BENJAMIN II, ISRAEL JOSEF: AMERIKANISCHE ZUSTÄNDE

Zur Biografie: Israel Josef Benjamin II

In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 3. Jahrgang, Ausgabe 13 vom 27.03.1863, S. 157f

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Der Geist Amerikas in gegenwärtiger Zeit.
Vor uns liegt eine kleine Broschüre, ein Vortrag, der von einer Dame über „Amerika und seine Bestimmung“ zu Newyork gehalten wurde, da, wie sie sagte, „die Geister“ ihr diesen Ort hiefür bestimmt hatten. Die Sache fand Glauben, und man strömte von allen Seiten herbei, um den Eingebungen des Geistes, der die Dame beherrsche, zu lauschen. Die Eine Thatsache charakterisirt den Geist Amerikas; es ist zu beklagen, daß solch’ eine grobe Bethörung Bewunderer und Anhänger unter einem Volke finden konnte, welches Morse und Mitchell in seiner Geographie „das am meisten erleuchtete“ titulirt. Wie soll man noch der Zauberei, Verhetzung oder den übrigen abergläubischen Ansichten, welche die Menschheit von jeher hegte, zürnen, wenn „das am meisten erleuchtete“ Volk an solchen Täuschungen Gefallen findet und in seiner Mitte Mormonen, Milleriten und ähnliche abnorme Erscheinungen liegen! Wozu noch sprechen über die Verblendung des Mittelalters, wenn wir mit unsern eigenen Augen sehen, daß „das am meisten erleuchtete“ Volk den Vertretern jenes Aberglaubens zuströmt und man sicher sein kann, ein Ding finde umsomehr Bewunderer, Unterstützer und Vertheidiger, je größer, abgeschmackter und absurder es ist. Der ruhige und leidenschaftslose Beobachter möchte bei solchen Erscheinungen fast völlig an dem Bestehen des gesunden Menschenverstandes zweifeln, und sehr nahe liegt der Gedanken, daß die Welt am leichtesten von Betrügern und Schlauen beherrscht wird. Es ist hart, ein solches Wort zu sprechen, aber es muß gesprochen sein; der ist nicht der wahre Freund, der seinem Nachbar nur schmeichelt, und die Flecken in seinem Charakter vergoldet oder doch beschönigt. Der ist demnach auch kein Freund des amerikanischen Volkes, welche die Selbsttäuschung und Selbstgefälligkeit, an der die Amerikaner leiden, noch steigert und unterstützt. Ein wahrer Freund spricht ein ehrenhaftes Wort zur rechten Zeit, mag es auch noch so bitter klingen (Spr. Sal. XII, 17). – Der Schreiber dieser Zeilen liebt dieses Land und dieses Volk wie sein eigenes, und wählte sich beides als sein eigenes aus freier ungezwungener Wahl. Man mag ihm auch ein freies Wort zu sprechen erlauben, kommt es ja nicht aus der Sucht, zu tadeln und zu mäkeln.

Vor Allem müssen wir – als naturalisirter Amerikaner erlaube man mir den Ausdruck wir – denn erwähnen, daß es eine große Selbsttäuschung ist, wenn wir behaupten, daß wir „das am meisten erleuchtete“ Volk seien. In unserem Vaterlande haben wir nicht einen einzigen Sitz der Wissenschaft, den man mit den kleinen Universitäten von Padua, Jena, Göttingen oder Halle vergleichen könnte; der berühmten Universitäten in England oder Frankreich, in Berlin, St. Petersburg oder Wien gar nicht zu gedenken. Das ist einer der sichersten Maßstäbe für die Bildung. Die Erleuchtung ist nicht eine von selbst wachsende Pflanze, welche ohne alle Mühe und Handanlegung aus dem Boden hervorsproßt; sie ist vielmehr eine Blüthe, die ohne die helfende Hand des Menschen sich niemals entfaltet. Aus welcher Quelle haben wir denn die so außerordentlich erleuchteten Principien, Ansichten oder Doctrinen geschöpft? Die Erleuchtung muß so gut ihre Leiter haben, als die Electricität, wenn sie sich einem großen Gemeinwesen mittheilen soll; die besten Leiter für sie sind die Schulen und die Presse. Unsere öffentlichen Schulen sind erst zwanzig Jahre als, und tragen noch die Mängel an sich, mit denen neue Institutionen gewöhnlich behaftet sind. Die Oberflächlichkeit unserer Collegien, Akademien, Seminare ist sprichwörtlich geworden. Junge Damen studiren Astronomie ehe sie recht buchstabiren können, junge Männer erhalten den Doctorgrad, nachdem sie die ganze durcheinandergemischte Masse von Griechisch, Latein, Mathematik, Französisch, Deutsch, Natur-Philosophie, Chemie, Geschichte, Geographie, Logik, Mental- und Moralphilosophie und noch anderen Studien in zwei oder drei Jahren durchgemacht haben; ohne auch nur eines von Allen tief gefaßt zu haben. Schneider, Schuhmacher, Landbebauer oder Ladendiener werden in 32 Wochen in Aerzte umgewandelt – Polizisten, Wächter, Constables werden urplötzlich Advokaten; – jeder Mann fühlt in sich die Anlagen zu einem Prediger, Lehrer, Politiker, Staatsmann und Diplomaten, und findet bald seine Gemeinde und seinen Wirkungskreis. Diese ganze lächerliche Oberflächlichkeit ist dennoch lange nicht so ungeschickt und ekelhaft, als die Pedanterie unserer nur halb gebildeten Schulmänner und Pädagogen, welche den Geist mit Worten und Formeln tödten. Können wir also dieses als eine Quelle ansehen, welche uns zu dem „am meisten erleuchteten Volke“ herangebildet? Welches Verdienst hätten dann die Musterschulen, die Gymnasien und Universitäten? Möge man sich nur nicht selbst hintergehen: Die Schulen sind noch zu jung und die Collegien zu oberflächlich, um uns zu einem erleuchteten Volke heranzuziehen.

Die Presse ist ebenfalls nicht kräftig genug, um das in der Schule Versäumte nachzuholen, nur allzu häufig herrscht hier Prinzipienlosigkeit, die blos darauf ausgeht, Geld zu machen, oder Oberflächlichkeit, die durch Bilder und andere Mittel das Fehlende ersetzen wollen. Auch hierin sind andere Völker noch weit voraus, und es gibt noch kein Blatt, das der Londoner Presse, den französischen und deutschen periodischen Zeitschriften an die Seite zu stellen wäre. Wir sind auch hier noch weit zurück; jegliche Sorte von Verdorbenheit findet in der Presse ihre Vertheidiger und Patrone, wenn sie nur gut dafür zahlt. So kommt es, daß unsere Presse nicht immer der Leuchtthurm für das Gemeinwesen, immer nicht der große Hebel für edle und erhabene Zwecke, nicht der ehrliche und treue Ausleger unserer Tagesgeschichte, nicht die Fackel, die Fortschritt und Wissenschaft trägt, ist, sondern zu Zeiten blos zu einer Speculation in den Händen gewinnsüchtiger Parteien wird, welche nur solche Dinge publiciren, welche aller Aussicht nach am meisten Gewinn abwerfen.

(Fortsetzung folgt.)