OPPENHEIM, IDA: DIE GESCHWISTER

 

Zur Biographie: Ida Oppenheim

 In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 28. Jahrgang, Ausgabe 31 vom 03.08.1888, S. 305f / Ausgabe 32 vom 10.08.1888, S. 313f / Ausgabe 35 vom 31.08.1888, S. 337f / Ausgabe 36 vom 10.09.1888, S. 347f / Ausgabe 37 vom 14.09.1888, S. 355ff

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Tran-skription

Die Geschwister.
Novellette von Ida Oppenheim.



Da lag es von Mondschein umflossen, das kleine, weltvergessene Städtchen an Polens Grenze, so still und friedlich, als ob nie in seinen Mauern Sorge, Noth, Elend und Verfolgung den Einzug gehalten hätten.
In der Mitte des Marktplatzes floß ruhig der kleine Brunnen, dessen silberglänzendes Wasser
den sie umkosenden Mondestrahlen wunderlich geheimnißvolle Märchen und Geschichten zuflüsterte, die sie unten in der dunklen Tiefe vernommen. In den kleinen Häuschen schimmerten hie
und da winzige Lichtchen. Durch die mit Blei eingefaßten Scheiben sah man manche fleißige
Hand sich zu so später Stunde noch regen. Im Ghetto, das sich unmittelbar an den Marktplatz
schloß, war es völlig dunkel und still geworden. Die Leue dort hatten einen schlimmen Tag hinter
sich. Voll Aufregung verkündete am Morgen der Schulklopfer durch zwei starke Schläge, daß ein
Glied der Gemeinde in der Nacht gestorben war. Die rüstige Frau des Lehrers, die fleißige, unermüdliche Lehrer Lea war ihrem Gatten in eine bessere Welt gefolgt und ließ ihre beiden unversorgten Kinder hilflos zurück.
Das war ein harter Schlag für die arme Gemeinde, deren Mitglieder kaum für sich sorgen konnten.
Wie hatte das brave Weib geschafft und gearbeitet von früh bis spät in die Nacht, ohne Aufhören, ohne sich Ruhe zu gönnen. In einer kleinen Dachkammer hatte sie mit ihren Kindern Hunger
und Kälte gelitten, um nur nicht den Menschen zu Last zu fallen. Monate lang war sie für den leidenden Gatten thätig gewesen, hatte ihn gepflegt mit Geduld und Aufopferung all’ ihrer Kräfte. In
ihrer Herzensangst war sie zu einem wunderthätigen Rabbi geeilt und hatte dort ihre letzten Zehrpfennige niedergelegt, damit der fromme Mann für die Erhaltung ihres Ernährers beten sollte. Alles
war vergebens gewesen, keine Thräne, keine Gebete konnten das fliehende Leben halten. Er
starb nach langen, bangen Wochen und Monden. Die Lehrer Lea begrub den Gatten und arbeitete
für ihre Kinder. Die aufreibende Thätigkeit schadete ihrer Gesundheit, die sie längst zum Theile
eingebüßt. An einem Morgen war sie unfähig, sich zu erheben und rief mit schwacher Stimme ihren siebenjährigen Samuel zu sich und die fünfjährige Sarah. Legte ihre kalten, zitternden Hände
auf die Häupter ihrer Lieben und segnete sie.
„Habt Euch lieb, habt Euch lieb“, flüsterte sie ihnen mit erstickter Stimme zu und vereinte die
beiden Kinderhände in ihrer Rechten. Die Nachbarn kamen und gingen und brachten viele Tränklein kräftigen Thee, Erquickungen aller Art.
Lea lag mit dunkelleuchtenden Augen und brennenden Wangen auf dem dürftigen Lager. Die
kranke Brust hob und senkte sich schwer und ein hohler Husten ertönte dann und wann dumpf in
dem kleinen Gemache. Sie hielt die beiden Hände ihrer Lieblinge fest, und sah sie abwechselnd
an mit jenem Blicke unendlicher Liebe und Trauer, wie ihn nur ein Mutterauge haben kann.
Die ernsten Kinderaugen, die schon so früh Leid gesehen, senkten sich in die ihren. Sie verstanden nicht jene heiß zärtlichen Blicke der schon halb Verklärten, aber ein unendlich banges Gefühl
ließ die kleinen Herzen angstvoll schlagen. Sie schmiegten sich immer fester und fester an die
Sterbende, die immer wieder und wieder sich zu beleben schien beim Anblick ihrer Kleinen, für
die sie sorgen sollte, die sie brauchten und brauchen würden zu jeder Stunde und an jedem Tage.
Einen so schweren Kampf hatte wohl selten Jemand gekämpft, wie die Lehrer Lea auf ihrem elenden Lager. Mit eisernen Ketten umschlang sie der Tod, eiserne, unzerreißbare Ketten hielten sie
fest am Leben, das ja für sie nur Entbehrung, Mühe und Last bedeutet hatte. Ihre Kinder sollte sie lassen und sie ließ sie.
Bleiches Frühroth hatte ihre brechende Augen geküßt, der dämmernde Morgen fand zwei friedlich schlafende Waisen am Todenbett der Mutter. Die Leute, die um sie gewesen, gingen fast alle
heim. Nur einige ganz alte Frauen setzten sich zu Füßen des Bettes und sprachen leise miteinander, oft einen eigenthümlich sorgenden Blick auf die lieblich Schlummernden werfend. Am Tage
hatten lebhafte Debatten und Berathungen beim Rabbiner und Vorsteher stattgefunden. Man
mußte für die Waisen eine Heimat finden. Niemand war im Stande, die Kinder aufzunehmen, jeder
hatte soviel mit sich und den Seinen zu thun. Endlich erbot sich der Rabbi, gegen geringe Entschädigung den kleinen Samuel zu nehmen, um ihn mit seinen vier Söhnen zusammen zu erziehen. Sarah blieb beim Schulklopfer und wiegte dort das jüngste Kind der stets keifenden, zornigen Frau. Am Tage sagen sich die Geschwister selten. Am Abend jedoch wanderten beide hinaus
zum Friedhofe und saßen an den Gräbern ihrer Eltern. Samuel liebkoste das weinende Schwesterchen, das vor Sehnsucht nach ihm und der todten Mutter bleich und traurig aussah. Er erzählte
ihr Geschichten, brachte ihr Leckerbissen, ein Stücklein frisches Brod, einige Waldbeeren, eine
paar süße Kirschen, die er mit Noth und Mühe durch kleine Dienstleistungen aller Art sich errungen hatte. Der Knabe war von wunderbarer Schönheit, obgleich sein fast überschlanker Körper
durch das stundenlange Sitzen im Cheder geneigt war. Seine gelblich blasse Gesichtsfarbe, der
schwermüthige Blick seiner dunklen, großen von tiefschwarzen Wimpern umschatteten Augen,
die leicht gebogene Nase mit den beweglichen Flügeln, der fest geschlossene, schön geschwungene Mund und die langen seidenweichen Locken gaben ihm das Aussehen eines früh gereiften
genialen Jünglings aus altclassischer Zeit.
In den rothen Haaren seines Schwesterchens trieben die Sonnenstrahlen ein gar neckisches
Spiel da funkelte und blitzte es, daß man meinen konnte, flüssig Gold wäre auf das Haupt der
Kleinen ausgegossen. Ihre Augen wechselten immerfort die Farbe. Bald leuchteten sie grünlich,
bald stahlgrau, bald blau und bald schwarz. Man konnte sie mit jenen tiefen, schimmernden Teichen vergleichen, o geheimnißvoll leuchteten, so seltsam fragend sahen sie in die Welt. Ueber die
zarte Kindergestalt war unendlicher Liebreiz ausgegossen. Edel war ihre Haltung. Im neckischen
Spiel, im kindlich ernsten Gespräch zeigte sich eine Anmuth, die jedermann mit Staunen erfüllen
mußte.


