GRONEMANN, SAMMY: EINE DEHMEL-ERINNERUNG

 Zur Biographie: Sammy Gronemann

In: Neue jüdische Monatshefte. Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Literatur in Ost und West, 4. Jahrgang, Ausgabe 11/12 vom 10./25.03.1920, S. 261ff

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[Quelle: Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, Compact Memory; https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/titleinfo/2908689]

In seinem Kriegstagebuch „Zwischen Volk und Menschheit“ hat Dehmel die verhältnismässig kurze Zeit, welche er in Kowno beim Buch-Prüfungsamt des Stabes Ober-Ost verbracht hat (4. September bis 10. November 1916) ziemlich kurz behandelt. Von dem, was er dort vom jüdischen Volksleben beobachtet hat, spricht er fast gar flicht. Das liegt offensichtlich mehr an äusseren Umständen und daran, dass er bei der Redigierung der letzten Abschnitte seines Buches durch die grossen Umwälzungen in Deutschland innerlich so stark in Anspruch genommen und aufgewühlt war, dass ihm eine beschauliche Schilderung unmöglich wurde. Mir aber, der ich das Glück hatte, in jener Zeit mit ihm in Berührung zu kommen, hat sich naturgemäss vieles unverwischbar eingeprägt, was ihm bei der Niederschrift wenig bedeutsam erschien und was vielleicht auch für das allgemeine Publikum nicht allzu grosses Interesse besitzt. Einiges davon möchte ich wiedergeben.

Dehmel fuhr auf einige Tage nach Wilna, um diese Stadt kennen zu lernen und speziell auch das jüdische Leben dort. Ich riet ihm, es so einzurichten, dass er am Versöhnungstag dort den Gottesdienst in der alten Synagoge besuchen könne. Er kam im höchsten Masse angeregt und interessiert zurück. Über den Eindruck, den Wilna auf ihn gemacht hatte, sprach er geradezu überschwänglich. Er erklärte, dass Wilna auf ihn einen grösseren Eindruck gemacht habe, als selbst Rom. Vor allem hatte ihn das Treiben in den engen Gässchen um die Deutsche Strasse herum, das eigentliche Judenviertel, gefesselt. Der Höhepunkt aber war, wie ich es nicht anders erwartet hatte, der Gottesdienst in der alten Synagoge. Er hatte den wundervollen Herschmann vorbeten gehört und behauptete, das sei mit der höchste künstlerische Eindruck seines Lebens gewesen. Vor allem aber, sagte er, sei ihm im Tempel zu Wilna zum erstenmal der Begriff der „betenden Gemeinde“ aufgegangen, jetzt erst glaube er auch das Volk der Psalmen zu verstehen, jetzt wisse er, was es heisse, wenn der Ruf einer Menge zum Himmel emporsteigt. —

An einem Sabbatmittag geleiteten Hermann Struck und ich den Dichter zu dem primitiven aber vorzüglichen jüdischen Restaurant von Michelsohn, in dem wir ständig assen, um ihn mit den traditionellen Sabbatgerichten bekannt zu machen. Dehmel war an jenem Tage in grosser Erregung. Er hatte an diesem Sabbat vormittag einen besonders heftigen Zusammenstoss mit der Bürokratie gehabt und zog unterwegs gewaltig über die Machthaber her, welche dort durch schematische Verordnungen und in bornierter Überheblichkeit allerhand Unheil stifteten. Was er da auszusetzen hatte, kann in seinem Buch nachgelesen werden. Aber damals liess er sich mit einer Urwüchsigkeit und Offenheit, die kaum zu überbieten war, über diese Dinge aus und speziell auch über das Unverständnis, mit dem den jüdischen Wünschen und Eigenheiten gegenübergetreten wurde. Er erklärte schon damals, zornig den Stock aufs Pflaster stossend, dass seines Bleibens dort nicht lange sein und dass er vermutlich mit einem grossen Krach verschwinden würde. Bei Tisch kam etwas von dem Geist des Sabbatfriedens auch über ihn und beim Genuss des Schalet, des gefüllten Hälschens, der Kuggel, glätteten sich allgemach seine Zornesfalten und die beängstigende Röte seines Gesichts schwand. Er sass zwischen unserem Feldrabbiner Dr. Rosenack und Struck. Der Rabbiner gab allerhand hübsche Geschichten aus dem Midrasch zum besten. Ich machte gewissenhaft darauf aufmerksam, dass es nicht ganz sicher sei, ob der dort zulande übliche Schalet ganz identisch mit dem von Heinrich Heine besungenen Nationalgericht sei, da am Rhein sich eine besondere Tradition in der Schaletbereitung entwickelt habe, während Struck, der sich ganz als Impresario der jüdischen Küche fühlte, mit ängstlichen Hausfrauenblicken darüber wachte, dass seine bis ins kleinste am Tage vorher gegebenen Anordnungen befolgt würden,- hatte er doch sogar eine weisse Schürze für Frau Michelsohn und ein frisch geputztes Besteck durchgesetzt. Dehmel liess sich trotz meiner küchenphilologischen Bemerkungen den Schalet gut schmecken, den er offenbar ebenso zu würdigen verstand, wie es einige Zeit vorher Herbert Eulenberg getan hatte, und hörte still und warm interessiert die Sabbatgesänge und das Tischgebet an. –

