder, daß ein kleiner jüdischer Junge aus einer rumänischen Stadt, selbst stark jüdisch und künstlerisch erregt, mir zur Abreise auf das Schiff einen Brief schrieb, der an jene Liebe Jehuda Halevis erinnert. Denn „stärker ist die Liebe als der Tod“…

Das ist Zion, Palästina, das Land, dem unser Schiff zusteuert.

Jeder auf dem Schiff fühlt etwas davon. Man kennt aus den letzten Jahren viele Beschreibungen von Palästinareisen, Impressionen, die stets mit der Schilderung der Schiffsreise beginnen. Und in der Tat, man muß den „Mut zur Banalität“ haben: diese Gemeinschaft von reisenden Juden aus aller Herren Länder, die einem Ziel zustreben, hat etwas Packendes. Immer sind ein paar Originale und Sonderlinge darunter, immer auch seltsame Schicksale; man findet in solchen lebendigen Einzelschicksalen oft mehr von dem Wesen der jüdischen Frage als in so mancher gelehrten Erörterung. All diese Menschen sind erwartungsvoll und wohl auch etwas bange. Etwas Neues liegt vor ihnen. Auch mit uns fahren – neben den „Touristen“ – eine Anzahl von Juden, die die Brücken hinter sich abgebrochen haben und nun ihre neue Zukunft zu bauen haben, in der Mitte des Lebens, nicht mehr in voller Jugendfrische, neuen Bedingungen entgegen. Juden aus Deutschland sind dabei, meist stille bescheidene Menschen, die den Ernst ihres Entschlusses empfinden. Das ist ein typisches Bild. So geht es alle Tage, jeder Dampfer, der das Mittelmeer durchkreuzt, bringt neue Menschen. Wir aber empfinden besonders stark, daß dies alles nicht einfach eine „Reise“ sein kann, sondern tieferes dahintersteckt und sich hier nach außen in der Dramatik des Geschehens offenbart:

Palästina ist nicht nur Reiseziel, sondern Forderung und Aufgabe,

und daher betrifft das, worum es geht, auch die Daheimgebliebenen und die Juden, die nicht auswandern wollen oder können, auch die mit ihrem jetzigen Heimatboden eng verknüpften. In der Scheidung der Geister innerhalb der Menschheit wird heute alles wieder auf einfache Formen zurückgeführt. Wir Juden müssen unsern Weg gehen. Die großen Zusammenhänge, in denen jeder von uns steht, werden immer auch dieses Zion umfassen.