(Fortsetzung folgt.)


Ausgabe 32 vom 10.08.1888, S. 313f


(Fortsetzung.)


Im Ghetto kümmerten die Leute sich wenig um die liebliche Blume, die so still aufwuchs und
selten ein freundliches Wort, einen liebevollen Blick erhielt.
Gar Manchen erschien ihr Dasein überflüssig und Vielen schien sie im Wege zu sein. Die Kinder
liebten die rothe Sarah, wie man sie nannte, weil sie stets freundlich, bescheiden und gern gefällig
war, wo sie nur immer konnte. Sie nahm beim Spiel stets den letzten Platz ein, war geduldig und
schlichtete jeden Streit. Viel Zeit gönnte ihr die Schulklopfersfrau nimmer. Sie mußte die kleinen
Kinder warten und sich nach Kräften im Haushalt beschäftigen. Oft waren die Hände glühend roth
und der zarte Körper bog sich unter der Last, die sie trug. Gott schützt Waisen, er ist Vater über
alle und läßt blühen und vergehen. Er schmückte Sarah mit noch immer neuem Liebreiz. Trotz
mancher Entbehrung, trotz herber Arbeit wuchs sie empor, kräftig und wohlgebildet wie keine zweite im Ghetto.
Da ereignete sich, daß mehrere Jahre nach dem Tode der Lehrer Lea ein reicher Mann aus dem
Süden Rußlands mit seiner kränklichen Frau das Städtchen passirte. Ein Unfall ließ beide im Hause des Rabbi übernachten. Dieser unterrichtete die Fremden von den Verhältnissen der kleinen
Gemeinde. Er klagte über die steten Bedrückungen und Verfolgungen, denen sie ausgesetzt waren, wie sie nie sicher waren vor den rohen Bauern, ihren argen Feinden, wie sie ihr Leben so
mühsam fristeten, nur angewiesen auf den Handel in elenden, kleinen Nachbardörfchen. Dort
höhnte, verspottete, schlug und hetzte man Hunde auf sie, „die bei Allen verfluchten Juden.“
Wenn sie am Freitag todtmüde heimkehrten, dann empfingen sie daheim die Frauen und Kinder
mit Klagen aller Art und selten verlebten sie einen Sabbat oder Feiertag still und friedlich daheim.
Der Fremde ließ sich die Hausgenossen des Rabbi vorführen und betrachtete mit Wohlgefallen
den schönen, ernsten Samuel, der frei und offen, die an ihn gerichteten Fragen beantwortete. Er
rief den Knaben an seine Seite und streichelte liebkosend seine dunklen Locken. Der Rabbi ließ
seinen Zögling Proben seiner Kenntnisse im Talmud geben und der Fremde erstaunte über das
scharfsinnige Urtheil und die klare Auffassung des Jünglings. Eine halbe Stunde mochten sich die
Drei unterhalten haben, als der Fremde eine seltsame Unruhe an dem Knaben bemerkte. Freundlich ernst fragte er nach der Ursache. Samuel stammelte glühend roth einige Worte der Entschuldigung und sagte, „daß draußen sein Schwesterchen warte um mit ihm den gewohnten Abendgang zum Friedhof anzutreten.“
„Hohle Dein Schwesterchen,“ bat gerührt der Fremde und die rothe Sarah trat von Samuel geleitet ins Zimmer. Sittsam verneigte sich das Mädchen vor den Anwesenden und der Mann trat
unwillkürlich einen Schritt zurück, so überraschte und blendete ihn die wunderbar liebliche Erscheinung des Mädchens. Noch kindlich unreif waren die zartgeformten, rosigen Glieder, die
kaum bedeckt wurden von dem dürftigen, fast zu ärmlichen Anzug. Das kurze, vielfach geflickte
Röckchen ließ die Füßchen bis zu den Knöcheln frei und die Arme sahen weit aus dem engen
Jäckchen hervor, das die Besitzerin längst ausgewachsen hatte. Seine Augen hingen gebannt an
den feinen Zügen, an den goldblonden Haaren. Er hörte das schüchterne Flüstern ihrer weichen,
sanften Stimme und ein mächtiges Gefühl der Theilnahme, des innigsten Mitgefühls regte sich in ihm.
Hatte er doch vernommen von der gänzlichen Mittellosigkeit der Waisen, von der treuen Liebe
und dem herzlich zärtlichen Zusammenhalten der Geschwister. In ihm tauchte plötzlich der Gedanke, der Wunsch auf, das Mädchen mit sich zu nehmen, sie zu hüten und sie zu erziehen. Ihm
war das Glück versagt, ein eigenes Kind ans Herz zu drücken, so wollte er die Waise zu sich
nehmen, an Kindesstatt.
Heftig arbeiteten die Gedanken in seinem Hirn. Sie erhielten ihn noch lange wach am Abend.
Eingehend besprach er mit seiner Gattin den Plan, der so schnell in ihm gereift. Sie selber hatte
auch Sarah vom ersten Moment an liebgewonnen und billigte vollkommen den Vorschlag des
Gatten. Beglückte sie doch stets das, was ihn erfreute und bemühte sie sich immer, ihr Wünschen
und Wollen dem seinen anzupassen.
Wie eine Gottesfügung begrüßte der Rabbi den Vorschlag des Fremden. War er doch selbst
niemals ruhig und befriedigt gewesen, seitdem er das Mädchen unter so wenig guter Obhut wußte. Es schmerzte ihn, daß sie sich plagen und quälen mußte, für das so elende Unterkommen.
Fühlte er doch, daß die zarte Blüthe auf anderm Boden sich reicher und besser entfalten würde
als hier in Dürftigkeit und bittrer Noth.
Ueberall im Ghetto pries man das Glück der kleinen Sarah. Unglaublich schnell hatte sich das
Gerücht verbreitet. Geschwätzige Zungen trugen es im Nu von einem zum andern. Von vielen
ward sie beneidet. Sie, die seit ihrer frühesten Kindheit nur Entbehrung gekannt, sie sollte von
Reichthum, Pracht und Glanz umgeben werden.
Sie wird hinaus in die Fremde kommen, wird viel des Schönen und Angenehmen sehen und
lernen. „Bald wird sie das Ghetto und ihre einfache Herkunft vergessen,“ so redeten die Frauen
und die dunkeläugigen Mädchen, sie wisperten von schönen glänzenden Sachen, die Sarah tragen würde, von seidenen Kleidern, Gold, Geschmeide und einem reichen Bräutigam.
Verstohlen blickten sie Sarah an und meinten, daß sie sie dann im Glücke wenig achten und
ihrer nicht gedenken werde. Wohl Jede hätte gern mit dem Mädchen getauscht, welches seit der
Stunde, da man ihr die Aussicht für die Zukunft eröffnet hatte, nicht mehr froh und heiter erschien.
Als man ihr die Mittheilung machte, daß sie sich von ihrem Bruder trennen sollte, da hatte lilienhafte Blässe das Gesicht überzogen, ein heftiges Zittern durchflog den Körper, und die Augen
starrten gleich glühenden Kohlen den Fremden an, der ihr in liebevollster Weise zusprach, und sie
für sich zu gewinnen suchte.
Sie schlang die Arme fest um den geliebten Bruder und preßte ihre Lippen auf die seinen, ohne
ein Wort zu sagen. Ihr Schmerz fand keinen Ausdruck. Dennoch ließ sie die geringen Vorbereitungen, die zur Reise gemacht wurden, geschehen und bemühte sich freundlich um ihren neuen
Wohlthäter. Samuel flüsterte sie immer wieder zu: „Ich vergesse Dich nicht, mein Bruder, ich hole
Dich, wenn ich reich geworden bin, und genug habe für uns beide. Der Knabe nahm sie dann in
seine Arme, küßte sie mit leidenschaftlicher Innigkeit und versicherte ein über das andere Mal,
daß er bald, bald zu ihr kommen werde. Zuerst müsse er noch viel viel lernen, dann wollte er
wandern von Stadt zu Stadt und sie aufsuchen, sein süßes Schwesterlein. Und zum letzten Mal
hatten sich die Geschwister die Hände gedrückt, zum letzten Mal am Grabe der Eltern gestanden
und sich gelobt nie einander zu vergessen. Der Knabe trug äußerlich ruhig seinen Schmerz. Man
glaubte kaum, daß er sein Schwesterchen vermisse. Nie nannte er ihren Namen. Nur noch länger
saß er bei der Arbeit, bleicher wurden seine Wangen und müder sein Lächeln, das bald ganz verschwand. Seine einsamen Spatziergänge nach dem Friedhof dehnte er länger aus und wer ihn
dort gesehen hätte, der hätte nicht geglaubt, daß ein Jüngling kaum dem Kindesalter entwachsen,
so seinem Schmerze Ausdruck geben konnte, wie er.


(Fortsetzung folgt.)