Dehmel erwähnt in seinem Buch auch die Vortragsabende, die ein Kreis von intellektuellen Landsturmleuten — er setzt hinzu „meist Zionisten“ — in Kowno veranstaltete. Dieser Montagstammtisch, begründet von Hermann Struck, Hans Goslar und dem Theaterdirektor Werth, war eine prächtige Einrichtung, eine wahre Oase in der Wüste des Kommisses. Keiner der Teilnehmer wird die köstlichen Abende vergessen und die in Berlin wohnenden ehemaligen Stammtischgenossen treffen sich noch jetzt von Zeit zu Zeit unter dem Namen der „Ehemaligen Intellektuellen“, um Erinnerungen zu feiern. Von bekannteren Zionisten fanden sich da unter anderen neben Struck und mir, Hans Goslar, Arnold Zweig, Heinrich Auerbach, von anderen Teilnehmern erwähne ich Herbert Eulenberg, Professor Bergströsser, die Maler Magnus Zeller, Schmidt-Rudloff, die Redakteure Kühl, Buhl, Guschmann, Dengler usw., dann Josef Carlebach, Leo Deutschländer, die Ärzte Dr. Felix Rosenthal, Dr. Hamburger, ferner von Wilpert, Müller-Jagusch und viele andere Schriftsteller, Künstler und Akademiker. Die Genannten waren zwar nicht alle gleichzeitig da, (aber immer war die Tafelrunde überaus interessant zusammengesetzt.

Es wurde irgendein Vortrag gehalten und dann debattiert. Die Debatten wurden mit äusserstem Freimut geführt und endigten fast immer in einer Auseinandersetzung über die Nationalitätenfrage. So konnte es nicht fehlen, dass die zionistische Frage fast an jedem Abend lebhaft erörtert wurde. An einem Abend nahm Dehmel Gelegenheit, als wir wieder lebhaft den Zionismus besprachen, in die Debatte einzugreifen. Wenn ich nicht irre, war das an dem Tage, da Hans Goslar ein Referat über den Zionismus gehalten hatte. Dehmel nahm mich, der ich in der Diskussion gesprochen hatte, ins Kreuzverhör. Er wollte von mir absolut heraushaben, ob wir Zionisten denn im Endziel für einen unabhängigen eigenen Staat wären oder nicht. Es stellte sich heraus, dass nach seiner Anschauung wir Zionisten alle ihm nicht weit genug gingen. Er begriffe, sagte er, recht wohl, dass unser Programm zunächst eine öffentlich rechtlich gesicherte Heimstätte verlange, zum Endziel aber müssten wir uns einen absolut freien Staat nehmen; denn nur in einem solchen und durch einen solchen liessen sich unsere nationalen Ideale verwirklichen. An jenem Abend war er von der Grösse der zionistischen Idee durchdrungen und sprach eigentlich fanatischer, wie der rabiateste Zionist. —

Zum Schluss möchte ich eine Episode erwähnen, die an sich mit jüdischen Dingen vielleicht wenig zu tun hat, die aber besser als alles andere zeigt, wie Richard Dehmel die eigenartige Situation dort im Osten erfasst hatte, in der ein erbitterter Kampf zwischen Zivilisation und Kultur geführt wurde— wie er dort in das Verständnis der eigenartigen nationalen Kulturen, die dort zusammenstiessen, eingedrungen war. Im Hause des Oberleutnants Fr. , des „bezaubernden Kerlchens“, von dem er in seinem Buch spricht, wurde eines Tages eine ungeheuer lustige karnevalistische Feier zu Ehren Strucks veranstaltet. Ich war leider damals nicht zugegen, aber nach den Schilderungen der Teilnehmer, Dehmel, Eulenberg, Zeller und Struck, muss es eine herrliche Sache gewesen sein. Jeder hatte etwas beigesteuert. Zeller hatte eine parodistische Struckausstellung zusammengemalt (deren einzelne Stücke wohl noch vorhanden sind und die zum Schmücken ihres Heims sich schenken zu lassen ich unseren Mädchenklubs eigentlich nur bedingt empfehlen möchte) — Eulenberg hielt die Festrede, der Oberleutnant besorgte den musikalischen Teil — Dehmel hatte ein wunderhübsches Gedicht beigesteuert. Das hatte er auf ein Blatt geschrieben, das mit einer hübschen handgemalten Randleiste versehen war. Auf die Rückseite des Blattes schrieb Dehmel etwa folgendes: ,,Diese Randleiste hat ein litauischer Bauer gemalt, der weder lesen noch schreiben kann. Es ist anzunehmen, dass die deutsche „Kultur“ mit dieser „Barbarei“ bald aufgeräumt haben wird.“ Für uns alle, die wir in jenen Monaten mit Dehmel zusammen sein durften, bedeutet die Erinnerung ein unverlierbares Gut.