Zur Biografie: Israel Josef Benjamin II

In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 3. Jahrgang, Ausgabe 13 vom 27.03.1863, S. 157f

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Der Geist Amerikas in gegenwärtiger Zeit.
Vor uns liegt eine kleine Broschüre, ein Vortrag, der von einer Dame über „Amerika und seine Bestimmung“ zu Newyork gehalten wurde, da, wie sie sagte, „die Geister“ ihr diesen Ort hiefür bestimmt hatten. Die Sache fand Glauben, und man strömte von allen Seiten herbei, um den Eingebungen des Geistes, der die Dame beherrsche, zu lauschen. Die Eine Thatsache charakterisirt den Geist Amerikas; es ist zu beklagen, daß solch’ eine grobe Bethörung Bewunderer und Anhänger unter einem Volke finden konnte, welches Morse und Mitchell in seiner Geographie „das am meisten erleuchtete“ titulirt. Wie soll man noch der Zauberei, Verhetzung oder den übrigen abergläubischen Ansichten, welche die Menschheit von jeher hegte, zürnen, wenn „das am meisten erleuchtete“ Volk an solchen Täuschungen Gefallen findet und in seiner Mitte Mormonen, Milleriten und ähnliche abnorme Erscheinungen liegen! Wozu noch sprechen über die Verblendung des Mittelalters, wenn wir mit unsern eigenen Augen sehen, daß „das am meisten erleuchtete“ Volk den Vertretern jenes Aberglaubens zuströmt und man sicher sein kann, ein Ding finde umsomehr Bewunderer, Unterstützer und Vertheidiger, je größer, abgeschmackter und absurder es ist. Der ruhige und leidenschaftslose Beobachter möchte bei solchen Erscheinungen fast völlig an dem Bestehen des gesunden Menschenverstandes zweifeln, und sehr nahe liegt der Gedanken, daß die Welt am leichtesten von Betrügern und Schlauen beherrscht wird. Es ist hart, ein solches Wort zu sprechen, aber es muß gesprochen sein; der ist nicht der wahre Freund, der seinem Nachbar nur schmeichelt, und die Flecken in seinem Charakter vergoldet oder doch beschönigt. Der ist demnach auch kein Freund des amerikanischen Volkes, welche die Selbsttäuschung und Selbstgefälligkeit, an der die Amerikaner leiden, noch steigert und unterstützt. Ein wahrer Freund spricht ein ehrenhaftes Wort zur rechten Zeit, mag es auch noch so bitter klingen (Spr. Sal. XII, 17). – Der Schreiber dieser Zeilen liebt dieses Land und dieses Volk wie sein eigenes, und wählte sich beides als sein eigenes aus freier ungezwungener Wahl. Man mag ihm auch ein freies Wort zu sprechen erlauben, kommt es ja nicht aus der Sucht, zu tadeln und zu mäkeln.

Vor Allem müssen wir – als naturalisirter Amerikaner erlaube man mir den Ausdruck wir – denn erwähnen, daß es eine große Selbsttäuschung ist, wenn wir behaupten, daß wir „das am meisten erleuchtete“ Volk seien. In unserem Vaterlande haben wir nicht einen einzigen Sitz der Wissenschaft, den man mit den kleinen Universitäten von Padua, Jena, Göttingen oder Halle vergleichen könnte; der berühmten Universitäten in England oder Frankreich, in Berlin, St. Petersburg oder Wien gar nicht zu gedenken. Das ist einer der sichersten Maßstäbe für die Bildung. Die Erleuchtung ist nicht eine von selbst wachsende Pflanze, welche ohne alle Mühe und Handanlegung aus dem Boden hervorsproßt; sie ist vielmehr eine Blüthe, die ohne die helfende Hand des Menschen sich niemals entfaltet. Aus welcher Quelle haben wir denn die so außerordentlich erleuchteten Principien, Ansichten oder Doctrinen geschöpft? Die Erleuchtung muß so gut ihre Leiter haben, als die Electricität, wenn sie sich einem großen Gemeinwesen mittheilen soll; die besten Leiter für sie sind die Schulen und die Presse. Unsere öffentlichen Schulen sind erst zwanzig Jahre als, und tragen noch die Mängel an sich, mit denen neue Institutionen gewöhnlich behaftet sind. Die Oberflächlichkeit unserer Collegien, Akademien, Seminare ist sprichwörtlich geworden. Junge Damen studiren Astronomie ehe sie recht buchstabiren können, junge Männer erhalten den Doctorgrad, nachdem sie die ganze durcheinandergemischte Masse von Griechisch, Latein, Mathematik, Französisch, Deutsch, Natur-Philosophie, Chemie, Geschichte, Geographie, Logik, Mental- und Moralphilosophie und noch anderen Studien in zwei oder drei Jahren durchgemacht haben; ohne auch nur eines von Allen tief gefaßt zu haben. Schneider, Schuhmacher, Landbebauer oder Ladendiener werden in 32 Wochen in Aerzte umgewandelt – Polizisten, Wächter, Constables werden urplötzlich Advokaten; – jeder Mann fühlt in sich die Anlagen zu einem Prediger, Lehrer, Politiker, Staatsmann und Diplomaten, und findet bald seine Gemeinde und seinen Wirkungskreis. Diese ganze lächerliche Oberflächlichkeit ist dennoch lange nicht so ungeschickt und ekelhaft, als die Pedanterie unserer nur halb gebildeten Schulmänner und Pädagogen, welche den Geist mit Worten und Formeln tödten. Können wir also dieses als eine Quelle ansehen, welche uns zu dem „am meisten erleuchteten Volke“ herangebildet? Welches Verdienst hätten dann die Musterschulen, die Gymnasien und Universitäten? Möge man sich nur nicht selbst hintergehen: Die Schulen sind noch zu jung und die Collegien zu oberflächlich, um uns zu einem erleuchteten Volke heranzuziehen.

Die Presse ist ebenfalls nicht kräftig genug, um das in der Schule Versäumte nachzuholen, nur allzu häufig herrscht hier Prinzipienlosigkeit, die blos darauf ausgeht, Geld zu machen, oder Oberflächlichkeit, die durch Bilder und andere Mittel das Fehlende ersetzen wollen. Auch hierin sind andere Völker noch weit voraus, und es gibt noch kein Blatt, das der Londoner Presse, den französischen und deutschen periodischen Zeitschriften an die Seite zu stellen wäre. Wir sind auch hier noch weit zurück; jegliche Sorte von Verdorbenheit findet in der Presse ihre Vertheidiger und Patrone, wenn sie nur gut dafür zahlt. So kommt es, daß unsere Presse nicht immer der Leuchtthurm für das Gemeinwesen, immer nicht der große Hebel für edle und erhabene Zwecke, nicht der ehrliche und treue Ausleger unserer Tagesgeschichte, nicht die Fackel, die Fortschritt und Wissenschaft trägt, ist, sondern zu Zeiten blos zu einer Speculation in den Händen gewinnsüchtiger Parteien wird, welche nur solche Dinge publiciren, welche aller Aussicht nach am meisten Gewinn abwerfen.

(Fortsetzung folgt.)

Zur Biografie: Oskar Baum

In: Selbstwehr, 20. Jahrgang, Ausgabe 13-14 vom 29.03.1926 im Beiblatt „Blätter für die jüdische Frau“, S. 5

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„Als sie aber den Chor der Propheten begeisterte Lieder singen und Samuel an ihrer Spitze sahen, kam auch über die Boten Sauls der Geist Gottes und auch sie sangen begeisterte Lieder. Saul begab sich wutentflammt nach Rama, um den Rivalen, seinen Peiniger David, auch an der heiligen Zufluchtsstätte zu fassen, aber die Macht der Musik überwältigte selbst seinen angstgereizten Haß. Er geriet ins Rasen, sang verzückt, riß sich die Kleider vom Leibe und blieb zuletzt eine ganze Nacht erschöpft im freien Felde liegen.“ (Erstes Buch, Samuel, 19, 20–24.)

Um wie viel menschlicher, um wie viel wirklicher ist diese rührende Kunstwirkung als die märchenhaften Zaubervorstellungen eines Orpheus zum Beispiel. Und ist es möglich, daß die hebräische, einst so blühende Kunst von kräftiger Originalität und Fruchtbarkeit (mögen nun ihre bescheidenen Anfänge vom Nil oder Euphrat herrühren: Nirgends dort finden wir auch nur ähnliche Kraft) plötzlich oder auch allmählich völlig versiegt wäre?

Könnte man sich vorstellen, daß ein Volk, von dem Josephus (wenn auch gewiß übertrieben) behauptet, daß es 200.000 Sänger, 40.000 Harfenisten und 20.000 Trompeter zur Zeit der Zerstörung von Jerusalem gehabt habe, deren Prophetengesänge und Liebeslieder uns heute noch wie die größten Dichtungen der klassischen Völker bis ins Innerste berühren, daß diese plötzlich oder allmählich völlig ver[unleserlich]. Und abgesehen von den frommen [unleserlich] Geweben der Ka[unleserlich] Talmud hat denn [unleserlich] Poesie des Alltags, der Straßen, der Landstraßen, der Stuben gedichtet: Das Volkslied.

Richard Batka erklärt in seiner „Geschichte der Musik“, daß nur eine recht einseitige Auffassung der Bibel die Meinung verbreiten konnte, die Musik wäre bei den Juden weit mehr als bei anderen alten Völkern aus dem Gottesdienste hervorgegangen und in ihm konzentriert. Und von demselben Irrtum würden wir ausgehen, wollten wir, durch den verwandten Toncharakter verleitet, das jüdische Volkslied von der Synagogenmusik, den alten, berühmten Gebetmelodien (Riggen) ableiten. Ebenso berechtigt wäre die umgekehrte Folgerung. Es stammen eben beide aus derselben Urquelle und eines hat sich durch das andere genährt und entwickelt.

Von einer Entwicklung dieser Musik in unserem Sinne kann freilich nicht die Rede sein, denn sie kam über die Monophonie nur wenig hinaus.

Als die Mauern des Ghettos fielen, und mit der europäischen Kultur auch das Harmoniebedürfnis da war, nahm man sich in der reformatorischen Ungeduld des Anfangs nicht erst die Zeit, auf die Entwicklung im eigenen Stil zu warten, sondern griff nach dem bereitliegenden Fremden.

Jeder, der das Verhältnis von Melodik und Harmonie kennt (und in diesem Falle kamen auch noch die spanischen Stiefel artfremder Rhythmusgesetze hinzu), der weiß, daß dies System geeignet war, jeder Originalität den Atem zu nehmen. Sulzer, der begabte Freund Schuberts, hat seinen großzügigen Versuch nach dieser Richtung selbst nur als provisorisch bezeichnet. Dies läßt auch, wenigstens einigermaßen, begreiflich erscheinen, daß viele, am aufgeregtesten Richard Wagner, jeden Ansatz zu jüdischer Musik leugneten und im selben Atem von der auffallenden musikalischen Begabung der Juden sprachen.

Den ferneren Kreisen ist von der Synagogenmusik wohl nur das „Kol Nidrej“ bekannt, das trotz der stilfremden, süßlichen Salonharmonisierung von Bruch eine so große Berühmtheit erlangte.