Ausgabe 35 vom 31.08.1888, S. 337f


(Fortsetzung)


Da lag er denn und umfaßte den Hügel. Laut schluchzend rief er den Namen seines geliebten
Schwesterchens. Da küßte er die kleine, rothgoldene Locke, die er stets bei sich trug, da murmelte er leise immer wieder und wieder scheue Fragen, die er an sie richten wollte. Da schien er zu
lauschen, ob sich nicht bald ihre leichten Schritte vernehmen ließen. Und wenn dann niemand ihm
Antwort gab, wenn der Wind, das rauschende Bächlein und die eilenden Wolken seine Klagen
hörten, ohne ihn trösten zu können, ohne lindernden Balsam für sein Weh zu senden, dann preßte
er fest die Lippen zusammen, und schwur sich, nie Mühe und Entbehrung zu scheuen und dem
Ziele zuzustreben, das sein ganzes Denken und Sein erfüllte. In die Welt hinaus wollte er, lernen
studieren, um sie dann wiederzusehen, die er ganz allein liebte, die ihm alles war der Inbegriff des
Guten, Schönen und Liebenswürdigen. In den kalten Winternächten saß er dann stundenlang, zitternd vor Frost, in seiner elenden Dachkammer und lernte bei einem Stümpfchen Licht hochdeutsch lesen. Seine Wangen glühten und seine Augen leuchteten fieberhaft bei der Anstrengung.
Fabeln und Legenden, ja einzelne Gedichte fand er dann einmal tief versteckt unter den großen
Folianten des Rabbi, die er oft durchsuchte. Immer größere Fortschritte machte er, immer mehr
und mehr wußte er sich anzueignen, immer glühender wurde sein Begehren und immer zäher sein
Festhalten an seinem Plan, der ihm noch dunkel und unklar vorschwebte. Wenn das Lichtchen zu
später Stunde erlosch, dann warf er sich todtmüde und abgespannt auf sein Lager und schloß die
Augen. Im Traum sah er dann sein süßes Schwesterchen, ihn gleich einer Huldgestalt umschwebend. Sie belebte in ihm die Hoffnung immer wieder, sie fachte die Begeisterung an, für das Ziel,
das ihm als Endpunkt seines Wünschens und Wollens entgegenleuchtete. Der Rabbi liebte seinen
fleißigen Schüler und unterstützte dessen heißen Wissensdrang, indem er ihm heimlich Bücher
aller Art verschaffte. Niemals durfte emand im Ghetto profane Lectüre pflegen, auch heute sind
noch deutsche Bücher in manchen Kreisen Polens und Rußlands verpönt.
Unermüdlich arbeitete Samuel, ohne sich Ruhe noch Rast zu gönnen, täglich hoffend, daß ein
Briefblatt ihm Kunde bringen wird von der fernen Schwester. Doch wann langte je ein Brief im
Ghetto an. Wohl niemand hatte noch solch ein Wunderding empfangen. Abgeschlossen von der
Welt lag das kleine Städtchen, nur dann und wann drang Nachricht zu den Bewohnern, wie es da
draußen in der Welt, in der bunten zugehe. Sie schüttelten wohl nach so seltsamen, ihnen wunderbar erscheinenden Berichten höchst überrascht die Köpfe, sie konnten sie nicht fassen diese
curiosen Geschichten, die sich in der Ferne zutrugen.
Endlich kam der Augenblick, den Samuel längst ersehnt und gefürchtet, auf den er sich vorbereitet in vielen schlaflosen Nächten. Lange hatte er gebraucht, um den Gedanken, der fast unbewußt die Triebfeder seines Handelns gewesen, vor sich selbst klar und deutlich auszusprechen.
Zitternd stand er vor dem Rabbi und theilte ihm mit, daß er sein Ränzel schnüren wolle, um hinaus
in die Fremde zu gehen.
Der treue väterliche Freund hatte längst die Gedanken und Empfindungen errathen, die das
Herz und den Sinn seines Lieblingsschülers erfüllten. Mit Angst und zugleich mit hoher Befriedigung verfolgte er die wachsende Lernbegier, die stetig zunehmende Begeisterung des Jünglings
für alles Edle, Hohe und Schöne. Dennoch warnte er ihn ernst, indem er ihn aufmerksam machte
auf die endlosen, manigfaltigen Gefahren, die ihm drohten. Mit beredten Worten und überzeugender Genauigkeit sprach er ihm von den zahllosen Entbehrungen und Demüthigungen aller Art, denen er ausgesetzt sein würde. Er stellte ihm vor, wie sein Leben nichts sein werde, als eine unendliche Kette von Mühen und Drangsal, daß sein schwacher Körper erliegen müßte unter der Last
der Arbeit, daß er allein in der kalten Fremde dem Untergang preisgegeben sei, während ihm im
Heimatstädtchen ein ruhiges Los geboten wurde. Wohl nie glänzend und reich an vielen Abwechslungen, aber dem gleich, welches alle seine Glaubensbrüder in Ergebenheit trugen.
Samuel blieb fest in seinem Vorhaben. Zu lange hatte in ihm der Gedanke gegährt und stets
Nahrung erhalten durch die Sehnsucht nach seiner Schwester. Sein Geist hatte früh die Schwingen entfaltet und ließ ihn nachdenken über Vieles, was all Denen verschlossen blieb, die mit ihm
