GOLDMANN, KARL: NATHAN UND SHYLOK. LITERARISCHE SKIZZE

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In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 26. Jahrgang, Ausgabe 40 vom 01.10.1886, S. 370f / Ausgabe 41 vom 08.10.1886, S. 379f

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Ausgabe 40 vom 01.10.1886, S. 370f

 

I.

Wohl in der ganzen Literaturgeschichte dürfte es nicht zwei Repräsentanten eines und desselben Stammtypus geben, welche in so diametraler Richtung einander gegenüberstehen, wie Nathan und Shylok. Wird der Jude schon im gewöhnlichen Leben als Hauptvertreter der materialisti- schen, nur auf das rein Praktische gerichteten Lebensweise anerkannt, um wie viel ungerechtfertigter, – so die Ansicht sehr Vieler, – demselben in der Poesie einen Platz geben zu wollen. Wir selbst aber, die in der Bühne keineswegs ein Institut momentanen Zeitvertreibes durch geist- und sinnlose Wiedergabe alltäglicher menschlicher Vorfälle erblicken, sondern auch den hohen ethischen Werth derselben eifrigst anerkennen, begreifen nur zu sehr, welche treibende sittliche Kraft einen Lessing und Shakspeare bewogen haben mochte, Gestalten, wie einen Nathan und Shylok auf die Bühne zu bringen. Der Erstere nannte in richtiger Erkenntniß die Bühne eine Kanzel, vor der aus er seine Ideen, aber nicht blos in theatralisch-reformatorischer Beziehung, sondern in einer den Fortschritt des menschlichen Geistes scharf kennzeichnenden Richtung in die Menge zu streuen wußte; Letzterer, der ebenfalls die Bühne als Spiegel und Schule des menschlichen Lebens betrachtete, um uns durch seine mächtige Darstellungsweise menschlicher Leidenschaften alle gefahrbringenden Irrthümer zu zeigen und uns von denselben zu befreien. Wenn wir von den jüdischen Episodengestalten moderner Vorstadtdramen absehen, die nur dazu dienen, durch eine mauschelnde Darstellungsweise das Lachbedürfniß roher ungebildeter Hausknechte zu befriedigen, so müssen wir zugestehen, daß Nathan und Shylok die einzigen jüdischen Typen sind, die in der Weltliteratur ihren bleibenden Platz einnehmen werden. Zu zeigen, in wie weit dieselben Bezug auf das Judenthum nehmen, sei der Zweck vorliegender Skizze. Beide Ansichten, sowohl die, daß im Nathan ausschließlich die Verherrlichung des Judenthums gefeiert wird, gegen die das Christenthum in gänzlich ungerechtfertigter Weise zurückstehe, wie die der erbittertsten Feinde des Judenthums, daß in der Gestalt des Shylok allein das gesammte Judenthum seine richtige Charakterzeichnung erhalten habe, wollen wir hier einer näheren Prüfung unterziehen und zeigen, wie nötig es sei, sich nicht bloß dem ersten Eindrucke hinzugeben, den die beiden Dramen auf uns ausüben, sondern alle weiter liegenden Umstände prüfend zu betrachten, um zur richtigen Erkenntniß zu gelangen, ob und warum die beiden Gestalten des Nathan und Shylok Repräsentanten des Judenthums in seiner Totalität darstellen. Weder Nathan noch Shylok sind Individualcharaktere, sondern nur durch eine concrete Darstellung zum Ausdruck gebrachte Träger eines allgemeinen Principes. Lessing wollte durch seinen Nathan den Gedanken zur sinnlichen Anschauung bringen, daß das rein Menschliche alle Fesseln durchbreche und die Ausschließung der Bekenner einer positiven Religion von denen einer anderen endlich aufheben müsse. Es ist dies ein großes Princip, das auch nur in einer großen, keineswegs particularistisch auf das Einzelne gerichteten Seele Platz greifen konnte; die Auflehnung eines geistig freien Mannes gegen allen übertriebenen Religionshochmuth, gegen eine kleinliche Unduldsamkeit.