Weit glücklicher ist die Bearbeitung der Volkslieder, freilich auch noch häufig allzu westlich und um ihren Stil verlegen. Schon der ganz eigene Toncharakter, schwebend zwischen Moll und Dur (oft auch in Moll scheinend, wenn er sich in der Dur bewegt). Langsam hinfließende Traurigkeit wechselt mit rhythmischem Leben von orientalischer Leidenschaft, das sich oft bis zu jener Zungenfertigkeit steigert, die bei manchem Komponisten: Goldmark, Meyerbeer zum Beispiel als jüdische Eigenschaft getadelt wurde.

Das Eigenartigste ist die übermäßige Sekunde oder verminderte Terz (das Intervall scheint etwas kleiner als unsere kleine Terz gedacht), das immer wieder kommt, bald nur als Vorschlag, bald als lange, innige Verzierung. Es scheint eine große Rolle zu spielen; es ermöglicht eine überaus weiche Figurenbildung innerhalb des Tritonus, aus der ganze lange Melodienteile zuweilen nicht heraus wollen, so daß mancher schon verleitet wurde, von einer jüdischen Tonart zu sprechen, der phygischen nicht unähnlich oder besser noch mit unserer harmonischen Moll vergleichbar, die aber von der Dominante ausgeht und zu ihr zurückkehrt.

Den Zwiespalt zwischen den östlichen Tönen und der allzu europäischen Klavierbegleitung empfinde ich am deutlichsten bei den Schlüssen, wo die überströmend gefühlswarmen Wendungen mit ihrem unerbittlich monophonen Charakter oft die Oberhand behalten. Frisch und unberührt aber bleibt die Ursprünglichkeit des Textes uns zum Genuß. In farbiger Deutlichkeit entsteht vor uns aus den Bildern dieses seltsamen Dialekts das Leben des Ghettojuden. Nicht nur Elend, Qual und hartes Ringen, nicht nur Stolz auf das Glück der Vergangenheit und das Unglück der Gegenwart und trotzige Auflehnung gegen den Verfolger, auch heiße Liebeslieder und lustige, ja übermütige Weisen. Alles einfach, voll von Kraft der Empfindung, aus der sie entstanden.

Die schöne Rachel.
Sie kämmt wohl am Fenster das Harr sich, das seine;

Für alle ist sie die Dirne, für mich doch die Reine.
O Leid und o Jammer, o Qual und o Pein! Verschwunden ist schön Rachel und ließ mich allein!

Sprecht, böse Zungen, schlecht von uns beiden!
Doch mich und mein Rachel könnt ihr nimmer scheiden! O Leid, o Jammer, o Qual, o Pein!
Verschwunden ist schön Rachel und ließ mich allein!

„Der Parom“ (die Fähre) faßt in einem schlichten Symbol die mattgesetzte und gefolgerte Hoffnungslosigkeit des auserwählten Volkes: Das Leben ist nur eine Fähre, die über den Abgrund der Welt führt.

Dann folgen Lieder der bitteren Anklage und eifervolle Worte der Sehnsucht nach Jerusalem, das gleichsam unirdisch ein Sinnbild der Erlösung geworden scheint. Dann aber kommen einige, die den im Dulden erstarkten, lebensfrohen Juden darstellen, der die ganze Woche den Rücken beugt unter seinem schweren Ranzen, von Unbill der Witterung gehindert, wandert und wandert und handelt und feilscht und das arme verspottete „Hausiererl“ ist, bis der eine, der schönste Tag kommt „Freitag zu Nacht“, wo er den Heiligen Leuchter entzündet und bei Wein und Fisch und „Barches“ – auch der Geringste im Volk – ein König ist.

Aus diesem anscheinend so einfachen und doch komplizierten Empfindungsleben kristallisieren sich da viel tiefe und menschliche Konflikte.

Noch sei ein Scherzlied wahllos nur herausgegriffen:

Sollt’ ich sein ein Raw (Rabbiner).

Sollt’ ich sein ein Raw, kann ich gar nicht beten;
Sollt’ ich sein ein Krämer, fehlen die Moneten!
Und im Stall gibt’s kein Heut und kein Hafer, keine Streu, Und das Weib poltert und der Durst foltert.
Seh’ ich wo ’nen Stein, sitz ich schon und wein’.

Wollt’ ich sein ein Schächter, kann ich’s Beil nicht führen, Wollt’ ich werden ein Lehrer, kann ich nicht buchstabieren. Und die Pferde geh’n nicht und die Räder dreh’n sich nicht, Und das Weib poltert und der Durst foltert,

Seh’ ich wo ’nen Stein, sitz’ ich schon und wein’.

Sollt’ ich sein ein Schmied, wär’ mir zu schwer der Hammer, Sollt ich sein ein Schankwirt, ist mein Weib ein Jammer! Und im Stall gibt’s kein Heu und kein Hafer, keine Streu. Und das Weib, das poltert und der Durst, der foltert.

Seh’ ich wo ’nen Stein, sitz’ ich schon und wein’.

Wissenschaftlich ist die Materie noch ganz unbearbeitet. Eine einzige historisch-kritische Ausgabe erschien in russischer Sprache und die ist gewiß nur ein vorbereitender Anfang.

 ➥ Zur Biografie: Oskar Baum

In: Selbstwehr, 13. Jahrgang, Ausgabe 19 vom 09.05.1919 im Beiblatt „Jüdische Frauenzeitung“, ohne Seitenangabe / Ausgabe 22 vom 30.05.1919 im Beiblatt „Jüdische Frauenzeitung“, ohne Seitenangabe / Ausgabe 26 vom 27.06.1919 im Beiblatt „Jüdische Frauenzeitung“, ohne Seitenangabe

 

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Ausgabe 19 vom 09.05.1919 im Beiblatt Jüdische Frauenzeitung (hier datiert auf den 16.05.1919) *)

Wir geben hier den Vortag des bekannten Prager Dichters wieder, den dieser im Rahmen der politisch informatorischen Vorträge der Prager Ortsgruppe des V. j. F. hielt.

Sind die Frauen die Hälfte der Menschheit? Ich meine: Tragen sie die Hälfte der Leiden und die Hälfte der Leistungen?

Was die Leiden betrifft, dürfte es wohl bei weitem die größere Hälfte sein, aber die Leistungen, die aufwärts reißenden Ergebnisse und Taten stehen in beleidigendem Mißverhältnis fast nur bei den Männern.

Die Frage wäre auch ungerecht, wenn nicht die Frauen selbst sie stellen würden, denn sie sind physiologisch geringer dotiert (kleineres Gehirn, zartere Muskeln, Knochen). Das Verlangen nach Gleichberechtigung ist dennoch nicht nur wie wir heute sehen, keineswegs hoffnungslos, sondern auch nicht unbegründet, nicht etwas weil sie der Zahl nach etwas mehr sind, aber weil ihre Ueberlegenheit in manchen wichtigsten Lebensdingen ganz offenkundig und den Männern nur allzu deutlich fühlbar ist.

Es bleibt darum nichts anderes übrig, als bei jeder einzelnen Frage ihre Veranlagung und Erziehungsmöglichkeiten zu aktiver oder passiver Teilnahme zu untersuchen.

Was ist denn nun Revolution? Ist es etwas, das plötzlich gewaltsam die Entwicklung unterbricht, mit Zerstörung und Verneinung in die friedliche Arbeit der Jahrhunderte hereinsaust, wie ein Gewitter die Luft reinigt, und nachher geht erst wieder die aufbauende Tätigkeit der Menschheit weiter?

Den größten Verneiner des vorigen Jahrhunderts, den Begründer des Anarchismus Bakunin, der überall nur das Unzulängliche sah und immer etwas niederzureißen haben mußte, um lebendig zu werden, fragte einst ein Freund, was er denn täte, wenn seine Forderung erfüllt und die Menschheitsordnung ganz in seinem Sinn aufgerichtet wäre. „Sie wieder umstürzen“, antwortete er in vollem Ernst. Und das war nicht simple Freude am Paradoxen. Revolution ist ein ständiger und vielleicht der positivste Zustand des einzelnen Geistes, des öffentlichen Lebens, der sozialen Verhältnisse, von unmittelbarer, nicht von mittelbarer Fruchtbarkeit, von der höchsten Warte aus gesehen für die entwickeltesten Persönlichkeiten der einzig mögliche Zustand.

Wie nun ist das zu verstehen?

Es braucht wohl keiner besonderen Beweise, um einzusehen, daß wir uns immerfort im Kompromiß befinden, auf allen Gebieten, nicht nur in der Politik, wo es am leichtesten ins Auge springt. Was auch mit reinster und unbedingtester Forderung und Hingabe gegen irgend ein Unrecht ankämpft, – wenn es zur Macht kommt, ist es von irgend einer anderen Seite her ganz gewiß nur wieder wert gestürzt zu werden. Denn was zur Form gerinnt, existente Tatsache wird, muß sich unausweichlich irgendwo mit hingenommener Halbheit, mit geduldetem Unrichtigen beflecken, sich einerstanden und zufrieden damit erklären, daß man das Vollkommene nicht erreichen kann. Nun: Sich in fauler Dumpfheit in die Autorität des Bestehenden, des zufällig Gewordenen ducken, sich fügen, wenn man weiß, wie es zu bessern wäre, ist für ein denkendes Wesen unerträglich. Das Bessere, ideegewordene Neue kann aber nicht anders Wirklichkeit werden und das Alte überwinden, als indem es auf dessen Boden herabkommt und seinerseits wieder Autorität wird. Autorität aber heißt ja befehlen statt überzeugen, kann also nicht anders als Unrecht haben. So ist Kampf der einzige Zustand, in dem sich die reine Seele mit unbeschwertem Gewissen vorwärts kommen fühlt, unterwegs, der ewige Kampf gegen das Unvollkommene.

Das heißt natürlich nicht, daß man immer möglichst das allen Entgegengesetzte denke, spreche, tue und jeder eine Partei für sich bilde, wie es den Intellektuellen, namentlich unter den Juden, zur Rettung ihres Weltgefühls unumgänglich scheint. Das ist im Gegenteil das gefährlichste Hindernis der Bildung einer wirklich freien eigenen Meinung, denn Eitelkeit ist stärkste Abhängigkeit vom Urteil der Anderen. Revolution ist aber nichts anderes als bis zur Tat fortgeschrittener Ausdruck unabhängigen Urteils.

Man erwartet jetzt vielleicht ein langes schönes Loblied auf die Rolle der Frau in den Revolutionen aller Zeiten: Wie sie trotz ihres zarten Leibes im Kampf um Recht und Freiheit, die klirrende Männersache ist, im vordersten Glied stritt und ihre Heldentaten durch die Jahrhunderte schimmern. Von Antigone und der Mutter der Gracchen an bis zur berühmten Großmutter der russischen Revolution, von der roten Marallen, die den Bauernaufstand von 1525 mithervorrief bis zur Rosa Luxemburg im jüngsten Berlin, von der kleinen Spitzenhändlerin Madame Goriot, die auf einem eiligen Geschäftsgang zufällig einen Zettel fand, den ein verzweifelter Unschuldiger aus dem Fenster des Gefängnisses geworfen hatte und die im Innersten gepackt, Mann, Haushalt und Geschäft vergaß, ganz Paris anzündete und in alle Ohren schrie, neben was für einer ungeheueren Gemeinheit sie es sich wohl gehen ließen und so mit ein Anstoß wurde zur großen französischen Revolution.