aufwuchsen. Samuel empfing nach wenigen Tagen der Unterredung den Segen seines Freundes
und Wohlthäters und wanderte hinaus in die Welt, erfüllt von edlen, hohen Gedanken, gewappnet
mit Willensstärke und Todesmuth, gleich einem Krieger, der dem feindlichen Geschütz mit Kühnheit und Unerschrockenheit entgegensieht.
Nichts, nichts wurde dem armen Judenjungen erspart. Keine Entbehrung, keine Sorge, keine
Demüthigung, kein Erschlaffen des Körpers, kein Schwinden der Elasticität und Empfänglichkeit
des Geistes blieben aus, um ihm eine Zeitlang den Muth zu rauben und die Hoffnung schwinden
zu sehen, die als leuchtender Stern sein kummervolles Dasein erhellte.
Von Stufe zu Stufe erklomm er unter dem entsetzlichsten Elend, den ärgsten Leiden mühsam
die hohe Leiter des Wissens. Noth, Hunger und Krankheit warfen ihn oft auf Monate auf das Lager. Dennoch vermochten sie nicht den Gottesfunken in ihm auszulöschen, das Streben nach
geistiger Erkenntniß zu ertödten. Seinen Namen mußte er aufgeben. Ja, er wußte eigentlich selber
nicht, wie er geheißen. Die Juden in Polen hatten keine Familiennamen. Sie nannten sich gewöhnlich nach den Beschäftigungen, denen sie sich widmeten. Man kannte im Ghetto den Schulklopfer
Aron und die Melamit Rebekka, die Lehrer Lea und den Lehrer Samuel, Heymann den Schneider
und Saul den Nachtwächter. Klugheit Licht und hohe Gönner bewirkten ihm die Erlaubniß, seinen
Aufenthalt in der Residenz zu nehmen, wo er an der Universität seinen Studien oblag. Seine einnehmende Persönlichkeit, die trotz aller Entbehrung wenig gelitten hatte, öffnete ihm die Thüren
der Reichen und sein bescheidenes Wesen, sein feines Benehmen, seine ungewöhnliche Begabung und seine staunenswerthe Energie erwarben ihm Freunde in der Gelehrtenwelt.
Der leidenden Menschheit zu helfen, das war das Ideal seines Lebens, das seine Aufgabe, die er sich gestellt.
Gottes Segen ruhte auf seinem Wirken und Schaffen. Von großen Erfolge wurden seine Arbeiten gekrönt; einige wichtige Erfindungen auf dem Gebiete der inneren Medicin machten ihn bei
Fachgenossen bekannt. Bald erlangte er die Gewogenheit eines Kreises angesehener Männer, die
ihn überall einführten und empfahlen. Durch seinen alten scharfen Blick, durch sein tiefes Wissen,
durch seine wunderbar richtige Diagnose, die er stellte, ward er bald einer der gesuchtesten Aerzte der Residenz. Alt und Jung, Arm und Reich strömten zu ihm. Von nah und fern eilte man herbei,
um ihn zu Rathe zu ziehen. Obgleich segensreiche Thätigkeit, zunehmende Achtung und Wohlhabenheit ihm Befriedigung gewährten, blieb er ernst und schwermüthig: Es lastete der Druck vergangener Leidensjahre auf ihm und zugleich die unerfüllt gebliebene Sehnsucht nach seiner geliebten Schwester. „Wo sie wohl weilen mochte“, das fragte er sich Tag und Nacht. Alle Aufrufe,
die er erlassen, waren erfolglos geblieben. Niemand brachte ihm Kunde von der Einzigen, nach
der sein Herz verlangte.
Ob sie ihn vergessen hatte? Ob sie gestorben, verdorben ist? Solche und ähnliche Fragen marterten sein Hirn und ließen ihm nie Ruhe.
Wenn sein Beruf ihn oft am Tage und Stunden vergessen ließ, was er verloren glaubte, dann
erinnerte er sich umsomehr an Festtagen an diejenige, mit der er zusammen eine freudlose Kindheit verlebt, die allein erhellt gewesen durch die innige, gegenseitige Liebe und Hoffnung auf
kommende bessere Tage. Wenn er dann das Lämpchen am Sterbetag seiner Eltern anzündete
und mit trüben Augen und unendlichem Weh im Herzen Derer gedachte, die so früh von ihm genommen. Dann empfand er eine seltsame Unruhe, den peinigenden Gedanken, daß er der
Schwester einziger Beschützer auf Erden, sie nicht hätte in die weite Ferne ziehen lassen sollen.
In solchen Stunden nahm er sie dann hervor, die rothgoldene Locke, die er stets am Herzen
trug und benetzte sie mit heißen Küssen und Thränen. Jene kleine Locke, sie wußte zu erzählen,
wie hoch und heilig, wie innig treu Geschwisterliebe ist.
So vergingen Jahre des angestrengtesten, erfolgreichen Schaffens. Aus dem feurigen Jüngling
war ein ernster früh gereifter, erfahrener Mann geworden, der unermüdlich bestrebt war, zu helfen
und Noth zu lindern, wo, und in welcher Gestalt sie auftrat. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
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(Fortsetzung folgt)