Nur wer sich ein recht klares Bild von der damaligen Zeit machen kann, von der Stellung, die Lessing seinen theologisch-fanatschen Gegnern gegenüber einnahm, die Wunden kennt, die er durch den christlichen Hochmuth erlitten, kann begreifen, welche tiefinnere Ueberzeugung von der Wahrheit seines Principes, welches Bewußtsein seiner Fähigkeit Lessing beherrscht haben mußte, um an die dramatische Verkörperung einer solchen, den Humanismus in seine vollen Rechte einsetzenden Idee schreiten zu können. Lessing wollte den confessionellen Hochmuth demüthigen, indem er dem Juden-, Christen- und Heidenthum gleichen Werth zuerkannte, um so seine, bis jetzt allerdings noch nicht ganz erreichte Idee, von der Gleichberechtigung aller Menschen, zum Ausdrucke zu bringen. Die Frage, warum dieser Humanitätsgedanke gerade in einem Juden seine Verkörperung erhalten, darf nicht auf die gebräuchliche Weise beantwortet werden. Die Ansicht, daß das so verachtete Judenthum über seine Hasser und Verächter triumphiren wollte, indem sich gerade in ihm das rein Menschliche so herrlich entfaltet zeigt, löst deshalb die Frage nicht, weil sie nur auf der Basis rein polemischer Beziehungen steht; ebenso oberflächlich wäre das Urtheil, daß Lessing nur deßhalb einen Juden gewählt habe, um ausschließlich seinen Spinozismus oder seinen Freund Moses Mendelssohn, der allerdings das beste Modell ist, poetisch verherrlichen zu wollen. Der Grund muß, obwohl diese beiden Ansichten ihre größte Bedeutung für die Lösung der Frage nicht verlieren, hauptsächlich in der specifischen Eigenschaft des Judenthums selbst gesucht werden. Das Judenthum, das auserwählte Volk Gottes, ist in seinen religiösen Principien vollständig aufgegangen. Lessing konnte nicht anders, als gerade einen Juden zum Vertreter des universellen, rein menschlichen Principes machen, weil in ihm dieses Princip seinen vollständigsten Sieg errungen, weil es die gewaltigsten Hindernisse überwunden.

Nur der Jude, dessen ganzes Wesen am meisten religiösen Satzungen unterworfen ist und dennoch den Gedanken eines universellen, von aller positiven Religionssatzung unabhängigen Menschenthumes, in sich aufgenommen, darf es wagen, Dasjenige, was er selbst nach langem Kampfe sowohl gegen alle äußern als innern Hindernisse erworben, auch den Anderen zu predigen und von ihnen zu verlangen. Deshalb ist der Jude der Vertreter jenes Principes, daß jedem übertriebenen unduldsamen Religionshochmuth den Krieg erklärt und das wahrhaft Menschliche Allen an die Spitze setzt, und keine Unterordnung desselben dulden will. Der Jude hat sich durch alle finsteren Engen durchwinden, alle Qualen der Unterdrückung des Hasses und der Verachtung vergessen müssen, ehe er den Gedanken des freien reinen Menschenthumes in sich aufnehmen konnte. Und deshalb ist er allein dazu berufen, die Idee der Gleichberechtigung aller Religionen, die Idee der wahren Humanität zu verkörpern. Man hatte den „Nathan“ für eine Auflehnung gegen die bisherige Ordnung, die dem Judenthum und dem Mohammedanismus die inforiorste Stellung zuwies, gehalten, für eine satyrische Verunglimpfung des Christenthums. Das Erste hatte seinen Grund in der bekannten Parabel von den drei Ringen, das Letzte wegen der negativen Charakterzeichnung der christlichen Gestalten in dem Stücke. Gegen letzteren Vorwurf vertheidigt sich Lessing mit folgenden Gründen: „Wenn man sagen wird, daß ich wider die poetische Schicklichkeit gehandelt und jenerlei Leute unter Juden und Muselmännern gefunden, so werde ich zu bedenken geben, daß Juden und Muselmänner damals die einzigen Gelehrten waren, daß der Nachtheil des Religionshasses zu keiner Zeit einem vernünftigen Manne müsse auffallender gewesen sein, als zu den Zeiten der Kreuzzüge, und es an Winken bei den Geschichtsschreibern nicht fehlt, ein solcher Mann habe sich nun eben in einem Sultan gefunden.“ – In den Gesta Romanorum wird nebstdem zur Beruhigung christlicher Gemüther, in der Nutzanwendung der Erzählung von den drei Ringen der echte Ring in der Art auf das Christenthum bezogen, daß auch die beiden anderen durchaus nicht falsch und eitel wären. Nathan, dieses herrliche Zeugniß der Emanation des freien Volksgeistes, wurzelt allerdings in den Verhältnissen seiner Zeit und verdankt sein Entstehen hauptsächlich den Kämpfen, welche die letzten Lebensabschnitte Lessing’s ausfüllten. Die Zeit jedoch, da der tiefe poetische Kern, der in diesem Stücke so wunderbar zum Ausdruck gekommen, seine Blüthen treiben wird, ist noch nicht hereingebrochen. Die Wogen des Religionshasses rauschen noch so wild wie früher und scheinen sinnlos ohne Gegenwehr, die zarten Blüthen, die ein Nathan gezeugt, wieder vernichten zu wollen. Wer will sich heute noch an die Fabel von den drei Ringen erinnern, die alle drei die einzig wahre Religion, das wahre Menschenthum, die brüderliche Liebe Aller gegen Alle enthalten? Möchte doch durch diese Erzählung von den drei Ringen die Menschheit ewig daran erinnert werden, daß das göttliche Duldungs- und Schonungsgefühl den Nationen heilig und werth bleiben müsse, daß das wahrhaft Menschliche nicht nach dem Glaubensbekenntnisse, sondern wieder nur nach dem Menschlichen fragen darf.