Diese neben all den Revolutionsmännern spärlichen Beispiele sind nur Beweis, daß nicht die Natur, die physiologischen Begebenheiten der Frau die befreiende Tat und Denkweise versagten und ein Kronzeuge mehr für die Anklage, die ich erheben muß.

Die Revolution, trotzdem sie sich in Parlamentsgetriebe, in Straßenreden und Regierungsdekreten äußert, ist nicht nur eine politische Angelegenheit. Das Politische ist eigentlich bloß die letzte Konsequenz, der formelle Schlußpunkt. Auch die wirtschaftlichen Ursachen und Wirkungen sind es nicht allein; alle, auch die geheimsten Kräfte und unbewußten Beziehungen in der Gesellschaft treiben zu ihr hin und werden durch sie beeinflußt. So wie der wirksamste Widerstand gegen jede Tyrannei die Erziehung jedes Einzelnen zu scharfem eigenem Blick und unabhängigem, logischem Denken ist, besteht im sittlichen Antrieb jeder einzelnen Seele, dies Urteil in der Welt der Tatsachen zu vollstrecken, die eigentliche Revolution.

(Fortsetzung folgt.)

 

Ausgabe 22 vom 30.05.1919 im Beiblatt Jüdische Frauenzeitung (hier datiert auf den 05.06.1919) (Fortsetzung.)

Jeder soll in seinem Inneren und um sich her in allem, was ihn persönlich angeht oder was er sonst beherrscht, durch erstarrte gewohnte Anschauungen zur lebendigen natürlichen Wahrheit durchbrechen, bei jeder einzelnen Handlung sich fragen, ob das Angenehme, Sichere, Unauffällige, Uebliche nicht mit dem nach dem Gewissen Richtigen, Wahrhaftigen in Widerspruch steht. Er soll sich nicht mit halbem und Falschem aussöhnen, um des lieben Friedens willen, bei erkanntem Unrecht, bei Niedrigkeit und Gemeinheit neben sich nicht ruhig bleiben. In der Schwäche gegen das augenblicklich Bequemere, gegen das Beharrungsvermögen erkennt weiter Ueberblick das viel schmerzhaftere und gefährlichere Opfer als es die schwerste Selbstüberwindung und der Kampf gegen mächtigste äußere Widerstände sein kann.

Von diesem Gesichtspunkt aus nun, scheint mir, beweist die Frau im allgemeinen die völlige Unfähigkeit zur Revolution, die größte Neigung und Begabung für die Geschäfte der Reaktion, für das Verhindern der wagemutigen großen grundlegenden Neuerungen. Es liegt ihr nahe, alles auf die Unvollkommenheit der Welt zurückzuführen und ihrem Schöpfer die Verantwortung zu überlassen, ja geradezu das Schönere, Gottgefälligere, Fruchtbarere darin zu sehen, die Unabänderlichkeit des Vorhandenen zu ertragen, lieber unter dem Bösen zu leiden, als es zu bekämpfen. Sie sind ja auch überall die stärkste Stütze der zu Tradition und Dogma erstarrten Religionen, die fanatischeste Gegnerschaft der ersten Anfänge aller erneuernden Strömungen in der Kunst, in den sozialen Verhältnissen, den geselligen Formen.

Nur in einem sind sie ununterbrochen und ohne Ausnahme extrem revolutionär, in dem gerade der Mann im allgemeinen verstockt konservativ ist: In der Mode der Kleider, Hüte, Schuhe, Haartracht usw. Da duldet man keine Dauer und Erstarrung, alle Bahnbrecher werden bewundert und machen sofort Schule, die Kritik ist unaufhörlich wachsam, der wirklich individuellste Geschmack maßgebend. Seit dem berühmten und sehr amüsanten Buch von Fuchs über die Mode hat man dafür eine einfache und naheliegende Erklärung.

Auch die Modeerfindungen sollen zwar von männlichen Pariser Schneidern herrühren; dennoch möchte ich glauben, daß es der Frau möglich sein müßte, von hier aus die Behauptung zu widerlegen, daß sie ihrer Natur nach absolut unschöpferisch sei. Sie ist eben in diesem einen Punkt, wo das elementar aus ihrem Zentrum hervorbrechende Bedürfnis stärker war als alles sonst, ihrer Eigenart treu geblieben.

Der große Schaden für die Frau der letzten Vergangenheit und die große Gefahr für ihre Zukunft liegt in dem Bestreben nach möglichster Angleichung an die Art des Mannes, das unter dem sozialen Druck der erwerbenden Frau aufgezwungen wird.

(Fortsetzung folgt.)

Ausgabe 26 vom 27.06.1919 im Beiblatt Jüdische Frauenzeitung (Fortsetzung.)

Früher dachte man, es werden sich zwei Typen herausbilden: Die Arbeitende, die im Konkurrenzkampf dem Mann möglichst Nacheifernde und die, die, ihm zu gefallen, möglichst weiblich bleiben würde. Aber es will einerseits keine sich von vornherein entschlossen zum Zölibat verurteilen und andererseits bei den immer schlechteren Heiratsaussichten keine die Erwerbsmöglichkeit ganz außer Acht lassen. Ueberdies dachte die Frau einem mißverstandenen gesteigerten seelischen und geistigen Bedürfnis des Mannes durch gründlichere und vielseitige Bildung, durch politisches, künstlerisches wissenschaftliches Interesse ganz von seiner Art entgegenzukommen. Hundertmal mehr noch als es dem Assimilanten bei Entfaltung seiner Persönlichkeit schaden mag, daß er seine Volkseigenart verfälscht und unterdrückt, muß es alle natürliche Fähigkeit knicken, wenn die Frauen ihrer Art so Gewalt antun. Die Hebammen, sagt man in Fachkreisen, sind oft die tüchtigsten Frauenärzte, aber die Frauenärztinnen durchaus nicht die tüchtigsten Hebammen. Die erfahrene und unbefangen lebendige Frau kann oft Männer unterweisen, aber die studierteste und gelehrteste hat immer etwas Unselbständiges, Untergeordnetes dem Mann gegenüber. Ich bin aber deswegen keineswegs ein Gegner des Frauenstudiums; im Gegenteil! Aber es ist gedankenlos widersinnig, ein Wesen von ganz verschiedener Struktur genau in der gleichen Methode den gleichen Stoff mit dem gleichen Ziel zu lehren. Unsere Schule ist bekanntlich überhaupt äußerst reformbedürftig, aber die Mädchenschule scheint mir völlig auf dem falschen Wege. Die Frauenrechtlerinnen haben auf diesen Punkt, so viel ich weiß, zu mindest sehr wenig Gewicht gelgt. Sie waren nun einmal vom Willen zur Gleichheit in allen Dingen um jeden Preis hypnotisiert und Konten sich die Erlangung menschlicher Ebenbürtigkeit für die Frau auf keine andere Weise vorstellen.

Die jetzige politische Betätigung gerät aktiv und passiv zum Teil auf denselben Irrweg. Die Männerparteien, in die sie sich einfügen, enthalten nur zum geringen Teil und wenn, an letzter Stelle, Frauenfragen, Frauenangelegenheiten und Bedürfnisse. Gewiß bewegen auch die Frauen nationale, religiöse und soziale Probleme, aber, so weit sie nicht nachbeten, in ganz anderer Wertskala, (etwa leidenschaftlicher, aber nur in konkreten Details) was sich bei ehrlicher und beeinflußter Aeußerung sehr einschneidend fühlbar machen müßte. Soll es also wahr sein, daß die Frau ihren gleichberechtigten Platz in der Mitbestimmung der öffentlichen Dinge einnehmen darf, dann sollte sie es nicht als Nachahmerin des Mannes, sondern mit dem eigensten Ausdruck ihrer wirklichen Natur dürfen. Vielleicht könnten Frauen ein eigenes Frauenparlament wählen mit besonderen Zuständigkeiten, dessen Beschlüsse die Farbe ihrer Weltauffassung jedenfalls viel eher widerspiegeln würden. Es hieße ihre politische Reife leugnen, erwartete man hievon nicht viel Förderliches und es würde sich eben an diesem Prüfstein zeigen, ob man es mit der Gleichberechtigung ehrlich meint oder ob es nur eine demokratische Modedekoration der Parteiprogramme zu Wahlzwecken ist.

Neun Frauen in einer Versammlung von 400 Männern sind jedenfalls keine Vertretung und nachdem sie, – bezeichnenderweise! – ja auch gar nicht als Vertretung der Frauen gedacht sind, liegt gar kein Grund vor, daß die Frauen mit Bewunderung und Dank zu den weiblichen Abgeordneten aufschauen, sondern eher, daß sie diese politisch wohl Begabtesten unter ihnen, die die Angelegenheiten der Männer zu ihrem Lebensinhalt wählten, die Sache ihres Geschlechts nur nebenher mitnehmen und eigentlich verraten, als Abtrünnige ansehen. Die tiefgreifenden sozialen Umgestaltungen, die wir so oder so auf der ganzen Welt zu erwarten haben, werden unsere Kasten- und Arbeitsordnung, unsere Lebenshaltung erschüttern und mit allen übrigen Grundlagen der Gesellschaft auch die Stellung der Familie und Ehe mehr oder minder gründlich verändern.

Die Menschheit muß in ihrem Einheitsstreben, namentlich bei ihrer augenblicklichen Verfassung, in der Familienliebe ihren schlimmsten moralischen Feind sehen, da die Familie die Geburt- und Pflegestätte des gefährlichsten Egoismus ist, des Polyegoismus, der sich bestenfalls zur Vaterlandsliebe, zum sacro egoismo auswächst und damit die Heiligung und Verewigung des Krieges bedeutet. Bedenken wir doch die zügellose Selbstsucht dieser hart und kalt gegen die Menschheit abgegrenzten insichgeschlossenen ausgezeichnetsten Organisation, deren wenige Angehörige ausschließlich für einander streben, arbeiten, sparen, ausgeben. Alles was außen ist, ist gleichgiltig, fremd, hat bei guten Herzen immerhin Anspruch auf etwas Straßenmitleid.