Ausgabe 36 vom 10.09.1888, S. 347f


(Fortsetzung)


Sie war nicht gestorben, die rothe Sarah. Sie hatte auch nicht den treuen Bruder vergessen
und das kleine weltvergessene Städtchen, das Ghetto mit den düstern schmalen Häusern und
dem kleinen Friedhof. Heiße, bittre Thränen hatte sie oft geweint. Oft den Namen des Bruders geflüstert, im Wachen und im Traum. Ueberschütteten sie die zärtlichen Pflegeeltern mit allem Guten
und Schönen, boten sie ihr alle Annehmlichkeit in steter Liebe und Aufopferung, dann sehnte sie
sich noch mehr, noch heißer nach dem, der allein auf der Welt ihr ganz gehörte, dann war die
Freude ihr vereitelt, durch die ewige Ungewißheit, in der sie lebte! Auch sie hatte geforscht und
gefragt und keine Mittel und Wege gescheut, um den Bruder wieder zu finden.
Mit ihren Pflegeeltern reiste sie nach der alten Heimat, um dort nähere Erkundigungen einzuziehen. Niemand konnte ihr Auskunft geben. Er ist in die Fremde gegangen, so erzählten die älteren Männer, und wird draußen untergegangen sein, oder sich längst losgesagt haben von dem
Glauben der Väter; denn nie hatte man Kunde von ihm vernommen. Der alte Rabbi, der vielleicht
mehr hätte berichten können, war einem ehrenvollen Rufe in eine größere Gemeinde Galiziens gefolgt. Dort sollte er Leiter einer Talmudschule geworden sein. Zu ihm zu fahren, wäre wohl erfolglos gewesen, da man kaum annehmen konnte, daß er mehr von Samuel’s Existenz unterrichtet sei als die andern.
Sarah verschloß die heiße Sehnsucht nach dem Bruder tief in ihrer Brust. Sie gewöhnte sich an
ihn zu denken, wie an einen geliebten Todten. All ihr Thun und Lassen deutete darauf hin. Sie war
von rührender Dankbarkeit gegen ihre Pflegeeltern und bemühte sich fort und fort, ihnen ihre Liebe zu bezeugen. Nach und nach wurde sie ruhiger und fröhlicher. Die Gedanken an ihn wurden
scheinbar verdrängt durch die allzuschöne Gegenwart, in der sie lebte Sie war der Sonnenschein
des Ehepaares geworden, dessen Namen sie angenommen hatte. Ihnen hatte Gott eine Tochter
geschenkt, eine so liebliche, schöne und engelsgute, daß sie Gott priesen, für die gnädige Fügung, der sie das Kind verdankten.
Sarah wurde der Trost des liebenden Vaters, der seine ewig kränkelnde Gattin begrub, nachdem sie sich nur wenige Jahre an der lieblichen Tochter erfreut hatte. Das junge Mädchen bestrebte sich unausgesetzt, dem Trauernden das Leben behaglich und bequem zu machen. Sie
half ihm den Schmerz um die Verlorene mit Sanftmuth und Ergebenheit tragen, sie brachte Heiterkeit und strahlenden Frohsinn in die vereinsamten Räume.
David Lilienkorn hielt es nicht länger auf der wunderschönen Besitzung Süd-Rußlands, in welcher er die angenehmste und zugleich traurigste Zeit seines Lebens verbracht, aus. Sein wundes
Herz wollte Vergessen suchen in der Ferne. Auch sollte Sarah die Welt kennen lernen und sich
besonders deutsche Sitte und Bildung aneignen, für die er die allerhöchste Achtung und Verehrung hatte. Ungern verließ das Mädchen die stille, sonnige Stätte, die Zeuge gewesen von vielen
harmlos stillen, glücklichen Stunden ihrer Kindheit, dennoch folgte sie willig und gern dem treuen
Vater, für dessen Wohl sie besorgt, dessen Wünsche stets die ihren waren.
In üppiger Schönheit war die zarte Mädchenknospe erblüht, bewundert von allen, die sie sahen, geliebt von denen die ihr reiches Gemüth kannten.
Einen Wunsch, einen innigen, heißen trug David Lilienkorn tief im Herzen, den er sich selbst
noch scheute Ausdruck zu geben.
Seinem geliebten Kinde, seiner Sarah, wollte er eine Heimat schaffen am Herze eines treuen,
redlichen Mannes, der sein Kleinod zu schätzen wissen würde, der sie führen und leiten sollte,
wenn Gott ihn einmal abrufen würde.
Einen solchen Schützer und Hüter wollte er suchen und daß es ihm schwer fallen würde, das
wußte David nur zu wohl. Heimlich schmückte er den Erwählten seines Lieblings mit allen Tugenden, die einen Mann zieren und auszeichneten. Nichts dünkte ihn zu hoch, zu unerreichbar für sie.
Schon seit längerer Zeit fühlte er, daß sich eine eigentümliche Schwäche seiner bemächtigte.
Ihm war die Krone seines Hauses genommen und ob er auch süßen Ersatz hatte, so konnte ihm
nichts die treue Gefährtin ersetzen, mit der er gemeinsam Glück und Leid getragen, die er geliebt
und hochgehalten, die stets sein besseres Ich gewesen. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
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Sarah Lilienkorn hatte sich längst in der Residenz B. behaglich eingerichtet mit ihren Vater und
genoß all das, was ihr geboten wurde.
David suchte sie auf alle Art zu zerstreuen, mit vollen Zügen schlürfte sie den Becher der Freude. Die fremde Wunderblume zog bald einen Schwarm Verehrer zu sich, die in dem gastlichen
Hause des alten Herrn freundliche Aufnahme fanden. Viele begehrten wohl heiß die Hand des jungen, reichen und schönen Mädchens, und oft machte der Vater ihr Anträge im Namen derer, die
sich an ihn gewandt. Sarah hatte für all solche Pläne und Vorschläge nur ein helles Lachen. Sie
wollte ihre Jugend, ihre Freiheit voll und ganz genießen. Sie hing sich nach solchen Unterredungen schmeichelnd an den Arm des Vaters und wußte ihm so süß und lieb zu sprechen von der
Zufriedenheit und Glückseligkeit, die sie an seiner Seite fühlte, daß David nur zu gern die Ausführung seines Wunsches verschob. Liebte er sie doch auch zu sehr, um sie zu beeinflußen. Er wußte
das ihr reiches nur einem Würdigen sich eignen würde. Sie galt überall als die rechte Tochter des
reichen Russen. Niemand kannte ihre Herkunft und der Alte hatte weder Gelegenheit noch Lust,
das Geheimniß zu offenbaren.


(Schluß folgt.)


Ausgabe 37 vom 14.09.1888, S. 355ff


(Schluß.)


