ZWEIG, ARNOLD: JUDENZÄHLUNG VOR VERDUN

 Zur Biographie: Zweig Arnold

Aus: Das Jüdische Echo. Bayrische Blätter für die jüdischen Angelegenheiten, Nr. 1, 4. Jahrgang

München, 5. Januar 1917, S. 9–10.

Link zum Text
Transkription

Um Mitternacht rührte mich eine leise Hand an: „Steh auf“. Ich trat vor die Tür der schweigenden Schlafbaracke und sah:

Azrael, Cherub der über Tote gebietet, stürzte vom Nachtfirmamente herauf, rachegeflügelter Zorn stieß ins Horn Schofar und schrie: „Auf zur Zählung, ihr toten Juden im deutschen Herr!“ 

Es verging keine Zeit, da wimmelte das Feld von leisen Gestalten bis an die gebogenen Hügel, hinter denen brüllte die Esse Verdun, neu angefacht, und ihre kleineren Essen brüllten laut: Flammen schlugen furchtbar auf, zuckend zerbrach am Horizont des Geschützes die wehklagende Nacht. Der Wind flog vom Orion her, dem strahlenden Zeichen des Mannes, den Mond an, der schwach über den Höhen hing in trüben Schleiern. Raunen bebte übers Gelände, düstrer Schein umwitterte Tausende. Ein Tisch stand, aufgeschlagen ein großes Buch, ein Schreiber saß in Montur dahinter, spitznäsig mit gelbem Schopf. Er rief:

„Antreten dem Range nach! Die Totenstammrolle ist anzuerkennen!“ Da sagte eine milde Stimme: „Oh warum laßt ihr uns nicht schlafen, da wir schon lagen in der Erde Arm ruhevoll!“ Und der Schreiber: „Die Statistik fragt, wieviel von euch Juden sich vom fernen Krieg gedrückt ins Grab.“ Stöhnen stieg auf vom Gelände als klagte der Boden, und die Stimme rief schmerzlich:

„Großes Vaterland, ich gedachte für dich zu sterben und zu ruhn!“ Aber ein Wirbel bewegte die Toten, sie standen am Tische einer nach dem andern, Hauptleute und Stabsärzte zuvor und Leutnant und Ärzte, Feldwebel und Wachtmeister, Unteroffiziere, Gefreite, Gemeine. Und eine dürre Feder gab der Schreiber in jede Hand, sie floß wie ein geritzter Finger, seinen hebräischen Namen schrieb ein jeder in kleinen roten Lettern, die leuchteten wie quadratische Siegel. Da standen die Leichname geduldig und warteten, und wer geschrieben, der legte schweigend die Abzeichen auf den Tisch die er trug und trat zurück, einer in der Menge. Da lagen die dicken Achselstücke der Stabsärzte und die silbernen der Offiziere, Portepees wie silberne Eier, die Tressen der Unteroffiziere, die kleinen Äskulapstäbe, die großen Knöpfe der Gefreiten; die Eisernen Kreuze der ersten Klasse, und wie viele der zweiten, andere Kreuze und Medaillen, schwarz-weiße Bänder und Bänder in allerlei Farben. Der Haufen schwoll aber auf dem Tische.