Längst begann, seit einer ganzen Reihe von Generationen die Zersetzung der einstmals unantastbaren Privilegien des Familien- und Ehedogmas in der privaten und selbst öffentlichen Moral, in der Gesetzgebung. Das ging neben der Aufklärung und dem Sozialismus her. Längst sieht man in der Ehe nicht mehr das Panorama, das mit Elsa und Lohengrin beginnt und mit Phylemon und Baucis endet. Nicht mehr ist es der befriedigendste Abschluß auch der größten Kunstwerke ohne Grenze entlassen wollen, wenn sich die jungen Liebesleute kriegen. Die unverstandene Frau Ibsens und der unverstandene Mann Strindbergs griffen in tief erlebte Wahrheit und an lange schon schmerzende heimliche Wunden. Wenn große epische Schilderer die Zustände unserer Zeit an den wichtigsten Punkten fassen wollten, erzählten sie (wie Zola, Flaubert, Fontane) von der ehelichen Untreue. Das berühmte Dreieck (mit dem Hausfreund) will bis heute als Zeitgemälde von unserer Bühne gar nicht verschwinden, und die starken Persönlichkeiten auf allen Gebieten, zumal die großen Künstler, – ich erinnere an Byron und Goethe, Grillparzer, Beethoven, Lenau konnten sich für ihre Person in die Konvention der Monogamie auf keine Weise einfügen. So mancher ging lieber zugrunde. Aber nehmen wir selbst an, daß diese Einwände gleichsam aus dem Innern der Ehe heraus nicht genügten, die Aenderung dieser Institution zu fordern, daß dies nur idealistisches Toben von Ausnahmsmenschen gegen die Enge der Endlichkeit ist, ein Rütteln an den Grenzen, die nun einmal dem Menschen gesetzt sind, sehen wir ein, es gehe nirgends ohne Kompromiß ab und da der Kampf zwischen den Geschlechtern unvermeidlich sei, wäre für den Durchschnittsmenschen der Zweikampf mit sozialen und ethischen Bandagen als Mensur sozusagen die mindest gefährliche Form –, wir dürfen nicht vergessen, daß nicht das Glück und Unglück, Richtige und Falsche dieser Liebe hinter Gittern allein zu entscheiden hat, sondern daß auch noch die da sind, die von ihr ausgesperrt werden, auf deren Kosten dies Postament und Privilegium von Ehrerbietung und fürsorglichem Schutz für glücklich Liebende nur überhaupt möglich ist. Nicht also der berüchtigt hohe Perzentsatz der unglücklichen Ehen braucht vor allem in Betracht zu kommen, die immer zahlreicheren Scheidungen, die Ehescheu usw., – denken wir an die vertrocknenden umhergestoßenen alten Mädchen, die für all ihre Entsagung und Einsamkeit ihrer Natur unangemessen öde Arbeit, gesellschaftliche Zurücksetzung, Lächerlichkeit, Zukunftssorgen zugeteilt erhalten, an das Odium der geschiedenen Frau, an die ledige Mutter, die unehelichen Kinder, an die Prostitution vor allem und die Geschlechtskranken, selbst ja als Einzelne unschuldig und an ihre noch unschuldigeren unglücklichen Nachkommen!

Die Revolutionierung dieser Zustände sollte der Frau als ihre Aufgabe ins Auge stechen; wenn zu irgend einer im öffentlichen Leben, ist sie zu dieser berufen und befähigt, ja, im Grunde kann diese nur sie wirklich den höchsten Möglichkeiten entsprechend durchführen. Und gerade daran haben, glaube ich, die Frauen noch nie gerührt, vielleicht noch nie gedacht. Im Gegenteil! Wenn ein Mädchen oder eine Frau der guten Gesellschaft einen Fehltritt begeht, und sich solche Skandalgeschichten häufen, – wer überlegt, ob nicht vielleicht die Konvention schuldiger sein könnte als die, die sie durchbrechen? Man feiert Orgien von Verachtung und Entrüstung. Wie erhaben fühlt sich jede Ehefrau über ein gefallenes Mädchen oder gar über eine arme Straßendirne und ist irgendwie tief überzeugt, daß ihr innerer Wert den Abstand verursachte, um nicht geradezu zu sagen ihr persönliches Verdienst. „Sie sind zu faul zu arbeiten!“ sagt man. Und keiner fällt ein, ob nicht vielleicht eine, die einem ungeliebten Mann gegen Wochengeld oder den Eltern zuliebe oder weil es irgendwie nicht anders ging, lebenslängliche Maitresse und Wirtschafterin abgibt, ein moralisch zu mindest nicht höherstehendes Opfer unserer Gesellschaftsordnung ist.

(Fortsetzung folgt.)

 

➥ Zur Biografie: Ida Barber

In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 28. Jahrgang, Ausgabe 36 vom 10.09.1888, S. 339ff

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[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

Am Versöhnungstage versammelt Gott alle seine Getreuen um sich. In Nord und Süd, in Ost und West wird dieser Tag bei Arm und Reich, von allen Juden gefeiert. Die Frommen fasten und beten von Abend zu Abend, die Reformirten gestatten sich einen kleinen Morgenimbiß und einige Pausen während der 24 stündigen Zeit, in der der Allmächtige zu Gericht sitzt und als liebender Vater Verzeihung und Erhörung gewährt. Schaarenweise wandern sie hin zum Tempel, die Frauen geschmückt mit kostbaren Gewändern, Edelsteinen und Perlen. Früher war es sogar Sitte, in weißen Kleidern im Tempel zu erscheinen und manche brünette Schöne wußte in dem einfachen Wollgewande so viel verführerische Reize zur Geltung zu bringen, daß sie anmuthiger erschien, als in Brocat und schillernder Seide.

Betrachtungen eigener Art drängten sich mir auf, indem ich unlängst am Versöhnungstage einen Blick durch die Reihen der vor Gott erschienenen Frauen schweifen ließ. Dort die freireligiöse Frau F. neben ihr die schöngeistige Professorswitwe, da die orthodoxe Frau eines reichen Kaufmannes, die aus lauter Frömmigkeit sich nicht einmal gestattete ihr eigenes Haar zu tragen, sie Alle standen in gleicher Andacht vor demselben Gotte, den sie in so verschiedener Weise verehrten. Madame F., die sich als offene Anhängerin Wislicenius, als seine begeisterte Freundin stets gerirt, die einst fast für seine Lehre Propaganda gemacht, erschien in so hochheiliger Stimmung, daß Nichts, sie ihrer gottgeweihten Andacht entfremden konnte; sie sah nicht, wie aller Augen sich auf die eben eintretenden Banquiersfrau, die schöne, einst gefeierte Sängerin, richteten, die ihrem Gatten, oder richtiger dessen Reichthum zu Liebe zum Judenthum übergetreten war. Sie rauschte mit ihrem schweren Seidenkleide durch die Reihen der übrigen Frauen hindurch, nahm geräuschvoll auf ihrem endlich aufgefundenen Sitze Platz, musterte die im Parquet betenden Herren und nachdem sie ihrem Gatten einen zärtlichen Blick zugeworfen, ihr goldenes Lorgnon, dessen Kette einen riesig großen Brillant zusammenhielt, aufgesetzt, öffnete sie ihr in Lila-Sammt gebundenen Gebetbuch, das sie jedoch bald wieder bei Seite schob, um sich in eine vertrauliche Discusion mit ihrer Nachbarin einzulassen. Welch ein Strahlenfeuer verbreiteten die Brillanten dieser beiden Damen. Ich glaube man hätte mit deren Erlös hundert arme Familien den Sorgen entreißen können! Unsere Frauen scheinen überhaupt der Meinung zu sein, daß entweder der Allvater sich besonders dadurch geehrt fühle, daß man, wenn man zu ihm hintrete, sich mit den kostbarsten Prätiosen behänge, oder daß er Respect vor diesen bekomme und mit ihren Trägerinnen gnädiger verfahre. Und doch! All der Glanz dieser Edelsteine, die ich hüben und trüben, neben und vor mir leuchten sah, schien ihre Trägerinnen nicht vollständig beglücken zu können; man entnahm aus der Art, wie sie zumeist beteten, wie sie ihr Herz inbrünstig vor Gott ausschütteten, wie Thränen der Rührung ihre Wangen netzten, daß es denn doch da innen in der Menschenbrust ein Etwas geben müsse, das sich nicht durch äußern Glanz erkaufen lasse. – Die junge schöne Frau eines Börsenfürsten – wie sah sie verführerisch in ihrem reizenden Costüm aus, wie war sie behängt mit kostbaren Spitzen, welche Strahlenfeuer warf der Brillant auf dem schmalen Goldreif, der ihren Arm schmückte – er schien ein kleiner Kohinoor zu sein, der an Pracht die reichen Ge- schmeide der anderen Frauen weit übertraf, und doch – so schön sie war, die Thräne in ihrem Auge erzählte von tiefem Weh, das weder Reichthum noch äußere Reize bannen konnten; man sah, wie sie während des Gebetes ein tiefes Schluchzen unterdrückte, wie es ihr eine sichtliche Erleichterung war, ihr Herz hier vor Gott ausschütten zu können. Und was belastete dieses schöne Herz? Konnte die junge, unschuldvolle Frau sich irgend eines schweren Fehlers anklagen, wofür sie von Gott Verzeihung erflehte? O man wußte nur zu gut, wie sie gezwungen wurde, ihre Schönheit und Jugend einem reichen Börsianer zu opfern, während ihr Herz einem genialen Maler angehörte; Ersterem mußte sie ihre Hand vor dem Altar reichen, mit dem Andern verband sie ihr Denken und Fühlen, das sie, so sehr sie auch mit sich kämpfte, nicht auf andere Bahnen zu leiten vermochte. Ihr Gatte blieb ihrem Seelenleben fremd und was sie zumeist kränkte, war, daß er dies in seiner Indolenz nicht einmal zu bemerken schien, er war der Mann der schönsten Frau, durfte sich mit ihr auf Promenaden, Bällen, im Theater zeigen, sah sie bewundert – mehr verlangte er nicht. Flehte sie heute zu Gott, daß er sie jenes wahren Eheglücks theilhaftig werden lasse, das sie einst in idealer Jugendschwärmerei erträumte, oder daß er ihr den Frieden ihrer Seele erhalte, ihr vergönne, dem einst Geliebten als guter Genius rathend und beglückend zur Seite zu stehen. Wer kann die stumme Sprache der sich kaum bewegenden Lippen deuten. Sie beweint trotz glänzender Lebensstellung ein verlorenes Glück nicht minder schmerzlich, als dort jene tieftrauernde Mutter, der mau im vergangenen Jahre den einzigen Sohn in kühle Erde gebettet. Er war ihres Daseins Stolz und Freude; wohl selten war eine Frau glücklicher, strahlender von Mutterstolz und Lebenshoffnung, als sie war, da ihr der junge Mann seine Berufung als Chef einer großen Verkehrsanstalt mittheilte. Ich sehe sie noch heute vor meinem geistigen Auge, wie sie zu wachsen schien, wie das Glück ihre Züge verklärte, wie sie unter Freudenthränen den geliebten Sohn umschlang, an ihr Herz drückte, ihn mit ihren Küssen bedeckte. – O und heute sehe ich wieder Thränen im Auge der schwergeprüften Frau; sie ist kleiner geworden; ihre Züge sind gramdurchfurcht, ihr Auge matt und glanzlos. Um was sie ihren Schöpfer wohl bitten mag? Gibt es noch etwas, das ihrem Dasein Freude gewähren kann, nachdem der unerbittliche Sensenmann seinen Hand an das junge, hoffnungsvolle Leben gelegt, das ihres Daseins Stolz gewesen? Die junge, schöne Frau ihr zur Seite – auch sie kenne ich, ist ergriffen von dem Schmerz ihrer Nachbarin. Sie scheint so beneidenswerth, lebt in gesicherten Verhältnissen, ihr Gatte sieht in ihr sein Alles, er lebt nur für sie und ist glücklich, wenn er sie glücklich sieht; doch da tief innen im Herzen; da lebt ein Wunsch, für den sie nun schon seit Jahren Erfüllung erhofft; ihre Ehe ist kinderlos; nur ihre Lippen murmeln ein stummes Gebet; – die Arme, sie weiß nicht, daß es oft weniger schmerzlich ist, auf ein Glück, das man nie empfunden, zu verzichten, als zu lernen, es zu verlieren.

Ich hatte während der Vorbeter einen Abschnitt aus der Thora vorlas, Zeit meine Beobachtungen zu machen. Ein ernstes Gebet, – die Fürbitte für die Verstorbenen – kam jetzt an die Reihe. Diejenigen, die so glücklich waren, keinen Verlust an theuren Familienmitgliedern zu beklagen, verließen zum Theil das Gotteshaus, die Bleibenden waren von tiefster Andacht durchdrungen.