Doctor Samuel Lehr, so nannte sich der Lehrer Samuel, wurde zufällig durch einen Collegen zur
Consultation David Lilienkorn’s gerufen, der plötzlich sehr schwer krank geworden.
Zu ihm war auch die Kunde gedrungen von der schönen reichen Russin, der alle Herzen voll
Entzücken entgegenschlugen, um die sich Männer der höchsten Intelligenz schaarten, da ihre seltenen Fähigkeiten, vor allem ihre Lebhaftigkeit und gediegenen Kenntnisse, ihre unvergleichliche
Anmuth und Würde alle zur Bewunderung hinrissen.
Samuel trat gefolgt von dem Freunde in das dunkel verhangene Schlafzimmer des Patienten.
Eine hohe, edle Gestalt trat ihm entgegen. Er sah in ein paar räthselhaft schillernde Augen, umrahmt von dunklen Wimpern, sah eine Fluth roth goldener Löckchen, die eine marmorweiße, von
feinen Adern durchzogene Stirn umkosten, sah einen rothen Mund, so klein, gleich einer Erdbeere
geformt und fühlte den leisen Druck einer warmen, weichen Hand, die die seine zum Gruß einen
Moment umschlossen hielt. Was war’s, das ihm mit einem Male den Athem raubte, das ein so
wunderbar ängstlich freudiges Gefühl in seinem Herzen sich regen ließ? Sollte ihm, dem ernsten
Manne, der so viele schöne Frauen schon gesehen, hier diese seine Fassung rauben? Dennoch
konnte er sich des Zaubers nicht erwehren, der sich seiner bemächtigte. Sekundenlang blieb er
im Anblick der reizenden Mädchengestalt versunken, die ihm die holdeste Verkörperung eines lockenden Fantasiegebildes schien, das ihn unbewußt umschwebte und verschwommen und undeutlich jene süßen, unvergessenen Gesichtszüge seiner kleinen Schwester trug.
Bei dem flüchtigen Berühren der zarten Finger fühlte er mit einem Male einen heißen Strom
zum Herzen sich drängen. Ihm war’s als sei plötzlich alles hell und licht geworden um ihn her, und
mit Mühe gelang es ihm, seine Fragen an den Kranken zu richten, dem er sich inzwischen genähert hatte.
Wochen vergingen, in denen Sarah und Samuel sich täglich sahen und sprachen. Ein gleiches
Gefühl beherrschte beide seit dem ersten Moment, als sie einander gegenüber getreten.
Sarah liebte den Doctor heiß und leidenschaftlich. Mit jener Gluth eines unentweihten, reinen
Herzens. Sie ließ sich tragen von dem überseligen Gefühle, das sich ihrer bemächtige. Voll und
ganz ließ sie den Zauber auf sich wirken, den sein Aeußeres, sein Wesen sein Charakter auf sie übten.
Sie lebte in der Stunde in der sie ihn sah, und sein Bild geleitete sie Tag und Nacht, im Denken, im Traum.
David Lilienkorn auf seinem Schmerzenslager gewahrte nicht die Veränderung seines Lieblings.
Er sah nicht, daß ein gewisser, heilig süßer Glorienschein von ihr ausstrahlte. Er bemerkte nicht
die verrätherische Gluth, die die zarte Wange übergoß beim Eintritt des jungen Arztes, nicht den
feuchten, eigen schimmernden Blick ihrer Augen. Ihn berührte so wohlthuend ihr liebevolles Sorgen, das stete Bemühen um ihn und die wachsende Theilnahme des Arztes. Er ließ sich lieben
und hegen mit jenem Egoismus aller Kranken, die Sorgfalt und unermüdliche Pflege und Umsicht
für hre Person für ganz selbstverständlich erachten.
Immer fühlte er sich geistig belebt und körperlich erfrischt und gekräftigt, wenn der Arzt mit
Sarah an seinem Bette saßen; so anregend wußte der junge Mann zu plaudern, ihn zu erheitern
und zu zerstreuen. Bald wurde auch von ihm der Besuch des Arztes freudig ersehnt, er war der
Lichtpunkt der einzige Genuß, den sich der Kranke gönnen durfte. Je mehr er Samuel kennen
lernte, desto mehr fühlte er sich zu ihm hingezogen er wurde ihm mit der Zeit ein geliebter Freund,
dem er viel vertraute, dem er einen Einblick in sein Seelenleben gestattete, dem er viele theure
Erinnerungen enthüllte, die er bisher treu gehütet.
Lebhaft știeg in ihm der Gedanke auf, Sarah mit dem Manne verbunden zu sehen, den er am
höchsten achtete und liebte von allen denen, mit denen er in Berührung gekommen. Und als das
junge Mädchen eines Abends an seinem Lager kniete und ihm unter heißen Thränen des Glückes
gestand, daß sie geliebt werde und wieder liebe, daß ihr ganzes Herz Samuel gehörte, der es vom
ersten Augenblicke gewonnen, daß sie in seiner Liebe nicht nur reich und glücklich sei, sondern,
daß sie fühle, daß er ihr alles alles ersetzen werde, selbst den Bruder, den sie noch immer nicht
vergessen konnte, nach dem sie sich heiß gesehnt bis zu dieser Stunde: Da hob David Lilienkorn
die schwachen Hände zum Himmel empor und dankte Gott, daß er es ihn hatte erleben lassen,
