KOMPERT, LEOPOLD: NICHT STERBEN KÖNNEN. EINE LEGENDE AUS DEM GHETTO.

Zur Biographie: Leopold Kompert

In: Sonntagsblätter, Wien, 2.1.1848, S. 7-8.

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Nicht sterben können. Eine Legende aus dem Ghetto.

Von Leopold Kompert

In stiller Nacht war es einmal dem Schulklopfer, als hörte er den Hammer, womit er Früh Morgens und Abends die Leute zur Synagoge rief, in leisen Schwingungen auf und nieder gleiten. „Der Hammer läßt mich nicht schlafen“, sagte er zu seiner Tochter, die ebenfalls wach den unheimlich leisen Schlägen lauschte. „Einer wird sterben wollen in der Gasse“, sagte sie schaudernd, aber gleich darauf schrie sie in ungeheuerer Angst: „Schmah Israel! (höre Israel) der Rabbi wird`s seyn.“ In demselben Augenblicke hörten die Schwingungen des Hammers auf; draußen aber pochte Jemand ans Fenster und eine hastige Stimme rief: „Steht auf, und geht in Schul klopfen, die Leut` sollen Thillim (Psalmen) sagen, denn der Rabbi liegt im Sterben.“ In stiller Nacht ertönten nun die drei bekannten Zeichen des Hammers an jeder Thüre, aufschauernd in den innersten Fasern ihrer Seele hörte die Tochter, wie ihr Vater von Haus zu Haus schritt, und als nun der letzte Schlag an der letzten Thüre der Gasse verschollen war, meinte sie, jetzt müsse der Rabbi seinen letzten Athemzug gethan haben. Da mußte sie bitter weinen. Aber das Thillimsagen der Leute hielt seine scheidende Seele noch zurück, dennoch wichen die Schatten des Todes nicht vom Rabbi. Früh Morgens war er sterbender, und seine Bochrim (Schüler) wehklagten lauter. Man nahm nun Wachs und Docht, man maß die ganze Körperlänge des kranken Rabbi, und formte darnach ein riesiges Licht. Dem zog man Sterbekittel an, und trug es dann hinaus auf den „guten Ort“, (Friedhof), wo man es zu den Todten begrub. Dennoch mußte man bald darauf denken, die Körperlänge des Rabbi – – für die sechs Breter seines Sarges zu brauchen. „Gott, starker Gott!“ schrieen die Bochrim, „was sollen wir denn anfangen, daß der Rabbi leben bleibt?“ – „Kommt Jahre für ihn fangen“, sprach darauf Einer, „vielleicht hört uns Gott.“ Ein Bocher ging nun von Haus zu Haus, ein Papier in der Hand, dahin ein Jeder schrieb, wie viel Jahre, Wochen oder Tage seines eigenen Lebens er für den sterbenden Rabbi gab. Des Schulklopfers Tochter stand vor der Hausthüre, als der Bocher mit dem Papiere gerade vorbeiging. „Und du gibst nichts für den Rabbi her?“ rief er ihr zu. – „Mein Leben, mein ganzes Leben geb` ich für ihn“, sprach sie schluchzend. „Soll ich das einschreiben?“ – „Schreibt, schreibt!“ So zeichnete der Bocher das Leben Hannele`s ein. Zur selben Stunde genas der Rabbi, am andern Tage begrub man eine junge Leiche auf dem „guten Ort“ – nun, es war des Schulklopfers Tochter. Aber so hastig das Mädchen unter die Todten gegangen war, so schwer fiel es nun dem Rabbi, seinen Nahmen aus dem Buche der Lebenden wegzulöschen. Es war merkwürdig, in der ersten Zeit nach seiner Genesung war der Rabbi fröhlich und guter Dinge; er blühte in wunderbarer Kraft wieder auf. Dann aber ward er schwermüthig und bleich; die Leute wußten nicht, woher das kam. Die Leute wußten nicht, daß, wenn der Rabbi in später Nacht über der Gemarah saß und lernte, unten im Hofe ein leiser Gesang ertönte, und daß, wenn er das Fenster öffnete, ein schönes Mädchen dastand, dessen Todeslächeln er durch den Schleier der Finsterniß hinaufleuchten sah. „Sie könnte jetzt singen, und frei seyn, wie der Vogel in der Luft“, dachte dann der Rabbi, und in stiller Nacht weinte er über den dumpfen Blättern der Gemarah. Einmal um Mitternacht erschollen bange Wehklagen um das Haus, sonderbare Töne, wie sie der Schmerz erpreßt. Gleich darauf hörte er die Stimme eines neugebornen Kindes. „Weh` geschrien!“ rief der Rabbi, „um das hab` ich sie gebracht.“ In jeder Nacht vernahm er nun dies Kinderwimmern, dazwischen aber auch so himmlische Wiegenlieder, daß er aus tiefstem Herzensgrunde weinen mußte. Sechsmal wiederhohlten sich die Schmerzensklagen jener Nacht, dann kam das Neugeborne, dann die wunderbaren Wiegenlieder. Dann ward es lange still, einmal jedoch erscholl wieder schöner, jubelnder Gesang, und der Rabbi wußte: „Jetzt macht ihr erstes Kind Bar-Mitzweh (das ist die Feierlichkeit des dreizehnten Lebensjahres bei den Knaben), ich hab` sie darum gebracht.“ Wieder ward es still, bis nach Jahren einmal neuer, schöner Gesang ertönte, und der Rabbi wußte: „Jetzt führt sie ihre Tochter unter die Chuppe, (das ist unter den Trauungshimmel), ach und weh, ich hab` ihr das genommen.“ Nie kam nun die Stimme klagend oder weinend; immer war es herrlicher, unaussprechlich süßer Gesang und der Rabbi ward inne: „Eine glückliche Mutter wär` sie geworden, ich hab` ihr das vernichtet.“ So lebte der Rabbi das ganze Daseyn des Mädchens durch, ja ihn gelüstete es einmal, die schönen Melodien verstummen und Wehklagen dafür zu hören, daß er doch wüßte, sie hätte auf Erden gelitten. Aber das kam nicht, und der Rabbi weinte über der Gemarah: „So glücklich wäre sie geworden!“ Nun wollte er sterben, vergehen; der Gesang ermüdete sein Leben; dennoch konnte er nicht sterben. So war er alt und greisenschwach geworden; die Leute in der Gemeinde sanken vor ihm ins Grab, ja selbst die Kinder, die er einmal gebenscht (gesegnet), schlichen nun als finstere, hinfällige Alte herum, und höhnten furchtlos mit ihrer Krücke dem Tode. Sie starben; er aber konnte es nicht. „Wann ist`s an der Zeit, du Mädchen?“ fragte er oft, „wie lang willst du denn leben?“ Da ertönte einmal um Mitternacht ein banger Wehruf, wie der eines Sterbenden vom Hofe herauf. „Jetzt ist sie todt“, sagte der Rabbi, „Gott sey ewig Dank!“ Früh Morgens fanden ihn die Bochrim entseelt vor der Gemarah sitzen.