Geb. 6.4.1812 in Danzig, gest. 12.2.1884 in Berlin. Deutsch-jüdischer Schriftsteller und Publizist, Naturwissenschaftler, Mitbegründer der liberalen jüdischen Reformgemeinde Berlin
Aron Bernstein wuchs in Danzig in einer traditionellen jüdischen Familie auf, die er mit 13 Jahren auf Wunsch des Vaters verließ, um sich in einer Talmudschule in Fordon, einem Städtchen an der Weichsel mit überwiegend jüdischer Bevölkerung, zum Rabbiner ausbilden zu lassen. Vermutlich ohne die Rabbinatsprüfung abgelegt zu haben, übersiedelte er im Sommer 1832 nach Berlin, wo er zunächst als Hebräisch-Lehrer in kleinen Betschulen seinen Lebensunterhalt erwarb und sich im Selbststudium der deutschen Sprache sowie der Aneignung eines umfassenden Allgemeinwissens widmete. Bereits zwei Jahre später trat er mit seiner ersten monographischen Arbeit hervor, einer Übersetzung des Hohen Liedes Salomos, die, wie die meisten seiner frühen Arbeiten, unter dem anagrammatischen Pseudonym „A. Rebenstein“ erschien. An dieser mit einem Vorwort und mit kritischen Anmerkungen von Leopold Zunz versehenen Bearbeitung zeigt sich das für die „Wissenschaft des Judentums“ kennzeichnende philologische Interesse an der Hebräischen Bibel, wie es Bernstein später auch mit seiner 1871 publizierten bibelkritischen Studie über den Ursprung der Sagen von Abraham, Isaak und Jakob demonstrierte.
Ab 1834 publizierte Bernstein auch erste literaturkritische, literarische und geschichtsphilosophische Arbeiten in renommierten Periodika, wie etwa der von Willibald Alexis herausgegebenen Zeitschrift „Der Freimüthige“ oder dem von Friedrich Wilhelm Gubitz edierten „Gesellschafter“. Seine frühen publizistischen Arbeiten sind geprägt von seiner Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Literatur und hier insbesondere seiner Parteinahme für Heinrich Heine. 1834 erschien im „Freimüthigen“ eine in Versform abgefasste emphatische Hommage an den Dichter, den er in seinem 1835 in den „Blättern für literarische Unterhaltung“ veröffentlichten Artikel Die jüngst ausgebrüteten Anti-Heinianer auch gegenüber Ludwig Börne verteidigte. Eine 1838 in Buchform herausgegebene Sammlung von Arbeiten, die Bernstein seinen Förderern und Freunden Varnhagen von Ense und Gubitz widmete, enthielt neben einer populärwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Geschichtsphilosophie Hegels und dem Wiederabdruck seiner ersten öffentlichen Stellungnahme zu Fragen der Reform des Judentums literaturkritische Artikel zu Goethe sowie Adalbert von Chamisso. Wie Goethe wird sich Bernstein später auch der Naturforschung zuwenden und sich als Vermittler aktueller naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse einen Namen machen.
Sein beginnendes Interesse an naturwissenschaftlichen Fragestellungen dokumentiert seine Schrift über Die Gesetze der Rotation, die zeitgleich mit seinem Willibald Alexis und Theodor Mundt gewidmeten Band Novellen und Lebensbilder 1840 erschien. Seine 1842 anonym veröffentlichte Streitschrift Zahlen frappieren!, eine Verteidigung des preußischen Finanzministeriums gegenüber einer Attacke Ernst von Bülow-Cummerow, mit der sich Bernstein als einer der ersten Publizisten Deutschlands für die Anwendung der Statistik zur politischen Meinungsbildung einsetzte, markiert den Beginn seines langjährigen politischen Engagements, dem er ab 1849 in der von ihm gegründeten und von Theodor Heymann verlegten „Urwähler-Zeitung“ sowie ihrem Nachfolgeorgan, der ab 1853 im Verlag Franz Dunckers erschienenen „Volks-Zeitung“, in Form von täglichen Leitartikeln Ausdruck verlieh.
Die 40er Jahre bis zur Zäsur, die das Revolutionsjahr 1848 für Bernstein bedeutete, sind durch sein Engagement als Religionsreformer gekennzeichnet. Nachdem er in den Jahren 1843/44 unter dem Pseudonym „Rebenstein“ in der Monatsschrift „Zur Judenfrage“ mehrere Beiträge veröffentlichte, die sich für eine radikale Umgestaltung des Judentums einsetzten, trat er im April 1845 mit dem wesentlich von ihm mitgestalteten Aufruf an unsere deutschen Glaubensbrüder an die Öffentlichkeit. Dem Aufruf, der in seiner Bedeutung mit Luthers Thesen verglichen wurde, folgte wenige Wochen später die Gründung der „Genossenschaft für Reform im Judentum“. Zu den zahlreichen von der Bewegung umgesetzten Neuerungen zählten die Abschaffung des Hebräischen als Gebetssprache, die Aufhebung der Geschlechtertrennung in der Synagoge und die Einführung eines Sonntagsgottesdienstes. Auch nach seinem Rückzug aus dem aktiven Gemeindeleben blieb Bernstein der Reformbewegung verbunden, deren Positionen er etwa in einer Publikation zum 20. Jahrestag des Aufrufs 1865 verteidigte. Noch 1880 formulierte er in einer Folge von Artikeln, die unter dem Titel Ein Wort zur Judenfrage in der „Volks-Zeitung“ erschienen und in die Debatten zum „Berliner Antisemitismusstreit“ eingriffen, ein Bekenntnis zu einem Judentum, das auf Vorstellungen einer „jüdischen Nation“ verzichtet.