(Schluß folgt).

 

Ausgabe 41 vom 08.10.1886, S. 379f

II.

Wenn in dem so erbitterten Kampfe, wie er jetzt geführt wird, wir auf Lessings „Nathan den Weisen,“ an die in demselben zum Ausdruck gelangte Idee von der Gleichberechtigung aller Religionen hinweisen und die finsteren Agitatoren, die mit Allgewalt nebst dem so wild erregten Kampf der Nationen auch noch den der Religionen in unser Jahrhundert aufzunehmen sich bemühen, an die Auffassung des Judenthums in seiner Stellung zu den anderen Bekenntnissen erinnern wollen, dann hören wir sofort mit höhnischer Geringschätzung aus dem Munde unserer Gegner, daß wir ja gar nicht berechtigt, die Tendenz Nathans als Argument für uns zu betrachten. Nicht Nathan, nein Shylok, dieses herzlose Scheusal, das ganz im Banne der eckelsten aller Leidenschaften, des sinnlosesten Geizes, die allerheiligsten Bande des Menschenthums, die Pietät des engsten heiligsten Verwandtschaftverhältnisses, das des Vaters zu seinem Kinde, achtlos zerreißt und sich im Staube windet vor seinem Götzen Mammon, dieser Shylok allein sei der wahre Repräsentant des Judenthums. So wie er, so Alle vom jüdischen Stamme! Nun, wir stehen nicht an, wenn wir zu Begründung unsere Ansicht, daß das Judenthum den anderen Religionen zum mindesten ebenbürtig, Lessings „Nathan“ erwähnen, auch den Shylok in das Auge zu fassen. Freilich fällt es unseren Gegnern leicht, bei dem so scharf ausgesprochenen Geschäftssinn der Juden, Shylok als den richtigen Grundtypus des Judenthums aufzufassen. Ist es aber denn nur überhaupt denkbar, daß wenn alle Juden wären wie Shylok, die Welt noch überhaupt Bestand hätte, und die Menschen nicht schon längst sich hätten gegenseitig zu Grunde richten müssen. Und wo haben wir denn die wahren historischen Beweise, daß es einen Juden Shylok, ja überhaupt einen Menschen von einer solchen, allen Gefühlsgesetzen hohnsprechenden Grausamkeit, die nach Baco’s Worten jedem Guten ohnehin als eine fabelhafte, tragische Fiction erscheinen muß, gegeben habe. Gibt man sich dem Eindrucke, dem Shylok in psychologischer Beziehung ausübt, so ohne jede weitere logische Nachforschung hin, dann allerdings wirkt die scharfe Charakterzeichnung des Juden derartig nach, daß man nur zu sehr geneigt ist, ihn als Grundtypus des ganzen Judenthums aufzufassen. Beschäftigt man sich aber mit dem Stücke etwas eingehender, dann wird man bald zu dem Resultate gelangen, daß man an die Stelle des Juden Shylok ebensogut den Christen Shylok setzen kann. Weder Nathan noch Shylok sind Individualcharaktere, sondern bringen nur eine gewisse Idee in concreter Gestaltung zu einer allgemeinen Darstellung.