In Alexandria, wo das Schiff gerade hielt, bevor es nach Jaffa weiterfährt, hatten wir das eigentümliche Erlebnis der Begegnung mit einer ägyptischen Frau, die uns das, was wir fühlen, verstärkt ins Bewußtsein brachte. Eine koptische Christin, Angehörige der ältesten ägyptischen Schicht, der wahren Nachkommen der alten Aegypter aus Pharaos Zeiten, dabei eine ganz moderne hochgebildete Frau, nahm uns in ihrem gastlichen Haus auf, einer herrlichen Villa am Strande des Meeres, und in unermüdlicher Darlegung entwickelte sie ihre Ideen: die Erlösung der Welt durch die Vereinigung des Hauses Israel mit der heidenchristlichen Welt, als deren Repräsentanten sie ihr Vaterland Aegypten betrachtet, unter Berufung auf das 19. Kapitel Jesaja. Diese Vereinigung könne nur geschehen im Zeichen der Niederringung des Materialismus und Ueberwindung des Imperialismus. Die Juden, so meint sie, haben Teil an beiden. Diese genaue Kennerin der Bibel weiß, daß im Judentum Höchstes neben Niedrigstem steht und gerade darum, so meint sie, hänge von der inneren Entscheidung des Judentums besonders viel ab. Diese Frau, eine glühende Patriotin und Führerin des Wafd, der ägyptischen Unabhängigkeitspartei, hat ein Buch über die Judenfrage geschrieben, das im Manuskript vorliegt. Sie gibt eine Anklage und Verteidigung der „Protokolle der Weisen von Zion“: dieses Buch, bekanntlich eine plumpe Fälschung, enthalte, so sagt sie, Gedanken, die wahr sein könnten, und daher müsse man auch sachlich darauf entgegnen. Man müsse neben dem materialistischen den prophetischen Juden zeigen und denen, die an das Buch glauben, die Erkenntnis eröffnen, daß nur durch eine andere Art der Behandlung der Juden, durch den Willen zu einer Harmonisierung der Welt, auch die Judenfrage zu lösen sei. Nicht „Bekehrung“ der Juden sei die Aufgabe, sondern jeder eifre seiner eigenen Liebe und seinem Glauben nach, aber diese Liebe allein wird Menschen öffnen und den Weg bereiten. Es bedarf kaum der Erwähnung, daß die Verfasserin natürlich weder Lessings „Nathan“ noch die moderne, in deutscher Sprache erschienene Literatur über die Judenfrage kennt. Was sie genau kennt, ist die Bibel, und sie weiß eine Fülle geistreicher Erklärungen, die manchmal ein auch für uns verblüffendes Licht auf schwierige Stellen werfen. Kann man sich diese Szene in der ägyptischen Villa am Meer und der vor Juden die jüdische Bibel mit innerem Feuer vorlesenden christlichen braunen ägyptischen Frau ausmalen? Welch eine andere Welt! Und das ist die Erbin eines alten Volkes am Mittelmeer, der Wiege aller Kultur Europas. Mag es in Asien und im fernen Osten noch andere große Kulturkreise geben, hier am Mittelmeer, so fühlt man (und Jahrtausende werden wie ein Tag), ist der Kreis, aus dem Europa erwuchs; und an seiner nahen Ostküste liegt das Land, dem wir entgegenfahren, das Land, das so wichtige Bausteine zu dieser hier entstandenen abendländischen Welt beigetragen hat, dessen Ausstrahlung wir in diesen seltsam bewegten Stunden in Alexandria durch Raum und Zeit hinweg so stark empfinden: Palästina, das nicht nur eine Vergangenheit, sondern auch eine Gegenwart hat.

So gleitet unser Schiff in die letzte Nacht der Fahrt hinein. Ein seltenes Ereignis geschah auf dieser Reise: es wurde uns ein Kind geboren. Ein Jude aus Deutschland, der in den letzten Jahren in einer großen Stadt Westdeutschlands als Handwerker tätig war, der im letzten Halbjahr in der Emigration irgendwo in Luxemburg oder Frankreich vergeblich Arbeit suchte und nun endlich sein Zertifikat erhalten hatte, wurde während der Reise Vater eines Knaben. Der Mann hatte nur noch wenig Geld; er fährt 4. Klasse, seine Frau „IIa“, d. h. 3. Klasse. Diese beiden Klassen sind natürlich nicht luxuriös, aber durchaus anständig, und den Passagieren 4. Klasse kommt die väterliche Fürsorge des „Maschgiach“ (Aufseher der koscheren Küche) Goldkranz, früher in Berlin, zugute, der auch beim Sabbath-Gottesdienst einen perfekten Vorbeter darstellt. Die gebärende Frau wurde von den Schiffsärzten in Obhut genommen und das ganze Schiff vom Kapitän bis zum letzten Passagier fühlte sich als „kleine Familie“. Als das Kind geboren war, wurde es eine Art Stolz der „Mariette Pacha“. Die Schiffsgesellschaft „Messageries Maritimes“ schenkte „ihrem“ Kind lebenslänglich alljährlich eine Passage 1. Klasse. Die jüdischen Passagiere halfen so gut sie konnten; in Alexandria wurde Wäsche gekauft, auch etwas Geld erhielt der Vater, der selbst fast keines mehr hatte (und aus diesem Grund seine Abreise trotz des kritischen Zustandes so beschleunigt hatte).

Am letzten Abend waren alle fröhlich. Ein Mann, der mit einem Sefer Thora in der 4. Klasse fuhr, tanzte verzückt chassidische Tänze. Ueber uns schon die Sternenpracht des palästinensischen Himmels.

Und am nächsten Morgen liegt Jaffa da im Morgenglanz, und fast endlos erstreckt sich daneben, in leichtem Dunst verschleiert, die neue Stadt Tel-Awiw. 

So oft man auch in Palästina landen mag, dieser Moment ist immer wieder einzig und „zum ersten Mal“.