Der Schmerz eint; so verschieden in Rang und Stand, an Bildung und äußeren Glücksgütern die einzelnen Andächtigen auch waren, war es doch eine Gemeinde, die da ein und dasselbe Gebet hinauf zum Weltenlenker sendete. Das Andenken an geliebte Todte ruft eine Wollust des Schmerzes hervor, der man sich gerne hingibt. Die an die Seelenfeier sich anreihende Predigt schien eine Erholungsstation nach anstrengendem Marsche. Man begann in dieser und jener Ecke gemüthlich zu plaudern, da wurde die Toilette der Madame X., dann die der Madame Y. einer Kritik unterzogen, man tuschelte sich vertraulich manch pikantes Histörchen ins Ohr, ohne sich bewußt zu sein, daß dem Gotte, der da oben zu Gericht saß, von dem man reuig Verzeihung erfleht hatte, Medisance und Verleumdung, üble Nachrede wie eitle Chrenabschneiderei nicht wohlgefällig sein kann.

In manchen Frauen ist ein Gemisch von Egoismus und Hochmuth ausgeprägt, der kaum anderswo widerlicher in Erscheinung tritt, als da, wo sie vor Gott hintreten, um für sich selbst Verzeihung und Gnade zu erbitten und kurz hernach sich nicht scheuen, ihre ärmeren, weniger begüterten Mitschwestern in unfreundlicher Weise zu behandeln. Wahre Frömmigkeit adelt, macht hoch- herzig und leutselig, herzgewinnend und liebreich.

Frau H., einer mir gegenübersitzende Dame muß wohl wenig von dieser echten Frömmigkeit in sich verkörpert haben, denn ich bemerkte – und nicht ohne ein Gefühl sittlicher Entrüstung, wie sie den Kopf wandte, als ihre Cousine mit freundlichem Gruße auf sie zutreten wollte; – letztere war ihr selbstverständlich an Vermögensstellung nicht ebenbürtig, konnte jedoch in Bezug auf Charakter- und Seelenbildung jeden Vergleich mit ihr aushalten.

Eine weihevolle Stimmung kam erst wieder in die Gemeinde, als der Vorbeter mit sonorer Stimme sein „Heilig ist Gott der Heerschaaren“ anstimmte, das alle Männer und Frauen in Andacht wiederholten. Es liegt eine eigene, eine geheiligte und heiligende Poesie in diesen alten Gesängen; sie packen selbst diejenigen, die das ganze Jahr hindurch kein Gotteshaus betreten, mit mächtiger Gewalt. Wenn der stimmbegabte Cantor mit urgewaltigem Tone den Bibelvers, der die Verkündigung des Monotheismus enthält, anstimmt, so steht selbst der Ungläubigste wie unter dem Zauber einer höheren Macht. Frauen pflegen ja überhaupt eine rege Empfänglichkeit für religiöse Weihemomente zu haben. Ich sah auch nicht eine einzige, die an den Hauptgebeten nicht mit ihrem ganzen Gefühl Antheil genommen hätte. Charakteristisch für die ungebildeten Frauen ist es, daß sie, da sie die Gebete in hebräischer Sprache nicht verstehen, ihnen oft einen ganz fremdartigen Sinn beilegend, an völlig gleichgiltigen Stellen, die beispielsweise eine Erzählung von irgend einem Propheten etc. enthalten, in einen Gefühlsausbruch übergehen, der vielleicht nur dann gerechtfertigt wäre, wenn es sich um die Bitte der Befreiung von Tod und ewiger Verdammniß handelte. Wie es möglich ist, in dieser Extase einen ganzen Tag lang im Gebete zu verharren, scheint uns Jüngeren kaum denkbar und doch wissen wir von unseren Müttern und Großmüttern, daß sie früh das Gotteshaus betraten und dasselbe erst mit Sonnenuntergang verließen. Jeder dient seinem Gott in seiner Weise. Ich sah eine mir bekannte Dame, die vielleicht erst eine Stunde zuvor eingetreten war, mit mir gleichzeitig nach Schluß des Mittaggottesdienstes hinausgehen; mit fast heimlicher Geschäftigkeit übergab sie eilig dem Tempeldiener ein kleines Paket: „Hierin sind 30 Speise-Marken“ hörte ich sie; „vertheilen Sie sie heute Abend an 30 Arme“. – Und die Frau hatte nur eine Stunde im Tempel geweilt, sie trug keinen Schmuck, aber dennoch glaube ich, daß sie Gott wohlgefälliger war als manche Reiche mit bloßer Lippenfrömmigkeit. Eine schöne Frau, deren Name unlängst geadelt worden, brachte ich auch bald auf andere Gedanken; ich sah sie, als ich eben in eine Seitenstraße einbog, aus ihrer Equipage steigen. „Du wunderst Dich,“ sagte sie, meine Befremdung wohl in meinen Zügen lesend, „daß ich heut’ fahre!“ „Aber sieh, liebe „in unsern Kreisen“ ist es ganz out of Fashion fromm zu sein“. – „In unsern Kreisen!“ Seit acht Tagen war der Herr Gemahl in ihnen heimisch, der Herr Papa aber war zeitlebens Rabbiner einer orthodoxen Gemeinde gewesen, und die Frau Mama war, wie ich mich sehr wohl erinnere, am Versöhnungstage gestorben.

Wie man auch über Beobachtung religiöser Satzungen denken mag – kein Mensch, aber namentlich keine Frau kann sich, wenn nicht in ihrem Gefühlsleben ein Etwas fehlt, das all ihrem Thun Zusammengehörigkeit mit der Idee eines höchsten Wesens lossagen. In Stunden der Angst und Gefahr, im Todesmoment, da ruft selbst der Gottesleugner die Gottheit an. Heine bat, wie er selbst sagte, auf seinem Schmerzenslager „den guten Gott, den er so lang geärgert“, um Verzeihung. – Er hat wohl weder gefastet, noch von früh bis spät gebetet, und doch war das innigste Bedürfniß seiner Seele: „Versöhnung mit Gott.“ – Sie glauben sie Alle gefunden zu haben, die da am hohen Festtage vor Gott erschienen sind, die Eine schmucklos, die Andere reich mit Schmuck beladen, die Einen andächtig, die Anderen die Gebete mechanisch hersagend. Israels Frauen waren jederzeit die Hüterinnen des Familienlebens und somit des häuslichen Glückes; darin liegt ihr nicht zu unterschätzendes culturhistorisches Verdienst. Sie treten andachterfüllt vor Gott hin und übertragen den Frieden, der in ihre Brust eingezogen, die höhere Weihe, die Sie im Gebet zu Gott empfangen zu haben glauben, auf ihr Haus, ihren Gatten, ihre Kinder. Echte Frömmigkeit ist, selbst wenn sie sich nicht an Dogmen hält, einem Zauber gleich, der die Prosa des Alltagslebens mit poetischem Hauch verklärt.

In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 22. Jahrgang, Ausgabe 2 vom 13.01.1882, S. 10f

[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

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Die alten Mönche hatten gut reden, wenn sie den Satz aufstellten: mulier taceat in ecclesia (das Weib hat in der Kirche zu schweigen); wußten sie ja, daß die Kirche im Weibe nicht schweigen werde. Das Element der Kirchlichkeit, des positivreligiösen Lebens wird einzig und allein vom Weibe getragen und erhalten. Der Mann mag spitzfindige Dogmen ersinnen, theologische Systeme erbauen, in metaphysischen Haarspaltereien sich versuchen, der Mann ist Bilderstürmer, zuweilen Kirchenrebell, Altarstürzer, aber nur in seltenen Fällen Träger der erhaltenden Idee, Repräsentant jenes religiösen Seelenlebens, das jeder Kritik unnahbar und Klügeleien gegenüber gefeiet im innersten Gemüthe sitzt. Die Kirchen wurdeu von dem Geiste des Mannes erbauet, aber von der weiblichen Seele geweihet und erhalten. Frauen waren die Missionäre der Religionen, die Erzieherinnen der Märtyrer, die Apostel des warmen und lebendigen Gottbewußtseins, die Vermittlerinnen zwischen dem Ideale und der brutalen Wirklichkeit. Das Weib hat allein Verständniß für das Symbol, für die Versinnlichung der Idee durch Kultusübung, für den faßbaren Docht, der das Flämmlein jenes Gedankens, den die Männer gezündet haben, trägt. Und wie in allen Kirchen der Welt, so waren auch innerhalb des Judenthums die Frauen die Erhalterinnen der Sitte, die Hüterinnen des frommen Brauches, deren erhabenerer Beruf, wie der Talmud behauptet, sich darauf beschränkt, Söhne für das Erbgut der Religion zu begeistern. Das Judenthum war in seiner Weise auch stets dankbar für die treue Erfüllung dieser Mission, es verlangte, daß der Jude „seine Gattin wie sich selbst liebe und mehr als sich in Ehren halte“, es enthob das Weib gewisser zeremonialen Uebungen, damit es desto eifriger seiner höhern Sendung der Kindererziehung obliege, es glorifizirte die Frau als Personification des von einem divinatorischen Takte beseelten höheren Menschthumes und trug durch eherechtliche Bestimmungen Sorge dafür, daß die Stellung der Gattin als Priesterin des Hauses gesichert bleibe. Allerdings hätte gerade das jüdische Volk des weiblichen Beistandes zur Erhaltung der Religion leichter entbehren können, weil die jüdische Volksseele an sich zum Conservatismus hinneigt und von Ideologie beinahe angekränkelt erscheint. Es ist zum Erstaunen, wie in dem Geiste eines Juden ein nüchternes, berechnendes Wesen neben Schwärmerei und selbstlose Hingebung an einen idealen Traum so unvermittelt neben einander stehen. Derselbe Jude, der den Tag über mit schlauer Pfiffigkeit den Kampf um das materielle Dasein ausficht, sitzt beim Lampenschein über einem Talmudfolianten und verliert sich in einer Gedankenwelt, die der Wirklichkeit so entfernt liegt. Was man an dem Juden oft als Arbeitsscheu und Müssiggang verurtheilt, ist nichts anderes als idiologische Träumerei und Opferbereitschaft für ein Reich, das nicht von dieser Welt ist. Die Juden sind das Volk der Religion, sind ein „heiliges Volk“ in des Wortes erhabendstem Sinne, vom redlichsten Gemüthe und empfindlicher Gewissenhaftigkeit und die Fehler, die ihm der Druck der Zeiten aufgenöthiget hat, sie bestätigen nur die Annahme, daß häßliche Raupen zumeist an edlem Reise sitzen und die Wahrheit des Dichterwortes:

„In steter Nothwehr gegen arge List
Bleibt auch das redliche Gemüth nicht war.“

Allein eben deshalb, weil der Jude in sich selber das weibliche Element in so hohem Grade vorwaltend weiß, hat die Synagoge die Macht der Kirche in dem Weibe – letzteres im engeren Sinne genommen – vielfach überschätzt und keine Sorge dafür getragen, durch das Medium schönerer Cultusformen das derselben bedürftige Frauenherz dauernd für dessen erhabene Mission zu begeistern. Was ist, was kann dem modernen jüdischen Weibe in den Großstädten das Judenthum sein? Für die metaphysischen Wahrheiten unserer Religion interessirt sich die weibliche Psyche ihrer Natur nach nicht, die Religion in Küche und Keller befriedigt nicht mehr den idealen Drang, dem öffentlichen Gottesdienste ist im flagranten Widerspruche mit dem Geiste der Satzung das sprachliche Medium entzogen, durch welches er auf das Gemüth wirken könnte, das gesteigerte ästhetische Bedürfniß der mit Schönkünstelei übernährten Großstädterinnen wird von einem Ritus abgestoßen, welcher von theologischer Rechthaberei beherrscht wird, als daß er der Erscheinungsform und der Wirksamkeit auf das Gemüth Rechnung tragen könnte. So ist es gekommen, daß in Großstädten nur noch der jüdische Mann den Conservator abgeben muß, das Weib dagegen den Indifferentismus wo nicht gar das Antisemitenthum vertritt. Der Mann aber kann nur das Knochengerüste liefern, niemals die Befleischung, den Blutumlauf, das Nervenleben hervorbringen. Das stets umlauerte und stets angefochtene Judenthum bedarf der Enthusiasten, bedarf einer todesmuthigen Jugend, und wer soll eine solche großziehen, wo nicht die Mütter es thun? Es hat uns daher im hohen Grade erfreut, aus den in der öffentlichen Vorstandssitzung am 4. d. M. erflossenen Kundgebungen zu erfahren, daß ein ständiges Comitè zur Berathung gottesdienstlicher Reformen eingesetzt wurde. Hoffen wir, daß dieses Comité seine ernstliche Sorge der Erziehung der Töchter zuwenden und der um sich greifenden Gottlosigkeit durch wirksame Institutionen entgegen zu arbeiten bestrebt sein werde. „Macht ein Zaun um die Thora“, ist ein weises Gebot der Mischnah, aber die Zäune, die das Paradies der Religion in heutiger Zeit gegen Gartenfrevel schützen wollen, können nicht in neuen Erschwerungen des Speise- und Sabbathritus, in Ausklügelungen neuer Beschränkungen der Freiheit bestehen, sondern in Schöpfungen positiver Formen, die durch ihre Wirksamkeit nicht durch das überwuchernde Moos des Alterthums den Herzen ehrwürdig erscheinen. Was aber ließe sich an der Erziehung unserer Töchter in den Großstädten zur Religiosität und zur Liebe für das Judenthum ändern und verbessern? – Das sei der Gegenstand der Erörterungen, die wir hiermit eröffnen.

(Forts. folgt.)

 

In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 10. Jahrgang, Ausgabe 9 vom 04.03.1870, S. 98f

[Orthographie und Zeichensetzung des Originals wurden bei dieser Transkription übernommen.]

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Abschnitt I.
Name und Zweck.

§. 1. Unter dem Namen „Hochschule für Wissenschaft des Judenthums“ wird zu Berlin eine selbstständige, von den Staats-, Gemeinde- und Synagogen-Behörden unabhängige Lehranstalt begründet.

§. 2. Zweck derselben ist die Erhaltung, Fortbildung und Verbreitung der Wissenschaft des Judenthums.

§. 3. Zu diesem Behufe werden zunächst Vorlesungen gehalten, welche die gesammte Wissenschaft des Judenthums umfassen; mit denselben können Uebungen, Disputatorien verbunden werden. Beides wird durch den Lehrplan näher festgestellt.

 

 

Abschnitt II.
Begründung und Erhaltung.

§. 4. Begründet wird die Hochschule mit Hülfe derjenigen Capitalien und Beiträge, welche die ersten Mitglieder des Vereins diesem Zwecke gewidmet haben.

§. 5. Erhalten wird die Hochschule
    1) durch die Zinsen,
        a) der Stiftungscapitalien;
        b) der künftig zufallenden Capitalien im Betrage von 100 Thlrn. und darüber;
    2) durch einmalige Zuwendungen von weniger als 100 Thlrn.
    3) durch die regelmäßigen Beiträge der Vereinsmitglieder.

§. 6. Stiftungen, auch mit besonderen Bestimmungen seitens der Geber, können an der Hochschule begründet oder mit ihr verbunden werden, sobald sie dazu dienen, den Hauptzweck derselben unmittelbar oder mittelbar zu fördern. (Vgl. Fundatoren §. 33.)

 

 

 

Abschnitt III.
Verwaltung.

§. 7. Die Verwaltung der Hochschule geschieht durch ein Curatorium von neun Mitgliedern.

§. 8. Die Pflichten und Befugnisse des Curatoriums bestehen in der Verwaltung des Vermögens der Hochschule, in der Verwendung der Zinsen und sonstigen Einnahmen derselben und der Bestimmung über Ausgabe oder Capitalisirung der letzteren, in der Anstellung und Besoldung der Lehrer, in der Feststellung des jedesmaligen Lehrplans, in der Bestimmung und Beschaffung der Räumlichkeiten, in der Anordnung zur Schöpfung und Fortführung von Attributen (Bibliothek, Sammlungen), in der Vertheilung von Stipendien an Schüler.

§. 9. Die Beschlüsse des Curatoriums, welches sich nach einer von ihm selbst zu bestimmenden Geschäftsordnung constituirt, werden mit zwei Drittel Majorität gefaßt; dasselbe ist beschlußfähig, wenn außer dem Vorsitzenden oder dessen Stellvertreter noch fünf Mitglieder anwesend sind.

 

 

§. 10. Als das erste Curatorium sind von den ersten Mitgliedern des Vereins gewählt die Herren:

        Prof. Dr. M. Lazarus,                                            W. Schönlank,
        Comm.-Rath B. Liebermann                               Dr. med. M. J. Meyer.
        Dr. med. S. Neumann,                                          Dr. phil. S. Gumbinner, 
        Banquier Herm. Goldschmidt,                            Dr. jur. Paul Meyer,

 

                                                          sämmtlich zu Berlin,
                                                          Dr. Philippson in Bonn.

§. 11. Außer diesen neun Mitgliedern des Curatoriums sind noch drei Stellvertreter in den Herren:
    Fabrikbesitzer Alexander Wolff,
    Banquier Carl Berthold Simon,
    Banquier Meyer Cohn
gewählt, welche in dieser Reihe eintreten, wenn während der ersten Amtsperiode ein Mitglied ausscheidet.

 

 

§. 12. Die Amtsdauer des ersten Curatoriums ist auf fünf Jahre festgestellt.

§. 13. Von den Mitgliedern des Curatoriums müssen mindestens sieben in Berlin ansässig sein. Ausgeschlossen von der Mitgliedschaft des Curatoriums sind
    1) Die Lehrer dieser Hochschule, 2) in Function stehende Rabbiner und sonstige Cultusbeamte.

§. 14. Nach Ablauf der ersten fünf Jahre, vom Tage der Eröffnung der Hochschule an gerechnet, wird das Curatorium nach folgenden Bestimmungen gewählt:
Die General-Versammlung der Vereinsmitglieder (§. 32), welche drei Monate vor Ablauf der 5 Jahre und dann alljährlich zu berufen ist, wählt nach absoluter Stimmenmehrheit in geheimer Abstimmung und getrenntem Wahlgange Neun Mitglieder.

 

 

In jedem folgenden Jahre scheiden, so lange bis eine Reihenfolge festgestellt ist, drei durch das Loos bestimmte Mitglieder aus, welche jedoch wieder wählbar sind. Die regelmäßige Amtsdauer der Curatorion ist im Uebrigen eine dreijährige.

Stimmberechtigt ist jedes Mitglied des Vereins. Das Stimmrecht kann nur persönlich ausgeübt nicht an Stellvertreter übertragen werden.

 

Abschnitt IV.
Die Lehrer.

§. 15. Die anzustellenden Lehrer müssen denjenigen wissenschaftlichen Grad besitzen, der zur Anstellung an einer Universität berechtigt.

§. 16. Dieselben können sowohl auf Lebenszeit als auf eine Reihe von Jahren angestellt werden und sind verpflichtet, in jedem Semester über diejenige Disciplin, für welche sie berufen sind, Vorlesungen zu halten, resp. die Uebungen und Disputatorien zu leiten, während es ihnen freisteht, zugleich über andere Disciplinen, welche in das Gebiet der Hochschule gehören, Vorlesungen zu halten.

§. 17. Sämmtliche angestellte Lehrer der Hochschule bilden ein Collegium von gleichberechtigten Mitgliedern. Dasselbe constituirt sich behufs der Geschäftsführung im Dienste der Anstalt nach einer von ihm selbst zu entwerfenden, vom Curatorium festzustellenden Geschäftsordnung. Mit der Führung der Matrikel, der persönlichen Vertretung des Lehrercollegiums u. s. w. hat dasselbe alljährlich einen Vorsitzenden zu betrauen. Ueber Wahl und Wiederwahl beschließt daß Collegium.

 

§. 18. Außer den angestellten Lehrern können auch andere Gelehrte zur Haltung von Vorlesungen vom Curatorium berufen, besonders auch jüngere Gelehrte (Privatdocenten) zugelassen, beziehungsweise denselben Remunerationen dafür bewilligt werden, ohne daß sie deshalb zu den Mitgliedern des Kollegiums der angestellten Lehrer zählen.

§. 19. Das Lehrer-Collegium ist verpflichtet, alljährlich und rechtzeitig das Lections-Verzeichnis zu entwerfen, dem Beirath (§. 23) zur Begutachtung resp. dem Curatorium zur Bestätigung zu unterbreiten, den abgehenden Studirenden der Hochschule Zeugnisse, resp. Diplome unentgeltlich auszufertigen, das Curatorium auf dessen Wunsch in allen persönlichen und sachlichen Fragen mit Gutachten zu versehen; eine gemessene, der Würde der Anstalt entsprechende Disciplin unter den Studirenden aufrecht zu erhalten; endlich für die ordnungsmäßige Erhaltung und Benutzung der Attribute der Hochschule (Bibliothek, Sammlungen u. dgl.) Sorge zu tragen.

§. 20. Dem Lehrercollegium bleibt es vorbehalten wird aber, als der Würde und dem Dienste der Wissenschaft des Judenthums entsprechend empfohlen, sich als eine akademische Körperschaft zu constituiren, zu diesem Behufe in regelmäßigen Versammlungen Vorträge zur gegenseitigen Belehrung zu halten und zur Förderung der Wissenschaft zu veröffentlichen, hiesige und auswärtige Gelehrte als Mitglieder zu ernennen, alle diese akademischen Angelegenheiten nach einer von ihm selbst zu entwerfenden und von dem Curatorium festzustellenden Geschäftsordnung zu vollziehen.

§. 21. Das Curatorium hat die Lehrer zu verpflichten, daß die Vorträge lediglich im reinen Interesse der Wissenschaft des Judenthums, ihrer Erhaltung, Fortbildung und Verbreitung gehalten werden.

§. 22. Dem Curatorium steht ein Beirath zur Seite, dessen Gutachten einzuholen ist:
    a) über den Lehrplan,
    b) über die Personen der anzustellenden Lehrer
    c) über alle wissenschaftlichen Fragen, welche die Hochschule betreffen.

§. 23. Der Beirath besteht
    a) aus dem Collegium der angestellten Lehrer,
    b) aus 3 bis 6 andern gelehrten oder wissenschaftlich gebildeten, hiesigen oder auswärtigen Männern, welche sich zu diesem Behufe mit dem Lehrercollegium verbinden.