Wie Nathan uns im Gewande der Poesie, der herrlichsten Rhetorik, zeigen will, daß es auch unter den Juden edle Menschen gäbe, daß keine Religion das Recht habe, ihren Ring als den einzig echten und werthvollen zu bezeichnen, und somit das edle Gesetz der Toleranz zu seinem Inhalte macht, so will auch Sheakespeare durch seinen Kaufmann von Venedig nichts Anderes, als den Grundsatz des Summum jus, summa iniuria, den Schein des abstrakten Rechtes, durch eine dramatische Verkörperung zum Ausdrucke bringen. Die Ursachen, weshalb ein Jude zum Vertreter jenes Scheusals, das sich auf sein Recht des Pfund Menschenfleisches als Pfandobjekt stützt, genommen wurde, sind leicht zu ergründende. Es ist eines der ersten dramatischen Gesetze, daß die Handlung des ernsten Dramas eine wahrscheinliche sein müsse. Erfüllt nun der „Kaufmann von Venedig,“ dieses psychologisch allerdings wunderbar ergreifende Gemälde, diese Forderung? Ist es denn nicht ein Widerspruch der gesunden Vernunft, anzunehmen, daß unter Menschen, wie sie Sheakespeare in seinem Stücke schildert, ein solches Schuldverhältniß habe bestehen können, das dem Gläubiger das Recht gibt, bei Nichteinlösung der Schuld sich als Aequivalent dafür aus dem Leibe seines Schuldners ein Pfund Fleisch schneiden zu dürfen? Wenn wir diesen, ästhetisch ganz unberechtigten Kernpunkt des Stückes nicht begreifen können, dann müssen wir uns an die eigenthümliche Art und Weise, wie Sheakespeare ganz lose, unzusammenhängende Fabeln benutzte, um daraus seine herrlichsten Dramen zu machen, vor Augen halten. Die Fabel des Kaufmanns von Venedig, die wie der berühmte Forscher Max Müller nachgewiesen, bereits in der indischen Götterlehre, anläßlich eines Streites zwischen Indra und Ugni vorkommt, ist aus zwei ursprünglich getrennten Erzählungen, von dem Rechtshandel um das Pfund Fleisch und von den drei Kästchen zusammengeschmolzen. Beide finden sich in der bekannten Sammlung der Gesta Romanorum. Vielleicht ist der Stoff des Stückes schon vor Sheakspeare in einem älteren Stücke bearbeitet worden; Gosson spricht in seiner „Schule des Mißbrauches“ von einem Stücke „Der Jude“, dessen Inhalt die Habsucht weltlicher Freier und die Blutgier der Wucherer darstellt. Wenn Sheakespeare den Shylok zu einem Juden macht, dann müssen wir uns nur an die Zeit erinnern, in der er lebte. Unterschied sich doch dieselbe, was das Verhältniß des Christenthums zum Judenthume anbelangt, auch nicht durch das Allergeringste von den heutigen, wurzelte doch auch sie in dem tiefsten Hasse gegen Alles, was jüdisch war. Wo hätte Sheakespeare einen bes- seren Repräsentanten für die Symbolisirung des herzlosesten Geizes finden können, als in dem er Einen aus jenem verachteten und weniger als das Thier geschätzten Volke, dem Judenthume, nahm, das von jedem Sonnenstrahl der freien Selbstentwickelung mit der Hetzpeitsche zurückge- trieben, erkannt hatte, daß es nur durch die Macht des Geldes sich aus seiner geknechteten Parialage befreien könne. Wie hätte Sheakespeare es wagen dürfen in seiner Zeit, in der des strengsten Puritanismus, einen Christen so zu zeichnen, wie er es mit dem verachteten und gebrandmarkten Judenthum durfte.