Die Urwähler-Zeitung, die hervorging aus den revolutionären Ereignissen im März 1848, an denen Bernstein als Barrikadenkämpfer in Berlin aktiv beteiligt war, stellte mit ihrer Orientierung an der breiten demokratischen Bevölkerungsschicht – als ein, wie es im Untertitel heißt, „Organ für Jedermann aus dem Volke“ – und dem tagtäglich auf der ersten Seite publizierten Leitartikel einen Meilenstein in der Geschichte der politischen Tagespresse Deutschlands dar. Wie in seinen Leitartikeln, die während seiner Inhaftierung aufgrund seines Kampfes gegen die Reaktion in Preußen auch aus dem Gefängnis geschmuggelt wurden, trat Bernstein auch in seinen politisch-historischen Schriften für die Überwindung des Absolutismus durch den Verfassungsstaat und den Ausbau demokratischer Grundrechte ein. Seine 1873 verfassten Schriften zum Revolutionsjahr sowie seine 1881 veröffentlichte Darstellung der Phase der Reaktion fasste er zu einer dreibändigen Buchausgabe zusammen, die 1883 unter dem Titel Revolutions- und Reaktionsgeschichte Preußens und Deutschlands von den Märztagen bis zur neuesten Zeit erschien. Sie stellt eine zentrale Quelle für die Geschichte des politischen Liberalismus in Deutschland dar.
Besonderes Ansehen – auch unter seinen politischen Gegnern – erwarb sich Bernstein mit seinen in der „Urwähler-Zeitung“ und der „Volks-Zeitung“ wöchentlich publizierten allgemein verständlichen Artikeln zu aktuellen Fragen der Astronomie, Physik, Chemie, Meteorologie, Physiologie, Geologie, Botanik oder Biologie, durch die insbesondere die „Volks-Zeitung“ einen über die Parteigrenzen hinausgehenden Leserkreis fand. Der Wiederabdruck dieser Artikel in den Naturwissenschaftlichen Volksbüchern, die ab 1852 erschienen, mehrfach übersetzt wurden und in der vierten, von 1880 bis 1885 herausgebrachten, Auflage 21 Bände umfassten, machte Bernstein zu einem internationalen Pionier in der Popularisierung naturwissenschaftlicher Forschung. Die Publikationen trugen ihm nicht nur die Anerkennung Alexander von Humboldts ein, mit dem er persönlich bekannt war, sondern hatten auch Einfluss auf die intellektuelle Sozialisation Albert Einsteins.
Die Tätigkeiten Bernsteins im Bereich der Naturwissenschaften erstreckten sich auch auf das praktische Feld. So experimentierte er in seinem in den fünfziger Jahren eingerichteten privaten Labor unter anderem mit der Photographie, deren kulturelle Bedeutung er etwa in einem 1862 erschienenen Essay für Berthold Auerbachs „Volks-Kalender“ darlegte. Darüber hinaus gelang es ihm mit einer 1856 patentierten Erfindung das Problem der Mehrfachtelegraphie zu lösen. Weitere Erfindungen umfassten einen sogenannten Münzenprüfer und die automatische Schrankensicherung für Eisenbahnübergänge. Auch wenn ihm eine breite gesellschaftliche Anerkennung seiner Leistungen auf praktischem Gebiet versagt blieb, so wurde ihm mit der Zuerkennung der Ehrendoktorwürde, die ihm von der naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen 1877 verliehen wurde, eine besondere Auszeichnung für seine Verdienste um die Vermittlung naturwissenschaftlicher Forschung zuteil.
Seinen literarischen Erfolg feierte Bernstein mit seinen 1857 und 1858 in Philipp Wertheims „Kalender und Jahrbuch für die jüdischen Gemeinden Preußens“ publizierten Ghettonovellen Vögele der Maggid und Mendel Gibbor. Die beiden Erzählungen, die sich durch subtile emanzipatorische Tendenzen und den Einsatz einer Vielzahl jiddischer und hebräischer Elemente auszeichnen, wurden bereits 1860 in Buchform herausgebracht, die Anfang der neunziger Jahre in siebenter Auflage erschien. Die Novellen wurden für ein nicht-jüdisches Publikum sprachlich bearbeitet sowie auch ins Dänische, Jiddische, Niederländische, Polnische und Russische übersetzt. 1885 erfolgte mit der Aufnahme von Mendel Gibbor in den von Paul Heyse herausgegebenen Deutschen Novellenschatz eine Integration der Erzählung in den Kanon deutschsprachiger Novellistik.
Materialien und Quellen:
Bernstein, A(a)ron David. In: Renate Heuer (Hg.): Lexikon deutsch-jüdischer Autoren. Bd. 2. München et al. 1993, 289–300.
Glasenapp, Gabriele von: Bernstein, Aaron (A. Rebenstein). In: Andreas B. Kilcher (Hg.): Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Stuttgart 2003, 62–64.
Nicolas, Marcel: Bernstein, Aaron. In: Neue Deutsche Biographie. Bd. 2. Berlin 1955, 133.
Online: https://daten.digitale-sammlungen.de/0001/bsb00016318/images/index.html?seite=153
Schoeps, Julius H.: Aron Bernstein – ein liberaler Volksaufklärer, Schriftsteller und Religionsreformer. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 28/3 (1976), 223–244.
Schoeps, Julius H.: Bürgerliche Aufklärung und liberales Freiheitsdenken. A. Bernstein in seiner Zeit. Stuttgart/Bonn 1992.
Robert Weltsch, Marcus Pyka: Bernstein, Aaron David. In: Encyclopaedia Judaica. 2. Aufl. Band 3, Detroit/New York u. a. 2007, S. 476–478 (englisch).
(AS)
Quellentexte:
➥ Vögele der Maggid. Eine Geschichte aus dem Leben einer kleinen jüdischen Gemeinde