sein Kind dem Manne zu eigen zu geben, den er für den Würdigsten stets erachtet, den er jetzt
schon wie einen Sohn liebte und schätzte. Nun wollte er gern sterben, die letzte Pflicht auf Erden
seinem Kinde eine Heimat zu geben, sie sollte sich in so beglückender Weise erfüllen. War er
denn wirklich werth einer solchen Gnade des Himmels?
Wie sehnte er sich darnach den Herzensbund seiner Kinder zu segnen. Dennoch wollte er zuerst den Doktor über Sarah’s Familienverhältnisse aufklären. Er fühlte, daß diese Formalitäten erfüllt sein mußten, bevor er sich ganz an dem Glücke der Liebenden freuen konnte.
Samuel stand wenige Minuten vor dem bedeutsamsten Gange seines Lebens nicht ungeduldig
in seinem Arbeitszimmer. Gedankenvoll blickte er auf ein kleines, eben entzündetes Oellämpchen
in einer geschützten Nische. Thränen traten in seine Augen. Vor seiner Seele stiegen düstere und
glückliche Stunden seiner Kinderzeit auf und die bunten an Elend und Sorge so reichen Jahre seiner Vergangenheit. Heute vor zwanzig Jahren hatte er seine Mutter begraben müssen. Ihrem Andenken weihte er alter Sitte gemäß das kleine Lämpchen. Wie verlassen, wie einsam war er ge10
wesen. Wie hatte er wenige Jahre später sein einziges Glück, seine Schwester hingeben müssen.
Und heute, wo ihm ein wirklich wahrhaft leuchtender Glücksstern aufgehen sollte, da er sich mit
einem über alles geliebten Mädchen verloben sollte, heute empfand er doppelt heiße Sehnsucht
nach der Schwester, die so ganz und voll hätte theilnehmen können an seinem Glück, an seiner
Wonne. Wie hätte er ihr jetzt das Leben erst lieb und werth machen können, wie hätte seine süße
Braut, ein Schauer durchflog ihn bei dem Gedanken und eine feine Röthe färbte sein bleiches Gesicht, wie hätte sie sich gemeinsam bemüht, ihr Eltern und Verwandte zu ersetzen, wie hätten sie
beide sie gehegt und geliebt.
Er zog die rothgoldene Locke hervor und die Sonnenstrahlen netzten ein Goldgewebe nm die
feinen Haare. Wie ihm so bange wurde mit einem Male, täuschte ihn das Rothgold, das dem so
seltsam glich, welches das Haupt seiner Sarah schmückte.
Hastig verbarg er die Locke an seiner Brust und stürmte hinaus, um schnell sein Ziel zu erreichen, wo ihn ein strahlendes Lächeln, der innige, erste Kuß seiner Braut erwarteten. Freudig erregt, doch scheu und schüchtern empfing Sarah den Geliebten.
Hell glänzten die Augen des alten Lilienkorn als er den jungen Mann eintreten sah. Heftig zitterte die bleiche, abgezehrte Hand in der starken, kräftigen Samuels. Der Kranke lud den Arzt zum
Sitzen ein, während Sarah stumm und auf einem kleinen Sessel zu Füßen des Bettes kniete.
Der Vater hatte ihr heute so seltsam unklare Andeutungen gegeben, sie fürchtete die Eröffnungen, die er machen würde.
Ihre Augen starrten in das trübe Licht des Jahreslämpchens, das sie heute zum Andenken an
die rechte Mutter angezündet.
Der Kranke ließ sich matt in die Kissen zurücksinken und begann mit schwacher Stimme dem
lauschenden Paare, die Geschichte zweier Waisen zu erzählen, die in einem weltvergessenen
Städtchen an Polens Grenze ein elendes Dasein führten. Samuel war gleich beim Beginn der Erzählung unruhig geworden und hatte mit steigender Erregung gelauscht. Plötzlich schlug er die
Hände vors Gesicht, und rief seiner nicht mehr mächtig: „O, nennt mir den Namen jener Kinder
nennt mir das Städtchen“. Der Kranke fuhr erschreckt auf, eine jähe Angst schnürte sein Herz zusammen, er sah in das bleiche, entstellte Gesicht des jungen Mannes und murmelte abgebrochen
mit halb erstickender Stimme; „Man nannte die Mutter Lehrer Lea, das Mädchen die rothe Sarah
und den Knaben – – Weiter kam der Alte nicht, ein zwiefach gellender Schrei ließ ihn erbeben und
er sah Sarah ohnmächtig in den Armen ihres Bruders.
„Mein Schwesterchen, mein süßes Schwesterchen“, flüsterte Samuel unter heißen Thränen,
heute habe ich Dich gefunden nach langen, langen Jahren. Der Qual, der Sehnsucht, heute am
Todestage unserer Mutter.
Er küßte die duftigen Haare, die blassen Lippen der Wiedergefundenen, die er geliebt mit einer
anderen Liebe, die heißer begehrt, verlangt und empfängt, die an Tiefe und Gluth dennoch kaum
den Sieg trägt über die zarte, heilige, opferfähige Geschwisterliebe.
Der alte David blickte stumm auf die beiden Vereinten. „Gott wie unerforschlich sind Deine
Wege“, sagte er leise. „Gib ihnen Kraft zu überwinden und zu ertragen. Sarah schlug die Augen
auf, jene Sterne, die Samuel nie aufgehört hatten zu leuchten, und lächelte halb verzweifelt und
dennoch muthig.