Die Mitglieder des Beirathes ad b werden von dem Curatorium der Generalversammlung vorgeschlagen und von dieser gewählt.
Auch steht den Vereinsmitgliedern frei, In der Generalversammlung Vorschläge zu machen.

 

 

(Schluß folgt.)

 

 

In: Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen, 18. Jahrgang, Ausgabe 8 vom 22.02.1878, S. 1f

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Unter dem Waffengetöse schwiegen nicht nur die Musen, sondern auch die diversen Judenfragen, soweit für solche noch ein Boden in Europa vorhanden ist. Von der Zivilisation und der siegenden Idee eines Rechtsstaates verdrängt, fand die Judenfrage nur noch im Osten dieses Welttheils eine Heimat, von ganzer oder halber Barbarei begünstiget. Ihr Verbreitungsbezirk war geograhisch genau begrenzt, er reichte nicht weiter als die Machtgebiete Rußland’s, der Türkei und der Donaufürstenthümer, d. h. genau soweit, als der Schauplatz jenes Kriegsdrama’s, dem jetzt sein Epilog in einer Conferenz der Signatarmächte bereitet werden soll. Und doch schwieg die Judenfrage, sie, die am peinlichsten von dem blutigen Waffenspiele tangirt war. Nicht daß sie auch nur zeitweilig gegenstandslos geworden wäre, sondern weil die Juden bei dem hohen Grade von Selbstverläugnung, die ihr Herz charakterisirt, auf einem Gebiete, das nicht unmittelbar mit ihrem religiösen Gute zusammenhängt, stets geneigt sind, ihr eigenes Interesse dem der jeweiligen Gesammtheit zu unterordnen. An dem großen Kampfe betheiligten sich die russischen wie die türkischen Juden mit gleichem patriotischen Eifer, und selbst in Rumänien konnten unsere Glaubensbrüder in der Hitze des Gefechtes vergessen, welche Genugthuung ihr Vaterland ihnen schuldig geblieben ist. Aber der Krieg wird schweigen, und die Judenfrage wird wieder die Fähigkeit zu reden erlangen, und welche Antwort wird man ihr ertheilen? Die Vertreter der Judenheit aber, wenn sie in die Lage kommen sollten, an die projectirte Conferenz mit ihren gerechten Forderungen heranzutreten, dürften gut daran thun, die Macht der Hindernisse, die sich ihren Bestrebungen entgegenstellen werden, genau zu prüfen, um weder der Unterschätzung und somit der Illusion, noch der Ueberschätzung und somit der effeminirenden Hoffnungslosigkeit anheimzufallen. Man betrachtet als Hindernisse der Gleichstellung der Culte in den Ostländern zuerst die Uncultur der in der Bildung zurückgebliebenen Völkerschaften, den Fanatismus und das durch Jahrhunderte erstarkte Vorurtheil, die sie jedem noch so begründeten Rechtsansprüche unzugänglich machen, zweitens aber jenen Despotismus als Staatsverfassung, der durchaus einer Kaste der Parias bedarf, um den höher gestellten Klassen eine Folie zu bieten, und ihnen dadurch den Freiheitsmangel weniger empfindlich zu machen. Uns will es jedoch bedünken, als ob gerade diese Hindernisse, die man für so mächtig hält, der Lösung der Judenfrage keine, mindestens nicht lange Zeit mehr Schwierigkeiten bereiten werden.

Die Völkerschaften jener Länder sind besser als ihr Ruf, gutmüthig, gastfreundlich und von wohlwollendem Naturell können sie nicht lange mehr dem Siege der Cultur widerstehen. Auch die Zivilisation gehet heutzutage nicht mehr zu Fuße wie in kalter Zeit, auch sie legt in kürzeren Zeiträumen als ehedem weite Strecken zurück. In gleicher Weise ist eine Politik, die von der Idee des Absolutismus ausgehet und auf ein Kastensystem sich stützt, nicht lange mehr haltbar – und ist einmal die Freiheit ein Factor geworden, mit dem der Staat rechnen muß, da wird ihre Zwillingsschwester: die Gleichheit nicht im Wachsthume zurückbleiben. Es ist eine hochbedeutsame Erscheinung, der wir in der Geschichte der Judenemancipation sehr oft begegnen, daß die Volksmenge weit schneller mit der Gleichheit im Rechte, als mit der Gleichheit im Drucke sich befreundet, als wollte sie die Gleichheit nur aus den Händen der Freiheit empfangen. Selbst in Deutschland und Oesterreich nahm es die christliche Bevölkerung als selbstverständlich hin, daß Juden in die Parlamente gewählt, in alle Recht des Staatsbürgers eingesetzt wurden, während sie in der vormärzlichen Zeit, als sie selber unter dem Drucke der Polizeistaaten schmachteten, jede noch so geringe Erleichterung, den Juden durch den Absolutismus gewährt, mit unverhohlenem Aerger betrachteten. Als Pius der Neunte die Schranke des Ghetto niederrieß, revoltirte das römische Volk, heute nimmt dasselbe Volk in Rom keinen Anstoß daran, daß zwischen Juden und Christen jede Scheidewand, soweit dieselbe von Staatswegen bestand, durch eine constitutionelle Verfassung mittelst eines Federstriches aus dem Wege geräumt ist. (Wir verweisen dießbezüglich auf den nächsten Artikel: „Zur Pabstwahl“ von unserm ehrwürdigen Mitarbeiter Herrn Rabbiner Dr. Ludwig Lichtschein). Ein mächtigeres Hinderniß des Fortschrittes lauert jedoch in der eigenthümlichen Kirchenverfassung der griechisch-katholischen Religion, die jene Ostländer beherrscht – in der Verfassung eines Cäsaropapismus, der die höchste Staats- wie Kirchenautorität in einem und demselben Oberhaupte vereinigt hält. Dort ist der Czar zugleich der Pabst und Rußland ist so im großen Style, was vormals der römisch-katholische Kirchenstaat in dem kleinen ihm zur weltlichen Herrschaft angewiesenen Gebiete war.

Kirchen verhalten sich ihrer Natur nach ausschließlich gegen einander, sind sich wechselseitig Protest und Negation. Sie können nicht paktiren, sie sind intransigent. Staaten neigen dagegen zur Toleranz, zum Frieden, zur Verträglichkeit hin, ihre Natur weist sie an, sich dem Wechsel der Geschichte, dem Gesetze der Entwickelung zu unterwerfen und den Banden des Dogmatismus zu entrinnen. Stehen nun Staat und Kirche als getrennte Gewalten gegenüber, dann wird im Falle eines Conflictes der Stärkere das Recht behaupten, und das Ende des Culturkampfes ist stets ein Cultursieg. Wo aber ein solcher Culturkampf von vorneherein ausgeschlossen ist, wie dies in Rom, als noch die weltliche Herrschaft des Pabstes bestand, der Fall war, und wie dies in Rußland noch heute der Fall ist, da wird auch der Cultursieg sehr erschwert und in seinem Laufe verzögert. Wir glauben daher, auf das Verhältnis der griechischen Kirchenverfassung zur Judenfrage noch einmal zurückkommen und an der Hand der Geschichte es eingehender erörtern zu sollen.

(Forts. folgt.)

 

Zur Biographie: Schalom Asch

In: Selbstwehr, 11. Jahrgang, Ausgabe 17 vom 27.04.1917, S. 2f & Ausgabe 18 vom 04.05.1917, S. 2f

 

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Ausgabe 17 vom 27.04.1917, S. 2f

Durch den halbzerrissenen blauen Vorhang fallen Streifen Lichts auf das breite Bett, das das ganze kleine Stübchen ausfüllt. Das Licht fällt auf Leibels bleiches Gesicht, das ganz vergraben ist in Decken und Kissen; der Mund ist halb geöffnet, und die zwei Vorderzähne aus dem leeren Kiefer herausragend wie zerbrochene Scheiben aus einem Fenster. Und Leibels Augen sind zugedrückt, zwinkern, und sein Gesicht lächelt: Leibel träumt, er wäre in der alten Heimat.

Er wäre in der alten Heimat, und er wäre noch Leibel. Er geht durch eine Gasse daheim im Städtchen, die Juden winken ihm zu von der Schwelle ihrer Gewölbe, und er dankt nicht und geht weiter, und auf einmal trägt er eine Medaille an der Brust, auf einmal ist er Oberaufseher geworden. Nein, er ist Mosche, der Fuhrmann, geworden und er ist Aufseher über Achlofs Werkstätte, und er ordnet an, den einen auf 24 Stunden einzusperren, und einen anderen läßt er auf 8 Tage einsperren bei Wasser und Brot, und plötzlich geht er auf Leibel zu, der mit dem Bruder Henoch in einem Winkel sitzt und Hemden näht, und Leibel sieht, wie Leibel auf ihn zukommt und fängt an, rascher zu nähen, beugt den Kopf tief über das Hemd und näht und näht. Doch Leibel ist böse und schwingt seinen Stock – was tust du da, Leibel? Was stehst du? Was sitzt du? Wie heißt du? – – und Leibel ist erschrocken und kann nicht antworten, und Leibel befiehlt, man solle Leibel auf 24 Stunden einsperren bei Wasser und Brot. Leibel will sagen, daß er Leibel ist – und kann nicht reden. Und Leibel wundert sich, wie Leibel Leibel einsperren lassen kann. – „Leibel, Leibel, es hat schon 7 Uhr geschlagen“, weckt ihn jemand. „Leibel, du hörst nicht – Leibel!“ Leibel reißt die Augen auf und blickt sich verwundert um, wo er sich befinde, und er hört Chasches Stimme aus der anderen Stube.

„Nun, Leibel, willst du vielleicht, daß Moschele Fuhrmann dir wieder vom Lohn abzieht, willst du dich schon wieder verspäten?“

Die Mutter aber, die sich an den strengen Ton gegen Leibel immer noch nicht gewöhnen kann, weil seine Augen sie noch immer zu sehr an bessere Zeiten erinnern, steckt den Kopf durch den Vorhang, der die Küche vom Zimmer abschließt: „Leibel, es ist doch schon so spät, du wirst doch dann Verdruß haben.“

Und Leibel kommt es wieder zum Bewußtsein, daß es schon drei Jahre her ist, daß er aufgehört hat, Leibel zu sein und Zuschneider in Achlofs Werkstätte geworden ist. Schon drei Jahre, daß er sitzt und Hemden näht. Leibel näht Hemden. Er hatte gemeint, er werde nur ein paar Wochen nähen müssen, bis er im Lande ein bißchen bekannt geworden sein würde, in der Gasse, mit den Menschen; danach würde er sich schon heraushelfen, er würde es schon zu etwas bringen, er würde schon etwas werden, ein Handelsmann, und vielleicht selbst einmal so etwas wie ein Fabrikant, und so immer weiter. Was, er, Leibel, sollte sein Leben verbringen in Achlofs Werkstätte? – Aber Leibel hat sich nach und nach an die Werkstätte gewöhnen müssen, der Ehrgeiz hat nur noch geträumt, phantasiert – und Leibel hat schließlich Erbarmen gefühlt mit Weib und Mutter, die er allein in der Heimat gelassen hatte, Leibel hat die Familie herübergenommen, und Leibel näht noch immer Hemden und träumt bei Nacht von dem alten Leibel.