Wollte aber Sheakespeare durch seinen Shylok absichtlich das Judenthum brandmarken, oder war nicht vielmehr er, der in allen seinen Werken die Beziehungen der Religionen vermeidet, nur durch die Verhältnisse seiner Zeit gezwungen, einen inferioren Juden als ein unbeanständetes Vorbild für seinen Shylok, dieses von der Leidenschaft des Goldes dämonisch durchwühlte Unding, zu nehmen? Was wußte Sheakespeare von der Emancipation der Juden? Und trotz Alledem können wir ganz unbefangen die Behauptung aufstellen, daß durchaus keine antisemitischen Motive, kein wüthender Haß Sheakespeares gegen die Juden ihn dazu veranlaßten, Shylok zu einem Juden zu machen, den der Schauspieler Bourbadge zu Sheakespeares Zeiten auch in eckelhafter äußerer Gestalt, mit langer gebogener Nase und brennend rothem Haare gab. Und wenn in diesem Stücke der Jude Shylok von glühendem unerbittlichen Hasse gegen den Christen Antonio erfüllt ist, wer darf deshalb behaupten, daß das ganze Judenthum von demselben Hasse gegen das Christenthum erfüllt sein müsse. Shylok sieht sich in seinen allerheiligsten Interessen, in denen des Gelderwerbes von dem Christen Antonio getäuscht; und nur deshalb haßt er ihn, nicht weil er ein Christ ist, sondern weil er durch ihn beschimpft, verhöhnt wird und materielle Einbuße erleidet. Nicht gegen den Christen Antonio wüthet sein Haß, nur gegen den unpraktischen Kaufmann, der schon in der Nutzbarmachung des Capitals durch Zinsen den ärgsten Wucher erblickt, und von falschen Principien geleitet, den Werth des Geldes herabzudrücken versuchte. Also nicht auf dem Boden religiöser Gesinnung wurzelt der Haß zwischen dem Juden Shylok und dem Christen Antonio, sondern auf dem ihrer gemeinsamen Kaufmannsinteressen. Noch zwei gewichtige Factoren sind es, die uns zur Ueberzeugung führen müssen, daß Sheakespeare durchaus nicht von Judenhaß erfüllt war, und daß zwischen Shylok und dem wahren Judenthume ein greller unlösbarer Widerspruch besteht.

Wenn es Sheakespeare darum zu thun gewesen wäre, durch seinen Shylok das ganze Judenthum als unmenschlich und grausam darzustellen, wie hätte er dann Jessika, dem Judenmädchen einen so innigen herrlichen Charakter verleihen können. Was den zweiten Widerspruch anbelangt, so ist derselbe von solcher Kräftigkeit, daß selbst die erbittertsten Feinde des Judenthums es anerkennen müßten, daß Shylok und das Judenthum die disparatesten Dinge sind. Wenn der durch Jahrtausende eingewurzelt und fast unauslöschbare Haß den Juden auch alle möglichen Laster und Fehler vindicirt, an dem innigen Verwandtschaftsverhältniß, an der unendlichen Liebe der Eltern zu ihren Kindern bei den Juden, und umgekehrt, hat noch Niemand gerüttelt. Wissen es doch Alle, daß der Jude keine, auch noch so schwere Last scheut, wenn es gilt, seinen Kindern Gutes zu erweisen, und er hungernd und frierend, verhöhnt und gemartert, in seinem heiligsten Gefühle, das er seit seiner Jugend gleichsam als Ideal in sich getragen, in seiner Religion verletzt und geschmäht, doch Alles geduldig erträgt und sich freudig die bittersten Opfer auferlegt, nur um seine Kinder froh und zufrieden zu sehen. Und Shylok, der freudig aufjauchzen möchte, wenn er seine Tochter selbst todt zu seinen Füßen sehen würde, aber nur mit den kostbaren Juwelen im Ohre und den ihm genommenen Dukaten, Shylok, der lieber den Tod seines einzigen Kindes, als den Verlust einiger Goldstücke herbeiwünscht, könnte ein Jude sein! Freilich, wer in jedem Juden gleich a priori schon einen Shylok erblickt, dem dürfte diese Beweisführung nicht besonders kräftig erscheinen, für den ist allerdings nicht Nathan, sondern Shylok getroffenes Portrait des Judenthums und seiner Eigenschaften. Und trotzdem wollen wir hoffen, daß einst die Zeit kommen wird, wo von allen insgesammt die Idee Nathan’s aufgenommen und ins wirkliche reale Leben übertragen werden wird.