Die stillen Männer traten heran, schrieben und wurden Menge. Wie eine leichte Aura umgab sie der Umriß des alten Leibes, phosphoreszierend wie faules Holz; aber den dunkleren Kern gab der Körper, den man ins Grab gelegt zu seiner Zeit. Die Bäuche waren zerfressen vom Flecktyphus und ausgehöhlt von Ruhr. Ihre Köpfe wiesen Löcher auf vom Geschoß, halbe Schädel hatten Granaten entführt, Arme mangelten, Beine, Rippen zerbrochen, drangen aus zerfetzten Uniformen; sie waren mit Verbänden umwickelt, mit Lumpen bekleidet, ohne Stiefel; erloschene Augen blickten düster, von gesenkten Stirnen fiel weißer Schein, die Toten schwiegen in Scham und Trauer. Da standen Jünglinge bei Knaben und junge Männer neben reifen. Und sie gaben an, wie alt sie seien und wo geboren: überall im deutschen Land, und was für Berufe: Lehrer und Rechtsanwälte, Rabbiner und Ärzte, Reisende, viele Studenten aller Fakultäten, Schüler, Maler, junge Dichter, Kaufleute, Handwerker und Kaufleute wiederum und immer wieder Kaufleute. Und wo gefallen, wo lagen sie im Grabe? Bei Lille, sagten sie, und Pozières, die ganze Somme entlang, Thiaumont hieß es und Azannes, Fleury und Vaux, Champagne, Argonnen, Vogesen, ganz Flandern, die lagen am längsten im feuchten Grund; Bzura klangs, Ostpreußen, Karpathen, die Slaot Lipa, der San ward genannt, Kowno und Dünaburg, Wolhynischer Sumpf, ungarischer Wald, serbischer Berg, galizisches Tal: und Azrael nickte, der Engel, bei jedem, er hatte sie ausgesät wie Samenkörner, weit geworfen, hierhin, dorthin. Alles war verzeichnet im Buche, die Feder bewegte sich, kleine rote Buchstaben standen auf dem bleichen Blatte. Manchen aber leuchtete ein helles Kreuz über der Stirn, die waren getauft; der Schreiber fragte jeden: Jude? Und er nickte, er sagte: „Sie wissen doch“; er sagte: „Mosaischer Konfession“, „Israelit“ sagte er, „Deutscher, jüdischen Glaubens“, – „Jude, ja“ sprach mancher und streckte sich, und die Kreuze verblichen jedem. Und wie die frischesten am Tische standen, fast noch blutend, aus Rumänien hervorgeweht, der Dobrudscha, der Somme.

Der Mond verlor den Schein, Wind wehte heftiger ins Dunkel, Azrael hob die Hand, das Feld lag leer, überbuscht von zerstiebendem Scheine. Nacht brach herein, ganz schwarz, am Rande zerloht von der Esse Verdun brüllend hinter den Höhen.

*   *   *

Aber es war den toten Juden kein Halt mehr auf dem Grund ihrer Gräber. Sie sanken, langsam glitten und seelenlos tiefer die Körper abwärts, tiefer hinab. Ein Strom, schwarz und lautlos floß in den Adern der Erde, er nahm sie auf und wälzte sie ostwärts; runde Walze wurde jeder, schrumpfte, ward groß wie ein Ziegel und ganz weich. Und er warf sie aus im frühen Morgen, mündend unter Palmen ans Licht einer jubelnden Sonne, die stieg aus dem Meer. Ein großer Mann aber mit schwarzem, breiten Bart und der Schürze des Werkmannes, die Kelle rechts neben sich liegend, und links das nackte Schwert, ergriff einen jeden und preßte ihn, er ward in der Sonne hart zum Stein und gefügt in ein niederes Mauerwerk, und Walze neben Walze warf der Strom ihn zu Füßen. Stein neben Stein setzte der Mauernde, er sah nicht auf. Ein Greis trat zu ihm und grüßte ihn, junges Lächeln lag wie Morgenrot auf altem Fels über verwitterter Stirn und dem greisen Barte. „Gegrüßt sei der am Turme mauert“, sagte er, und: „Gedankt dem, der die Tochter Zions erblickt hat“, antwortete der Baumeister und setzte einen Stein. „Die Tochter Zions ist auf dem Wege“, sprach Akiba, und der Schaffer errötete vor Glück. Ich aber konnte nicht mehr an mich halten: „Oh Akiba,“ rief ich, „Wann kommt der Messias!“ Sein Blick prüfte meine Seele. „Vor den Toren Roms sitzt ein buckeliger Bettler, der Messias und wartet“, sprach er; mich erschreckt es wie Drohung. „Worauf wartet er, Meister?“ rief ich voll Angst. „Auf dich“, sprach der Greis und wandte sich. Und ich erwachte vor jähem, herzerneuerndem Schreck.

(Jüd. Rundschau, Nr. 51.)