„Mein Bruder“. –
Der alte David gesundete noch für eine kurze Frist, um zu sehen, wie edle Naturen überwinden
und sich fügen lernen einer höheren Macht. Als er heimgerufen wurde, ging er mit dem Bewußtsein, daß Sarah eine Heimat gefunden hatte am Herzen ihres treuen Bruders, dessen Licht und
Sonnenschein sie gewesen und sie stets bleiben würde. Die Geschwister hingen an einander mit
einer Neigung, die gestählt worden war im Kampfe des Lebens. Sie erfüllte sie ganz und voll. Sie
vereinte sie mehr und mehr in dem Streben gemeinsam Gutes zu wirken und zu schaffen. Half
Samuel den Kranken und linderte ihre Schmerzen, so trug Sarah Trost und Frieden in die Hütten
der Kranken und Armen. Alle Herzen die Leid drückte, fanden bei ihr Rath und Beistand.
Im kleinen weltvergessenen Städtchen an Polens Grenze ragt noch heute ein hohes, stattliches
Haus empor, das all denen, die krank, mühselig und beladen sind, zum Aufenthalt dient. Die Gräber der Eltern zieren schöne Steine. Bleibende Denkmäler haben die Kinder ihnen in ihren Herzen
aufgerichtet, indem sie in ihrem Sinne leben und wirken, ihr Andenken zu jeder Stunde zu ehren,
sich würdig zeigen in all ihrem Thun und Handeln.
Ihr gemeinsames Streben und Wirken, ihre selbstlose Opferbereitwilligkeit, ihr wunschloses
Dahinleben bewies, welch ein starkes, heiliges, unzerreißbares Liebesband Geschwister vereinigt,
unverleugbar, selbst Trennung, Noth und Tod überdauernd.