Aber der Traum ist bald ausgeträumt, denn Leibel sieht, daß der Tag schon dämmert. „O weh, so spät ist es schon,“ ruft Leibel aus und gießt flink Wasser über sein Gesicht, zieht sich an, hat keine Zeit mehr zu beten, die Frau läßt ihn kaum essen, die Mutter hat Mitleid: „Laß ihn das bissel Kaffee austrinken, er hat dann mehr Kraft zu arbeiten.“ Leibel ein Arbeiter, du lieber Gott!

„Schwiegermutter, es ist ihm niemand daran schuld, er hat sich das alles allein eingebrockt, alles allein,“ antwortet die Frau.

„Natürlich, der Tunichtgut, der gottverlassene Tunichtgut. Hätte man den Tunichtgut nicht in die Stube hereingestellt, wäre er doch zu gar nichts gekommen.“

„Schon wieder mit dem „Tunichtgut,“ schon wieder. Ich habs schon gehört – was willst du? Du hast dich über nichts zu beklagen, dächte ich, also was willst du?“

Die Mutter sieht Leibels flammende Augen und aus Gewohnheit erschrickt sie und möchte die Worte gern ungesagt machen; aber die Schwiegertochter kommt ihr zu Hilfe:

„Ganz recht, Schwiegermutter, ihr mögt ihn ruhig Tunichtgut nennen. Ihr braucht keine Angst zu haben. Aus ists mit dem Telephon, aus mit Leibele. – Leibel ist jetzt ein gewöhnlicher Arbeiter in Achlofs Werkstätte und Mosche Fuhrmann ist ein Herr, – da ist nichts weiter zu erschrecken.“

Leibel fühlt sich der Mutter gegenüber noch stark genug, aber gegen die Frau hat er hier in Amerika seine ganze Ueberlegenheit eingebüßt. Teils fühlt er sich schuldig ihr gegenüber, weil er sie um ihr Geld gebracht hat, und teils ist es noch etwas anderes. Seine Chasche ist herübergekommen nach Amerika und hat gesehen und gehört, wie ihre Nachbarin, eine fette, rumänische Jüdin, ihren Mann behandelt, wie alle Weiber in Amerika ihre Männer behandeln und sie hat bald gelernt, daß in Amerika »ladies first« sind und Leibel hat sein ganzes Ansehen bei ihr verloren. Leibel hat nicht mehr kommandiert, man hat ihn kommandiert und nicht Chasche mehr, sondern Leibel mußte nun wissen, wohin Chasche etwas abgeräumt hatte. „Leibel, wo steht der Besen?“ Leibel mußte Chasche Rechnung ablegen über jeden Groschen, den er ausgab, Leibel wußte selbst nicht, wie es gekommen war: auf einmal hatte er aufgehört, Leibel zu sein und Chasche war Leibel geworden. Und sowie Leibel einmal zu herrschen verstanden hatte, so hatte er nun bald gelernt, beherrscht zu werden – er traute sich kaum mehr, den Mund aufzumachen.

Er nimmt sein Butterbrot und seine Tasche, ruft ihnen ein Wort zu und geht.

 

Ausgabe 18 vom 04.05.1917, S. 2f

(Schluß folgt.)

 

(Schluß.)
Seit Leibel in Amerika ist und bei Achlof Hemden näht, hat er angefangen, nachzudenken. Er hat schon zuhause Neigung zum Nachdenken gehabt, aber hier in Amerika, wenn er den ganzen Tag bei der Maschine sitzt und Hemden näht, hat er Zeit, nachzusinnen und sein ganzes Leben zu überdenken. Er sitzt den ganzen Tag und denkt: eben noch Leibel gewesen, denkt er – und schon vorbei. Und warum ist es so? – sinnt und sinnt er und kommt zu keinem Ende. In Achlofs Werkstätte läßt es sich gut nachdenken, denn dort gibt es genug Material, nicht nur die Hände zu beschäftigen, sondern auch den Geist. In Achlofs Werkstätte hat sich ganz Kruschnewitz zusammengefunden. Immer wieder taucht ein neuer Hausvater aus Kruschnewitz dort auf, der zuhause Kaufmann gewesen war, Geschäftsmann, ein reicher Mann, ein Vorsteher, ein angesehener Mensch. Einer nach dem anderen sind sie hereingekommen in Achlofs Werkstätte, wie aufgestörte Geister, und haben Hemden genäht. Die ganze Misrach-Wand aus der Kruschnewitzer Schul hat sich schon in Achlofs Werkstätte zusammengefunden. Leibel schaut sich um: ihm gegenüber sitzt sein Nachbar, der Uhrmacher Weinstein, um dessentwillen das ganze Unglück geschehen ist – nun sitzen beide Nachbarn da und nähen Hemden. Ein bißchen weiter der Lederhändler, bei welchem er 1000 Rubel stehen gehabt hatte; Reb Jechiel, der Vorsteher, und Mosche Aron, der Zigarrenmacher, der Politiker des Städtchens. Alle sind sie da, und Aufseher über sie ist Mosche, der Fuhrmann. Dieselbe Hand, die in der Heimat die Pferde angetrieben hat, dieselbe Hand treibt jetzt die Hausväter von Kruschnewitz in Amerika an die Arbeit. Und so wie die Toten, die auf dem Friedhofe liegen, nichts anderes zu tun haben, als ihr früheres Leben zu überdenken, so denkt Kruschnewitz in der Werkstätte von Achlof an das vergangene Leben in Kruschnewitz zurück. An jeden elenden Stein am Kruschnewitzer Markte erinnert man sich da, jede Begebenheit aus vergangenen Zeiten wird durchgesprochen und hat man nichts Neues, erinnert man sich an Altes.

„Denkst du noch, Leibel, wie du mich einmal, als ich so dahinschlenderte, zu dir gerufen und mich gefragt hast, warum ich mich auf dem Markt herumtreibe? Als ob ich bei dir in Arbeit gewesen wäre?“ fragt Mordechai, der Schuster, welcher auch schon in Achlofs Werkstätte sitzt.

„Denkst du noch, Leibel, wie du mich einmal mit meiner Frau und dem Kinde vor der Tür meines Hauses sitzend angetroffen hast, und für nichts und wieder nichts bist du auf mich zugekommen und hast mich gefragt, ob ich dir die 1000 Rubel, die ich dir schuldig bin, vorbereitet habe, trotzdem ich dir Zinsen gezahlt habe und du das Geld nicht gebraucht hast, nur so, es hat dir nicht gepaßt, daß mein Kind ein Ei gegessen hat; siehst du, deinetwegen sitze ich heute in Amerika und nähe Hemden bei Achlof, denn hättest du mir dann nicht das Haus mit dem Ledergeschäft verkauft, so wäre ich noch bis zum heutigen Tage ein Kaufmann“ – sagt der Lederhändler.

Und Leibel erinnert sich an alles. Er weiß auch, daß es so gewesen ist und kann nicht verstehen, warum es so gewesen ist; so schlecht ist er gewesen. Wie hat er, Leibel, so schlecht sein können und warum hat er damals nicht gewußt, was er heute weiß?

Seit der Uhrmacher Weinstein herübergekommen und auch in Achlofs Werkstätte hereingeraten ist, haben sich die Landsleute bemüht, zwischen ihnen Frieden zu stiften. Aber bis jetzt ist ihnen dies nicht gelungen. Wie hat man sie nicht in der Versammlung der Kruschnewitzer Männer am Jom Kippur bearbeitet, sie sollen sich versöhnen. Es hat nichts geholfen. Der Uhrmacher Weinstein, der ein Starrkopf ist, hat geschrieen: ich soll mich versöhnen mit dem Kerl, der mich um mein Erbe gebracht und mich und meinen Sohn unglücklich gemacht hat? – Und Leibel hat geschrieen: Seinetwegen habe ich doch mein ganzes Vermögen verloren. Er hat mich angezeigt, und seinetwegen habe ich nach Amerika müssen.

Nur Moschele, der Fuhrmann, macht Frieden zwischen den beiden. Wenn sich die Landsleute zuviel von daheim unterhalten, kommt Moschele herein und schlägt mit der Hand auf: „Was Kruschnewitz, hier ist kein Kruschnewitz; werdet ihr arbeiten, so ists „allright“, wenn nicht, nehmt die Beine in die Hand und schaut, daß ihr herauskommt“, und er nähert sich Leibel, und wirft einen Blick auf den Stoß Hemden, der neben ihm liegt. „Das ist alles, was du heute gemacht hast? Was meinst du da, bist du Leibel? Da ist nicht Kruschnewitz.“ Und er zieht ihm von seinem Taglohn ab, und das gleiche Stückel spielt er dem Uhrmacher. So büßen sie beide.

Die Landsleute haben dem Fuhrmann einen Namen gegeben: „Leibel“. Und wenn Mosche, der Fuhrmann, seine Stimme erhebt und schreit: „Was Kruschnewitz! Vorwärts, vorwärts!“, sagen die Landsleute: „Leibel leibelt schon“.

Leibel hört das und erinnert sich an den Traum, den er gehabt hat, wie Leibel zu Leibel gekommen ist und Leibel Leibel gejagt und kommandiert hat, und er fängt an, den Traum zu verstehn. Und oftmals, wenn Leibel so bei der Arbeit sitzt und an die alte Heimat denkt, was er in der alten Heimat gewesen und was nun aus ihm geworden ist, ruft er den Bruder Henoch, mit dem er schon daheim gern philosophiert hat:

„Weißt du, Henoch, mir kommt es vor, als sei ich gestorben und wieder von neuem geboren worden. Das Leben dort in Kruschnewitz war das Leben eines andern Leibel, und jener Leibel ist gestorben und nun bin ich wieder geboren worden und bin ein Schneider, Arbeiter bei Achlof; ich bin nur falsch geboren worden. Und ihr alle hier, ganz Kruschnewitz ist gestorben und wieder geboren worden in Amerika als Schneider in Achlofs Werkstätte und Mosche, der Fuhrmann, treibt sie an.“

„Nein, Leibel, du bist nicht gestorben“, widerspricht der Bruder mit philosophischer Ueberlegung. „Und ich bin nicht gestorben, und ganz Kruschnewitz ist nicht gestorben. Der Leibel hat sich nur verändert. Dort in der Heimat warst du Leibel und hier ist Mosche Leibel. Was ist der Unterschied? Dort war es schlecht und hier ist es schlecht. Wo „Leibel“ ist, da ist es nicht gut.“

„Wird denn Leibel niemals sterben? ich bin doch schon gestorben.“

„Du ja, aber Leibel nicht; Leibel lebt ewig. In jedem Geschlecht, in jedem Leben lebt Leibel. Weil Leibel in uns lebt. In einem jeden von uns gibt es ein Stück Leibel, er wird stark nud [sic.] sättigt sich von unserem Blut. Und meinst du, bei dir, Leibel, ist Leibel schon tot?“ – fährt der Bruder fort. „Warte nur ein bißchen. Jetzt bist du geschlagen und gedrückt. Aber stehe du nur ein bißchen fester auf den Füßen hier in Amerika, laß es dir nur ein bißchen besser gehen; wenn du Mosche zu befehlen haben wirst und nicht Mosche dir, dann wirst du sehen, wie der alte „Leibel“ auf einmal wieder zum Vorschein kommen wird und mit noch größerer Stärke, noch größerer Frechheit, sodaß dich alle fürchten werden.“

Leibel denkt nach und schweigt, weil er einsieht, daß der Bruder die Wahrheit gesprochen hat.

In: Ost und West. H. 9(1909), S. 560-564. 

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